In geheimer Mission im Dritten Reich

Hitler und Göring bei der Trauerfeier in Reinsdorf. Foto: Bundesarchiv Bild 102-04575A. Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Kein Platz im Hotel Amerika, Teil 2

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Teil 1: Über Maria Leitner, die Pionierin der Undercover-Reportage

Maria Leitner war gut vernetzt. Sie hatte enge Kontakte zu kommunistischen, kapitalismuskritischen und antifaschistischen Organisationen. Man kann deshalb darüber spekulieren, welcher Art ihre Undercover-Tätigkeit genau war. Reiste sie ausschließlich als Reporterin durch Amerika, die Weimarer Republik und Nazideutschland, oder war sie auch im Auftrag einer dieser Gruppierungen unterwegs? Leistete sie als Publizistin ihren Beitrag zur Herstellung einer Gegenöffentlichkeit, oder gehörte sie auf eine noch direktere Weise zum Widerstand gegen Hitler? Wenn nicht doch noch Spuren von Maria Leitner in einem Archiv, in der Erinnerung von Überlebenden oder - wer weiß? - auf irgendeinem Dachboden aufgespürt werden, wird man es nie erfahren.

Maria Leitner

Eine der wenigen Beschreibungen von Maria Leitner, die überliefert sind, stammt vom Schweizer Otto Schudel. Er lernte sie kennen, als er für die "Liga gegen Imperialismus" arbeitete:

Sie war eher klein und zierlich, ernsthaft. Sie machte kein großes Wesen aus sich selber [...] und wirkte eher durch ihre Persönlichkeit und Reife.

Es scheint eines zweiten Blicks bedurft zu haben, um diese "Persönlichkeit und Reife" zu bemerken. Wer sich mit dem ersten Blick zufrieden gab, dürfte die stille, zierliche Frau kaum wahrgenommen haben. Ihr war das sicher recht. Die Verschleierung ihrer wahren Identität war die Grundlage ihrer Arbeit. Wichtig für das Überleben war sie auch. Die Anonymität, das Untertauchen in der Menge waren ihr Schutz vor Verhaftung und Ermordung. Vielleicht beschreibt sie mit dem ersten Absatz des am Maifeiertag beginnenden Romans Elisabeth, ein Hitlermädchen auch ihr eigenes Lebensgefühl:

Sie glich einer Schwimmerin. Mit hastigen Armbewegungen zerteilte sie die Menge, die wie aufspritzend zur Seite wich und eine schmale Rinne frei ließ. Sie schlüpfte durch sie hindurch, während schon im nächsten Augenblick die Menschenwoge wieder über ihr zusammenschlug.

Entdeckungsfahrt durch Deutschland

Ende 1930 scheint Berlin wieder Maria Leitners Hauptwohnsitz gewesen zu sein. 1931 rebellierten einige der im Schutzverband Deutscher Schriftsteller zusammengeschlossenen Autoren gegen den Vorstand des Verbandes, der die Pressenotverordnungen der Regierung und ein Gesetz zur "Schund- und Schmutzliteratur", mit dem politisch missliebige Texte verboten werden sollten, stillschweigend hinnahm. Die Rebellen wurden ausgeschlossen und fanden eine neue organisatorische Heimat beim bereits erwähnten Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Zu ihnen gehörte Maria Leitner. Sie war in der Gesellschaft von Bert Brecht, Erich Mühsam und Anna Seghers.

Im Herbst 1931 veranstaltete Willi Münzenbergs Internationale-Arbeiter-Hilfe in Berlin die Ausstellung "Frauen in Not". Zum Begleitprogramm gehörte ein von der Zeitschrift Weg der Frau organisierter Autorenabend (24. Oktober). Anna Seghers sprach über weibliche Fürsorgezöglinge, Maria Leitner über die Situation der Frauen in Amerika. Das war einer ihrer wenigen öffentlichen Auftritte.

