In der Neurodisco

Seite 2: Ein gültiges Bild des lebendigen Bewusstseins?

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An dem Punkt setzt leider mit aller Macht die Selbstvermarktung der Künstler ein. Denn sie beharren darauf, dass sie nicht etwa das neuroanatomische Äquivalent für eine glitzernde Teichoberfläche geschaffen haben, sondern ein gültiges Bild des lebendigen Bewusstseins selbst. In ihren Videos begleiten wabernde Synthesizerklänge Texte von einer erstaunlichen Abgehobenheit und Vollmundigkeit. Genau so, heißt es da, sehe Bewusstsein aus. Der Betrachter sei unmittelbar mit einem dynamischen Abbild des eigenen Denkapparats konfrontiert, ja, er sehe seinem Bewusstsein beim Funktionieren zu.

Self Reflected - A Guided Tour

In einem Video ist Greg Dunn dabei zu beobachten, wie er Studierenden anhand von Aufnahmen seines flimmernden, funkelnden Kunstwerks die Aufgaben und Strukturen verschiedener Gehirnregionen erläutert.

Spätestens hier fragt man sich dann, was eigentlich der Mehrwert der funkelnden Neurodisco ist, im Vergleich zu, sagen wir mal, Zeichnungen von Santiago Ramón y Cajal?

Nüchtern gesagt: Sie flimmert halt. Man könnte aber auch von einem Taschenspielertrick, wenn nicht gar von wissenschaftlicher Hochstapelei sprechen, denn trotz all der hochtrabenden Rhetorik gibt es nicht einmal einen konkreten Hinweis darauf, wie das Geflimmer die tatsächlichen Abläufe im Hirn auch nur abbilden, geschweige denn die Entstehung von Bewusstsein erklären soll. Stattdessen Platitüden wie diese:

Das Ergebnis ist wie ein Vogelschwarm. Jeder Vogel ist ein Individuum, aber sie fliegen zusammen.

Self Reflected

Für diese Erkenntnis über das menschliche Gehirn braucht man offenbar Gold, Computer, "reflective micro-etching" und vier Jahre Zeit.

Jetzt sind ja Versinnbildlichung und Vereinfachung die wichtigsten Mittel der Populärwissenschaft, und es macht Spaß, Leuten zuzuschauen, die das wirklich können, wie zum Beispiel Neil deGrasse Tyson oder Simon Singh. Aber die Darstellung bei "Self Reflected" erklärt ja gar nicht, was sie versinnbildlichen will, weil sie es gar nicht kann.

An der Sonderstellung des Gehirns vorbeigezielt

Bei einem Vergleich der überdimensionalen Hirngravur mit Projekten wie dem "Gläsernen Menschen" aus den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts wird das besonders deutlich. Zwar war auch die Herstellung der Gläsernen Menschen aufwändig und komplex; sie wurde damals als wissenschaftliche Großtat gefeiert:

Die inneren Organe sind aus Plastik; mehr als 40 eingebaute Glühlampen lassen die Organe auf Knopfdruck aufleuchten. Museumsbesucher können diese Beleuchtung aktiv benutzen. Nervenbahnen und Blutgefäße sind aus 0,2 Millimeter starkem Draht mit einer Gesamtlänge von mehr als zwölf Kilometern geformt. Für die Herstellung eines Exemplars sind 1800 Arbeitsstunden nötig.

Gläserner Mensch (Wikipedia)

Aber die Besonderheit des Gehirns besteht ja darin, dass das Geheimnis seiner Funktion zwar wesentlich in seiner Struktur begründet ist, aber ihr nicht durch einfache oder nachhaltige Anschauung abgelesen werden kann, im Unterschied zu einem Herzen oder einem Knie.

Deswegen ist das bloße Abbilden der neurologischen Komplexität des Gehirns, ob mit Geflimmer oder ohne, ein Musterbeispiel für falsche Anschaulichkeit, wenn es unmittelbar zeigen soll "wie’s geht". Bei allem Getöse um die "komplexeste Struktur im Universum" (woher wissen Dunn und Edwards das eigentlich?) zielen sie ironischerweise an der Sonderstellung des Gehirns weit vorbei.

Wenn man gleichzeitig hohen ästhetischen und rhetorischen Aufwand betreibt, um am Kern seines Themas vorbei zu navigieren, dann ist man nicht nur unehrlich. Was den Kunstaspekt angeht, produziert man schlicht Kitsch.

Niemand behauptet, dass Kitsch nicht schön und ergreifend sein kann; bestimmte Arten von leicht konsumierbarer Schönheit und Ergriffenheit sind eigentlich das einzige Ziel von Kitsch. Aber wenn Kunst mehr sein soll als das; wenn sie - in ihrer eigenen Sprache - Möglichkeiten der Erkenntnis aufzeigen soll, dann weist sie immer eine Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik auf, die Kitsch abgeht.

Nach dieser Definition haben Dunn und Edwards schlicht ein grandioses Stück Neurokitsch geschaffen, was Wissenschaft und Kunst nicht vereint, sondern weder als Kunstwerk, noch als wissenschaftliches Instrument bestehen kann. Das sollte man ihnen nicht durchgehen lassen.