In einem Land vor der Teenagerzeit

Unsere menschliche Vorfahren hatten nicht viel Zeit, um erwachsen zu werden

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Christopher Dean vom University College, London und Kollegen von sechs weiteren wissenschaftlichen Instituten in Großbritannien, Kenia, Deutschland und den USA haben sich den Zähnen von Hominiden zugewandt. Die Form und Beschaffenheit von Gebissen und Zähnen ist in der Kategorisierung bisher entscheidend für die Einordnung in Hominid, also Vorfahr des Menschen (Homo sapiens), oder früher Affe. Der Begriff Hominide ist nicht unumstritten, aber immer noch gebräuchlich. Erst kürzlich ist ein neuer, sehr früher Hominide entdeckt worden, Ardipithecus ramidus kadabba, der unter anderem auf Grund der Form seiner Eck- und Backenzähne den menschlichen Vorfahren zugeschlagen wurde (Vgl. Die Rückkehr zum Planet der Affen).

Homo erectus, Bild: Naturmuseum Senckenberg, Universität Frankfurt

Das internationale Team um Christopher Dean analysiert die Zahnbeschaffenheit und die innere Mikrostruktur, um die Dauer des Heranwachsens der Hominiden nachzuweisen. Für die Evolution ist die Zeitspanne der Kindheit, die Zeit bis zur Adoleszenz, von entscheidender Bedeutung. Sie ist die Epoche des Lernens und des Einübens ausgeprägter sozialer Verhaltensweisen. Die im Verhältnis zu allen Tieren beim Menschen sehr viel längere Entwicklungszeit wird mit seiner Intelligenz in Verbindung gebracht. Kinder sind sehr lange von den Erwachsenen abhängig, sie haben damit eine lange Lernphase und der Kontakt zwischen den Generationen ist sehr intensiv, was für das soziale Gefüge der Gruppe entscheidend ist. Die Jungen von Tieren haben eine sehr viel kürzere Spanne zur Verfügung, um sich behütet differenzierte Verhaltensweisen anzueignen. Bei den großen Menschenaffen dauert die Zeit bis sie komplett ausgewachsen sind bis zu 12 Jahren, beim Menschen dagegen 18-20 Jahre.

Konfokales Mikroskopie-Aufnahme der Struktur von menschlichem Dentin, Bild: Christopher Dean

Der Reifungsprozess des Menschen offenbart sich im Gebiss. Vollständig beinhaltet es 32 Zähne, wobei die letzten Backenzähne auch Weisheitszähne genannt werden, weil sie meist erst nach dem 17. Lebensjahr durchbrechen und sozusagen das Ende der Jugend anzeigen. Die Analyse der Beschaffenheit von Zahnschmelz und des darunter liegenden Dentins, des knochenähnlichen Zahnbeins, ist sehr geeignet, um den Wachstumsprozess des Körpers von der Geburt bis ins Erwachsenenalter nachzuvollziehen. Bestimmte, sich rhythmisch wiederholende Wachstumsschübe hinterlassen im Zahn eine spezifische Struktur, die entsprechend den Jahresringen der Bäume als eine Art Chronometer dienen können. Bei Fossilien ist diese Methode praktisch die einzige Chance, um die Zeitspanne der Kindheit zu definieren.

Dean und Kollegen untersuchten die Zahnstrukturen einer Vielzahl von Hominiden und Affen, vom Procunsul (ca. 18 Millionen Jahre alt) über den Australophithecus anamensis (ca. 4 Mill. Jahre) bis zum Neandertaler (28'000-300'000 Jahre). Derartige Untersuchungen können mithilfe von Computertomografie-Scans oder per Konfokaler Mikroskopie der inneren Mikrostrukturen, bzw. "Zuwachsmarkierungen" (Englisch: incremental markings) erstellt werden. Die Untersuchungen der internationalen Paläoanthropologen um Dean erwiesen, dass der Zahnaufbau und die Zahnschmelzbeschaffenheit der Hominiden und frühen Homo-Formen (Homo habilis und Homo erectus) eher dem Affen gleichen als dem modernen Menschen. Sie hatten also eine sehr kurze Kindheit. Besonders erstaunlich ist die Feststellung, dass der Homo erectus (1,8 Mill. bis 40 000 Jahre) sich von diesen Befunden her nur geringfügig vom Australophithecus unterscheidet, obwohl er bezogen auf die Körper-Struktur und die Proportionen der Gliedmassen mehr dem modernen Menschen ähnelt. Die Lebensgeschichte des modernen Menschen mit seiner sehr langsamen Reifung ist jünger als bisher vermutet und verschiedene evolutionäre Sprünge scheinen nicht gleichzeitig statt gefunden zu haben.

In seinem News-and-Views-Artikel in der gleichen Ausgabe von Nature stellt Jacopo Moggi-Cecchi von der Universität Florenz in Italien fest:

Es scheint so zu sein, dass sich die menschlichen Gehirn- und Körperstrukturen in einer Art Mosaik-Muster entwickelten, wobei die menschen-ähnlichen Zahnentwicklungsmuster und die deutlich vergrößerten Gehirne später auftauchen als die anderen menschen-ähnlichen Körper-Strukturen. Die langsame Wachstumsrate von Zahnschmelz, die für den modernen Menschen typisch und mit einer ausgedehnten Periode des Heranwachsens verbunden ist, wird erst bei dem mit einem großen Hirn ausgestatteten Neandertaler sichtbar.

Moggi-Cecchi schließt aus den Ergebnissen von Dean und Kollegen, dass zukünftig sehr viel vorsichtiger mit Einzelbefunden wie Gehirnvolumen, Zahnschmelz-Dicke oder hauptsächliche Fortbewegung auf zwei Beinen umgegangen werden muss, die bisher auch einzeln immer als klarer Beleg für die eindeutige Verwandtschaft mit dem modernen Menschen gedient haben.