Für die Welt am Abend ging sie 1932 auf "Entdeckungsfahrt durch Deutschland". Der Weg führt sie in abgelegene Dörfer Mecklenburgs, wo sie erkunden will, warum die NSDAP dort bei den letzten Wahlen eine deutliche Mehrheit der Stimmen erhalten hat. Sie trifft auf Bauern, denen die Nazis vor der Wahl das Blaue vom Himmel versprochen haben. Doch da, wo diese jetzt das Sagen haben, profitieren besonders die großen Grundbesitzer. Tagelöhner erzählen ihr, dass es keine geheime Wahl gab, dass die Großgrundbesitzer alle entlassen haben, die nicht in ihrem Sinne abstimmten und dass sie bei personellen Engpässen Hilfe von SA-Leuten erhielten. Die von den Nazis kontrollierte Lokalpresse wettert gegen Ausländer, aber auf den von Nazis bewirtschafteten Gütern arbeiten viele Polen, weil sie am billigsten sind.

Bei den Recherchen für eine weitere Artikelserie, "Frauen im Sturm der Zeit", fand sie Beispiele dafür, wie man durch Gesetze die Beziehungen von Menschen kaputtmacht. Hans ist der Lebensgefährte von Adele. Weil er arbeitslos ist, schnüffeln ihnen die Behörden hinterher: "Hans ist Unterstützungsempfänger, dadurch hört sein Privatleben auf, Privatleben zu sein." Es soll festgestellt werden, in welchem Bett er schläft, weil der Staat bei eheähnlichen Verhältnissen weniger zahlen muss. Hans und Adele sind zum Lügen gezwungen, weil sie bei einer Kürzung des Arbeitslosengeldes nicht mehr genug zum Leben haben. Das kommt einem irgendwie bekannt vor.

Kurz vor Hitlers "Machtergreifung" begann die A-I-Z mit dem Vorabdruck des antikolonialistischen, vom Agis Verlag angekündigten Romans "Wehr dich, Akato!". Die Idee scheint Maria Leitner bei einer Reise von Surinam nach Französisch-Guyana gekommen zu sein. Von einem Ingenieur hatte sie erfahren, dass verstärkt Bauxit abgebaut wurde, seit bei einer Abrüstungskonferenz die Tonnage der Kriegsschiffe begrenzt worden war. Bauxit wurde zur Herstellung von Aluminium gebraucht, und mit Aluminium konnte man die Tonnage drücken. Im Roman sollte es um eine Aluminiumgesellschaft gehen, die in Guyana ohne Rücksicht auf Verluste die Bodenschätze ausbeutet. Der Vorabdruck endete am 5. März 1933, weil die A-I-Z an diesem Tag verboten wurde. Das Romanmanuskript ist vermutlich verloren.

Wieder im Exil

Nachdem Maria auf der schwarzen Liste der Nazis stand, hatte sie keine Möglichkeit mehr, in Deutschland durch Schreiben ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Um nicht verhaftet zu werden, versteckte sie sich zunächst bei einer Freundin in Berlin. Dann floh sie ins Ausland. Es gibt ein erhaltenes Exemplar von Hotel Amerika, das sie im Mai 1933 für einen Herrn in Prag signiert hat. Von 1933 bis 1939 druckten tschechische und sudetendeutsche Zeitungen Texte von ihr ab. 1933 oder 1934 kam sie als Emigrantin nach Paris, wo sie anfangs als Hausangestellte einer französischen Familie gearbeitet zu haben scheint. Von 1934 bis 1940 bewohnte sie ein Zimmer in einer kleinen Pension in der Rue Saint Sulpice Nr. 4.

Die Pension in der Rue Saint Sulpice Nr. 4

Im Herbst 1933 gründeten die nach Paris geflohenen deutschen Autoren eine Auslands-Sektion des von den Nazis verbotenen Schutzverbandes deutscher Schriftsteller. Maria Leitner war Mitglied und wird wohl zu den Treffen gegangen sein, die jeden Montagabend im Café Mephisto am Boulevard Saint Germain stattfanden. Dort hielten Exilschriftsteller Vorträge, oder sie lasen aus ihren Werken. 1938 schickte Maria einen (unveröffentlicht gebliebenen) "Pariser Brief" an Das Wort, eine der wichtigsten deutschsprachigen Exilzeitschriften (sie erschien in Moskau). "Die Lage der emigrierten Schriftsteller", schreibt sie

wird immer schwieriger. Sie verlieren durch die Hitlerschen Gewaltmethoden nacheinander ihre Leser. Viele von ihnen mussten wiederholt flüchten, viele konnten nur das nackte Leben retten, viele hungern, und doch - es ist ein Wunder - gedeiht diese geflüchtete Literatur in dem kargen Boden der Verbannung üppig.

In den Jahren der Hitlerdiktatur, sagt sie, sei in Deutschland kein einziger neuer Name von Bedeutung aufgetaucht; begabte Autoren wie Ernst Jünger, die geblieben sind, seien schweigsam geworden und überarbeiteten alte Texte. Dem stellt sie das vielseitige Schaffen der Exilanten gegenüber und kommt zu dem Schluss:

Kann die Emigration nicht stolz auf ihre Literatur sein? Können die Vertriebenen, die Ausgeraubten nicht mit Recht fragen: sind nicht doch wir die Reichen geblieben, und sind nicht wir es, die Deutschland beschenken?

Opfer am Altar des Vaterlandes

Maria Leitners Beitrag zur Exilliteratur erforderte großen Mut. Sie reiste mehrfach nach Deutschland, um zu recherchieren. Aus Sicht der Gestapo war das Hochverrat. Sie hätte jederzeit verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht werden können. Ob sie mit falschem Pass unterwegs war, oder vielleicht mit amerikanischen oder ungarischen Reisedokumenten, weiß man nicht. Jedenfalls fuhr sie offenbar nicht auf gut Glück los, sondern suchte gezielt und gut vorbereitet Orte auf, über die sie zuvor Erkundigungen eingeholt hatte. Es muss Leute aus der Wirtschaft und der Wissenschaft gegeben haben, die sie mit Informationen versorgten.

Das Bild vieler Deutscher vom Dritten Reich wird immer noch von dem bestimmt, was damals in den gleichgeschalteten Medien berichtet wurde oder was wir heute in Unterhaltungsfilmen mit Heinz Rühmann oder Johannes Heesters zu sehen bekommen. Auch deshalb sind Texte wie die von Maria Leitner ganz besonders lesenswert. 1936 veröffentlichte sie in Das Wort (Heft 2) die Reportage "Reinsdorf", die man so in keiner deutschen Zeitung hätte finden können. In Reinsdorf gab es eine gut abgeschirmte, nur mit Passierschein zu erreichende Sprengstofffabrik, die riesig und doch kaum zu sehen war:

Die ganze Fabrik ist unterirdisch. Sie hat sich unter die Erde verkrochen, sie hat sich eingebuddelt wie in einen Schützengraben, will unsichtbar bleiben - vor einem Feind, den es heute noch nicht gibt, der aber schon morgen da sein kann. Sie selbst, die WASAG, sorgt dafür, dass er kommen soll.

Wichtigster Kunde der Fabrik war die Reichswehr. 1935 hatte es bei der TNT-Produktion eine Explosion gegeben, die eine unbekannte Zahl von Opfern forderte (offiziell waren es 78 bis 90 Tote, es müssen aber viel mehr gewesen sein). Die Behörden hatten zufällig in der Nähe befindliche Ausländer, frühere, in der Gegend wohnende SPD- und KP-Funktionäre und sonstige Verdächtige, denen man die Schuld in die Schuhe schieben konnte, als Saboteure festgenommen. Es gab eine Trauerfeier mit Hitler und Göring, der am Grab der schrecklich zugerichteten Toten eine Rede hielt:

Das ist das Große, Leidtragende und Angehörige, dass heute nicht mehr umsonst der deutsche Mensch in den Tod geht, sondern dass jeder einzelne damit ein großes Opfer am Altar des Vaterlandes niederlegt.

Was Göring verschweigt, erfährt man bei Maria Leitner. Sie spricht mit Arbeitern und Anwohnern, die noch immer unter Schock stehen. 1933 hatte die Fabrik 2000 bis 3000 Arbeiter. 1935 waren es schon 12 000. Die Erweiterungsbauten mussten so schnell ausgeführt werden, dass auf die Sicherheit keine Rücksicht genommen werden konnte. In der Eile passierten Fehler, die Fehler führten zur Explosion. Für die WASAG (Westfälisch-Anhaltinische Sprengstoff-Actien-Gesellschaft) ist selbst das von Vorteil. Der Jahresbericht ist noch nicht veröffentlicht, doch die Aktionäre dürfen trotz - oder wegen - des Unglücks mit Rekordgewinnen rechnen. Die Regierung hat großzügige Zuschüsse für Ausbesserungsarbeiten und Neubauten bewilligt. Die WASAG hat zudem ein chemisches Forschungsinstitut gegründet und schickt sich an, der IG Farben Konkurrenz zu machen. In Reinsdorf spricht man davon, dass bei der unterirdischen Detonation Giftgas freigesetzt wurde.

Leben auf dem Vulkan

Maria Leitner reist durch ein unheimliches Land, in dem überall geheime Kriegsvorbereitungen laufen. In "Leverkusen" (am 7. Juli 1936 anonym in der deutschsprachigen Pariser Tageszeitung erschienen) sucht man unter großem finanziellen Aufwand nach einem Herstellungsverfahren für künstlichen Gummi (Gummi ist kriegswichtig). Bei Opel in Rüsselsheim erhält die stark anwachsende Werkspolizei ständig neue Befugnisse ("Autos! Autos!", unveröffentlichtes Manuskript für die Pariser Tageszeitung). Bei Daimler-Benz in Untertürckheim versucht man, einen geräuschlosen Motor zu entwickeln, der für militärische Zwecke äußerst nützlich wäre. In zwei Jahren wurden 66 Millionen Reichsmark für neue Anlagen ausgegeben. Seither erhalten die Aktionäre nur noch mündlich Auskunft über die Investitionen, und nachdem sie sich zum Stillschweigen verpflichtet haben. Seit mysteriöse "Kriegswagen" gebaut werden, gibt es mehr Arbeit und mehr Lohn. Vorläufig, sagen die Arbeiter, sind sie zufrieden:

"Vorläufig verdient man nicht schlecht." - "Vorläufig hat man noch Arbeit." - "Vorläufig braucht man nicht zu hungern." Vorläufig! Das Leben auf dem Vulkan ist provisorisch. Die "Kriegswagen" geben Brot, aber sie wecken auch die Angst: Was wird geschehen, wenn sie sich in Bewegung setzen?

Auch die Werksangehörigen in Frankfurt-Höchst ("IG-Farben", Das Wort, Heft 1, 1937) mussten sich schriftlich zum Stillschweigen verpflichten. Trotzdem sind Gerüchte über einen vertuschten Unfall nach außen gedrungen, weil es im Main ein großes Fischsterben gab. Die örtlichen Fischereiverbände wurden mit dem Hinweis auf Staatsraison und Landesverrat mundtot gemacht und von einer Schadensersatzklage abgehalten. Aber zufällig fand am Sonntag nach dem Unfall ein deutschlandweites Wett- und Preisangeln statt. Im Main wurde in vier Stunden kein einziger Fisch gefangen:

Traurig gingen die Angler heim. Dachten sie an die Fische, die sie nicht fangen konnten, oder hatten sie voll Grauen einen Blick in die Zukunft der Menschheit getan? Denn für sie, die Menschen, ist ja das Gift bestimmt und nicht für die harmlosen Fische, denen niemand gram ist. Nur ein Tröpfchen davon gelangte in den Main, welch ungeheure Mengen aber werden in den Höchster Farbwerken zusammengebraut! Wie aber, wenn es seinem Zweck entsprechend gegen die Menschen gerichtet werden sollte? Würde das Leben auf unserem Planeten von einem Tag zum anderen aufhören wie in den Gewässern des Mains?

Maria Leitner fährt trotz persönlicher Gefahr zur IG Farben. Bei Schichtwechsel trifft sie Frauen in braunen Kitteln, von denen viele unfruchtbar geworden sind:

Diese Frauen arbeiten in den neuen "Riechstoff-Abteilungen". Was ist Riechstoff? Kein duftendes Parfüm; das stellen die IG-Farben nicht her. Aber was ist es? Zweifellos ein Stoff, der riecht. Giftgase müssen auch einen zivilen Namen haben, den man ohne Schrecken aussprechen kann und der sich vor allem in den Jahresberichten gut ausnimmt.

Wo man Bücher verbrennt ...

In einer "Dorfschule im Dritten Reich" (Das Wort, Heft 2, 1938) wurde der Unterricht im Lesen und im Schreiben reduziert, weil die Kinder jetzt etwas über die Reinheit der arischen Rasse lernen sollen und Luftschutzübungen abgehalten werden. Der Ortsgruppenleiter der NSDAP redet beim Lehrplan mit. Das andere Deutschland sucht Maria in Düsseldorf. Dort bringt sie das Personal der Landes- und Stadtbibliothek in Verlegenheit, weil sie das berühmte Heinrich-Heine-Zimmer besichtigen will. Heinrich Heine ist verboten. Sie muss mit dem Pass eines anderen Landes gereist sein, denn deutschen Staatsangehörigen ist der Zugang zu diesem Zimmer verwehrt. Die Büste Heines wurde aus ihrer Nische entfernt und ist in einem Schrank versteckt. Die vielen Übersetzungen seiner Werke stauben vor sich hin:

Bücher in japanischer, chinesischer, spanischer, griechischer, hindostanischer, indonesischer - Bücher in hundert Sprachen! Alle diese Völker dachten, es sei ein deutscher Dichter, den sie in ihrer Sprache lasen und den sie liebten ... Das Dritte Reich will sie eines anderen belehren.

Von April bis Juni 1937 druckte die Pariser Tageszeitung den Roman Elisabeth, ein Hitlermädchen ab. Die genau recherchierte Geschichte arbeitet wieder mit den Mitteln der Reportage. Maria Leitner entlarvt die offiziellen Verlautbarungen der Nazis als hohle Phrasen, indem sie diese mit der Alltagswirklichkeit ihrer Heldin kontrastiert. Elisabeth ist Schuhverkäuferin und verliebt sich in den jungen SA-Mann Erwin. Die beiden sind glühende Verehrer von Adolf Hitler, der verspricht, dass sich sofort etwas ändern wird, nicht irgendwann. Die Nazis geben sich fortschrittlich und weniger spießig als die Generation der Eltern. Auch das wirkt sehr anziehend.

Das junge Paar lebt in einer durchmilitarisierten Welt. Überall gibt es Uniformen, spielen am Sonntag die Militärkapellen, werden NS-Lieder gesungen ("Lasst wehen, was nur wehen kann,/Standarten wehn und Fahnen,/wir wollen heut uns Mann für Mann,/zum Heldentode mahnen."). Elisabeth wird von Erwin schwanger, muss das Kind abtreiben lassen. "Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen", sagt Erwin der SA-Mann, "es ist gesetzlich. Der Arzt ist ein Nationalsozialist." Der Grund für die Abtreibung: als junge ledige Frau wird Elisabeth zum Arbeitsdienst verpflichtet. Würde sie das Kind austragen und Erwin heiraten, könnte man ihnen das als den Versuch auslegen, sich ihrer staatsbürgerlichen Pflicht zu entziehen. Junge Leute werden per Gesetz zwangsverpflichtet, damit arbeitslose Frontkämpfer und Familienväter ihre Stellen in den Betrieben einnehmen können. Die Nazis nennen das "Arbeitsplatzaustausch für Jugendliche".

In einem ehemaligen Lager für russische Kriegsgefangene wird Elisabeth ideologisch auf ihren Einsatz als Landhelferin vorbereitet. Fräulein Kuczinsky, die Lagerleiterin, referiert in der "Weltanschauungsstunde" über die schlimmen Folgen des Pazifismus, die deutsche Herrenrasse und die "Vernegerung Frankreichs", das plane, deutsche Frauen von schwarzen Soldaten aus den Kolonien vergewaltigen zu lassen. Im Vortrag "Mutterschaft und Heldentum" wettert Fräulein Kuczinsky über die Frauen, die zu bequem zum Kinderkriegen geworden sind. Elisabeth lernt, dass es die vornehmste Aufgabe der deutschen Frau sei, dem Führer Kinder zu schenken (das NS-Ideal sind durchschnittlich vier Kinder pro Ehe). Allerdings gilt das nicht für alle. Eine der jungen Frauen im Lager, deren Eltern die Gestapo in ein KZ verschleppt hat, wurde von einem "antragsberechtigten" Arzt für schwachsinnig erklärt und zwangssterilisiert. Auch die Lagerleiterin ist "antragsberechtigt", kann also Maßnahmen im Sinne der "Verordnung zur Ausführung des Gesetzes der Verhütung erbkranken Nachwuchses" einleiten. Mit diesem Wissen steigt die Angst im Lager.

Der Roman wäre nicht von Maria Leitner, wenn es nicht auch einen Moment der Utopie geben würde. Im Kapitel "Die Aufrührerischen" finden die angehenden Landhelferinnen heraus, dass die Lagerleiterin über jede von ihnen eine geheime Akte angelegt hat, mit Informationen über ihre Angehörigen und Empfehlungen für die Behörden. Die jungen Frauen begehren auf und verbrennen in einer wunderbaren Travestie auf die Sonnwendfeiern des Dritten Reichs die Spitzelakten, so wie die Nazis die Bücher unliebsamer Autoren wie Maria Leitner verbrannt haben (weshalb Elisabeth dann auch ihren SA-Mann und Offiziersanwärter nicht mehr wird heiraten können):

Im Hof wurden Holzscheite übereinander gerichtet und angezündet. Cilly hatte einen Stoß Papier, zuviel für ihre kurzen Arme, umklammert und rannte damit zu der Richtstätte. Sie war die erste, die ihre Last ins Feuer warf. Einige Blätter waren davongeflattert, sie lief ihnen nach, als wäre sie auf der Schmetterlingsjagd.

Kleine Atempause

1938 bat die Hilfsorganisation American Guild for Cultural Freedom Oskar Maria Graf um ein Gutachten über Maria Leitner. Graf setzte sich für sie ein und antwortete am 9. August 1938, sie sei "eine sehr aktive antifaschistische Schriftstellerin, die nur wenige kennen", und darüber hinaus "nicht nur eine gute Schriftstellerin, sondern eine der mutigsten und bescheidensten Frauen". Es ging darum, ob sie etwas Geld zum Leben erhalten sollte. Auch Anna Seghers verwendete sich für sie und schrieb am 20. August 1938 an die Guild, Maria sei "einer solchen Unterstützung bestimmt würdig, als begabte Schriftstellerin und als gute und tapfere Reporterin". Und weiter: "Bei ihrer schlechten materiellen Lage und der Qualität ihrer Arbeiten wäre eine rasche Unterstützung sehr angebracht." In der Folge erhielt Maria Leitner hin und wieder kleine Geldbeträge von der Guild.

"Danziger Gespenstergeschichte", ein Text über die Vertreibung der Danziger Juden, erschien in der Pariser Tageszeitung vom 30./31. Juli 1939. Es ist die letzte bekannte Veröffentlichung Maria Leitners. Weil die Verdienstmöglichkeiten immer weniger wurden, musste sie aus der Rue Saint Sulpice in ein noch schlechteres Zimmer in der Rue de Seine Nr. 75 umziehen. Am 16. April 1940 schrieb sie in einem Brief:

Ich bin seit einem halben Jahr fast ständig krank. Es begann mit einer schweren Grippe, und in einer ungeheizten Dachkammer, hungernd, ist es schwer, gesund zu werden; besonders, wenn sich obendrein die Weltgeschichte auch in unserem so bescheidenen Privatleben bemerkbar macht. Aber trotz allem, oder vielleicht auch deshalb, habe ich sehr viel gearbeitet.

Im Mai 1940 wurde sie in das Camp de Gurs gebracht, ein berüchtigtes Internierungslager in den Pyrenäen, in dem 30 000 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht waren. Maria gelang die Flucht. Am 6. Juli schrieb sie an den Generalsekretär der American Guild in New York:

Nach allerlei abenteuerlichen Fahrten kreuz und quer durch Frankreich kam ich nach Toulouse. Ich habe ungeheuer viel Interessantes erlebt, das ich sicher literarisch verwerten kann, falls ich am Leben bleibe. Meine Lage ist jetzt wirklich schwierig: Ohne Mittel, abgeschnitten, muss ich befürchten, neu inhaftiert zu werden, was für mich diesmal bedeutend ernsthaftere Folgen haben könnte. Überdies habe ich mein Gepäck eingebüßt, so dass ich kaum das Primitivste bei mir habe.

Als Jüdin und als linke Autorin, die auf der schwarzen Liste der Nazis stand, war sie in größter Gefahr. Für Bürokraten waren andere Dinge wichtig. Auf dem amerikanischen Konsulat erfuhr sie, dass sie unter die Quote für Ungarn fallen würde. In Frage kam nur ein Besuchsvisum, und dafür mussten erst allerlei zeitraubende Formalitäten erledigt werden. Das erwähnt sie in einem Brief (12.8.1940) an Hubertus Prinz zu Loewenstein von der American Guild. Darin fragt sie an, ob es irgendwie möglich wäre, bald in die USA zu kommen ("Ich werde mich so kaum noch lange halten können."). Vielleicht könne Theodore Dreiser helfen, der Autor von An American Tragedy. Zwei Jahre zuvor, als Dreiser zu einer Friedenskonferenz in Paris war, sei sie dessen Sekretärin gewesen, und kurz vor Kriegsausbruch habe er sie nach Amerika eingeladen. Ob jemand Kontakt zu Dreiser aufnahm, ist nicht dokumentiert.

Casablanca

Toulouse war in diesem Sommer 1940 voller Flüchtlinge, die hofften, von dort nach Marseille und dann weiter nach Nordafrika gelangen zu können (Rick alias Humphrey Bogart kommt so nach Casablanca). Nach Frankreich verschlagen hatte es auch Luise Kraushaar, früher wie Maria beim Verlag der Jugendinternationale in Berlin tätig:

Eines Tages ging ich in eines der zahlreichen Cafés von Toulouse. Da sah ich Maria Leitner allein und wie verloren an einem Tischchen sitzen. Mir war, als hätte sie sich in den 18 oder 19 Jahren überhaupt nicht verändert. Das gleiche zierliche Figürchen, die gleiche Haartracht, der gleiche - etwas melancholische - verlorene Gesichtsausdruck.

Am 28. Oktober 1940 bedankte sich Maria Leitner bei der American Guild für 35 Dollar, die sie erhalten hatte:

Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für eine sehr große Hilfe das für mich ist und wie sehr zurecht sie kam. Ich bin gesundheitlich in einem sehr schlechten Zustand, und ich hätte kaum noch lange standgehalten. Sie werden es sich sicher denken, dass wir es hier nicht leicht haben, aber von dem Zustand der ständigen Gehetztheit und der unhygienischen Lebensweise kann sich ein Fernstehender kaum eine Vorstellung machen. Für meine Arbeit ist solch unmittelbares Erleben sicher gut, aber es ist noch besser, dass ich, dank Ihnen, die Möglichkeit zur Erholung, zu einer kleinen Atempause habe.

Auf ein Visum musste sie weiter warten. Ihr letzter Brief an die American Guild ("hier sind Hunger und Angst das Schlimmste") datiert vom 4. März 1941. Im April 1941 wurde sie von Anna Seghers in Marseille gesehen. Dann verschwand sie. Maria Leitner starb vermutlich irgendwo in Südfrankreich, an Hunger, Krankheit und Erschöpfung. Oder sie wurde direkt von den Nazis umgebracht.

Epilog: Maria Leitner in Ost und West

Im Nachkriegsdeutschland (West) interessierte sich niemand für Maria Leitner. Aber in Deutschland Ost, beim Sachsenverlag in Dresden, erschien 1950 eine Neuausgabe von Hotel Amerika - leider ohne Nachwort und ohne Angaben zur Autorin. 1960 und 1962 wurde der Roman vom Dietz Verlag neu aufgelegt, und 1974 vom Aufbau Verlag (beide Ostberlin). 1962 erschien, ebenfalls im Dietz Verlag, Eine Frau reist durch die Welt.

1965, beim Internationalen Schriftstellertreffen in Weimar, hielt Anna Seghers eine Rede, in der Maria Leitner eine lobende Erwähnung fand. In der DDR bedeutete das Wort von Anna Seghers, Autorin von Das siebte Kreuz und Trägerin des Nationalpreises, viel. Das dürfte auch Helga W. Schwarz geholfen haben, als sie anfing nachzuforschen, wer Maria Leitner eigentlich gewesen ist. Ihren Recherchen verdanken wir einen Großteil unseres heutigen (immer noch sehr bruchstückhaften) Wissens. 1985 gab sie im Aufbau Verlag das Buch Elisabeth, ein Hitlermädchen heraus, einen Sammelband mit erzählender Prosa, Reportagen und Berichten von Maria Leitner (mit Bibliographie und 20-seitigem Nachwort).

1988 erschien im Dietz Verlag eine Neuauflage von Eine Frau reist durch die Welt. Hartmut Kahn steuerte ein linientreues Nachwort bei, in dem die USA zum "mächtigsten Zentrum des fortschrittsfeindlichen Teils der Welt" erklärt werden. Der kommunistische Teil der Welt steuerte damals auf den Konkurs zu. Herr Kahn wirkt denn auch etwas unwirsch. Die Vereinnahmung Maria Leitners will ihm nicht recht gelingen. Ob ihm wohl die Ironie bewusst war, die darin liegt, dass er ein Nachwort zum Buch einer Frau verfasste, die von Nord nach Süd und von Ost nach West durch den amerikanischen Kontinent gereist war - ein Nachwort, das von den Bewohnern eines Staates gelesen wurde, der seinen Bürgern keine Reisefreiheit gewährte?

Alles, was Maria Leitner geschrieben hat, lässt darauf schließen, dass sie in der DDR in einem Stasi-Gefängnis gelandet und/oder ausgebürgert worden wäre. Der utopische Aufstand der Landhelferinnen in Elisabeth, ein Hitlermädchen, von dem die DDR-Bürger 1985 erstmals lesen durften, fand einige Jahre später seine Fortsetzung in der Realität: beim Sturm auf die Stasi-Zentrale in Ostberlin. Weil aber die Welt kompliziert und widersprüchlich ist, verdanken wir es der DDR, dass Maria Leitner heute nicht völlig vergessen ist. Helga W. Schwarz widmete ihr ein Kapitel in Internationalistinnen. Sechs Lebensbilder. Das Buch war eines der letzten, das 1989 im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik erschien - in der Reihe "Kleine Militärgeschichte" (auch das ist nicht ganz ohne Ironie, wenn man bedenkt, dass Maria Leitner eine überzeugte Anti-Militaristin war).

20 Jahre nach dem Fall der Mauer wartet man weiter vergeblich darauf, dass ein gesamtdeutscher Verlag da weitermacht, wo die DDR aufgehört hat. Den Reportageroman Hotel Amerika und einige wenige journalistische Texte Maria Leitners gibt es im Internet. Doch eine gedruckte und gebundene Ausgabe ihrer Schriften wäre in diesem Fall, aus Gründen der Symbolik, besonders wichtig. Dann könnten wir endlich die angemessene Antwort auf die Bücherverbrennung geben, indem wir Maria Leitners Werke dorthin stellen, wo die Nazis sie auf keinen Fall sehen wollten: in die Regale der öffentlichen Bibliotheken.