Indien, China: Zwei ungleiche Riesen drängen nach vorne
"How to Run the World": Parag Khanna von der New America Foundation und Obama-Berater über die neue Weltordnung
Der indisch-amerikanische Autor Parag Khanna plädiert in Zeiten der Verunsicherung für eine neue Megadiplomatie und zeichnet eine neue Weltordnung. Demnach werden in den nächsten Jahrzehnten die Supermacht USA absteigen und stattdessen neue Mächte in Asien wie Indien und China, aber auch Lateinamerika, besonders Brasilien als dritte Säule des Westens, aufsteigen. Schon heute sehen die USA und Europa China als einen wichtigen Partner. Warum wird China gegenüber Indien bevorzugt, obgleich die kulturellen Unterschiede zwischen dem Land der Mitte und dem Westen nicht größer sein können?
Die Welt von morgen ist global gefährdet, aber multipolar gesteuert. Ein Szenario, das Parag Khanna an das Mittelalter erinnert. Die US haben schnell die Federführung im Libyeneinsatz wieder aufgegeben. Libyen sei nicht Afghanistan. Bodentruppen sind nicht im Einsatz.
Barack Obama, in dessen Wahlkampfteam Khanna arbeitete, zeigt im Unterschied zu George W. Bush keine große Konfliktbereitschaft in der arabischen Welt. Im Vordergrund des Lufteinsatzes in Libyen stehen die Alliierten und Nato-Partner wie Großbritannien und Frankreich. Khanna sieht hier bereits die Voraussetzungen geschaffen für die Lokalisierung von Krisen und Konflikten, für die zukünftig rein regionale Lösungen gefunden werden. Seine Einschätzung: Gremien wie der UN-Sicherheitsrat sind zu behäbig, nicht flexibel genug, um regionale Kriegsschauplätze zu befrieden.
Pragmatismus als neuer diplomatischer Ansatz
Die Krisen der Welt von heute und morgen sind vielfältig: Finanzmärkte kollabieren, Pazifik-Inseln werden weggespült, Terrorismus bedroht kleine wie große Staaten, die Ressourcen wie Wasser sind knapp, was zu Migrationsbewegungen führen wird. Seit dem Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 zeichnet sich eine neue Weltordnung ab, die neue diplomatische Instrumente braucht.
Während die Welt des 19. Jahrhunderts von wenigen Kolonialmächten beherrscht wurde, waren es im 20. Jahrhundert die Machtblöcke. Im 21. Jahrhundert zeigt sich, dass die alten Mächte auf viele Krisen, die auch durch Umwelt- und technologische Risiken infolge der atomaren Technologie verursacht werden, keine Lösung von oben anbieten können.
Parag Khanna, der Mitglied der Denkfabrik New America Foundation in Washington D.C. ist, plädiert deshalb für eine neue Megadiplomatie, die der des Mittelalters gleicht. Darin gibt es kein Zentrum mehr, sondern eine Art Akteurspotpourri auf regionaler und internationaler Ebene. Einzig Koalitionen aus multipolaren Akteuren, wozu aufsteigende Mächte, Konzerne, mächtige Familien, Philanthropen, Soldaten, Universitäten gehören, nicht allein Regierungen und internationale Organisationen, sind zu neuen diplomatischen Strategien und Lösungen fähig.
Der Erfolg dieser neuen Welt der Megadiplomatie hängt nach Meinung des Bestsellerautors Khanna des Buches “Der Kampf um die Zweite Welt” davon ab, ob "schnell globale Ressourcen zur Lösung lokaler Probleme mobilisiert werden können". Ausschlaggebend für politische Macht im 21. Jahrhundert sind nicht mehr Faktoren wie Souveränität, sondern die Kapitalkraft und technologische Vorrangstellung.
Falsches Vorbild China?
China passt aus diesem Grund so gut in die neue Weltmachtordnung, wie sie der im Nord-Osten Indiens, in der am Ganges gelegenen Stadt Kanpur im Bundesstaat Uttar Pradesh gebürtige Parag Khanna skizziert, weil China ein wirtschaftliches Erfolgsmodell in Asien aufzuweisen hat. Indien dagegen nicht. Obgleich beide Riesen als neue Weltmächte in Asien gelten, sind sie dies aus ganz unterschiedlichen Gründen. Der Asienexperte und Korrespondent der Neuen Züricher Zeitung Urs Schoettli fragte sich bei einem Vortrag in Hamburg zum Thema “Mehr Indien weniger China” allerdings, ob die Europäische Union in ihrer Außenpolitik nicht auf das falsche Pferd setzt?
Unbestritten zeigt China selbstbewusst auf allen internationalen Parcours diplomatische, strategische, wirtschaftliche und geldmarktpolitische Präsenz. Ob in den Krisenländern der arabischen Welt, auf den Rohstoffmärkten oder im UN-Sicherheitsrat, wo China einen diplomatischen Joker gezogen hat, als es sich zur Frage der Flugverbotszone über Libyen enthielt und damit faktisch zustimmte.
Aufgrund der diplomatischen Präsenz erreicht China Anerkennung und Vertrauen in der Weltgemeinschaft zum einen, und Handlungsfreiheit in inneren Angelegenheiten zum anderen. China kann sich so leisten, seinen politischen Reformkurs über parteidiktatorische Strukturen durchzusetzen. Kein Staat wagt es wirklich, sich in die inneren Angelegenheiten Chinas einzumischen, wenn die chinesische Parteispitze die Presse mundtot macht und chinesische Oppositionelle und Sympathisanten der Jasmin-Revolution in Nordafrika in Peking verhaftet. Was zählt ist, China zeigt nach außen Stringenz und wirtschaftlichen Erfolg, der jedoch teuer, mit der Unterdrückung der Milliardenbevölkerung des Landes der Mitte bezahlt ist.
Indien - der sanfte Riese
Khannas Weltmachtkriterien muten fremd an, wenn er Indien gegenüber China als wirtschaftlich erfolglos und rein korrupt abstempelt, und damit dem Wettbewerb der Zukunft nicht gewachsen.
Auch wenn sich der Schweizer Publizist Urs Schoettli der Problematik des Vergleichs zweier Hochkulturen und komplexen Gesellschaften bewusst ist, so sieht er in der Beurteilung Indiens in der Weltpolitik Europas ein entscheidendes Problem: Eine Sichtweise auf Indien, die die Indienpolitik Europas seit dem Kalten Krieg bestimmt hat, ist unzweifelhaft falsch: Indien ist kein Entwicklungsland, obgleich es so behandelt wird. Indien verfügt über ein funktionsfähiges Parlament, eine Börse und über freie Medien. Ganz im Unterschied zu China, kritisiert der Asienkenner Schoettli, der über Jahrzehnte in beiden Ländern gelebt hat.
Indien ist eigentlich mit China gar nicht zu vergleichen, denn Indien ähnelt der anglo-sächsischen Demokratie, da es über ein funktionierendes Rechtssystem verfügt. Nach der demütigenden Kolonialmacht der Briten stellt es eine Demokratie nach dem Prinzip der Checks and Balances dar und ist föderalistisch in 28 Gliedstaaten aufgeteilt. Ähnlich wie China ist Indien ein Vielvölkerstaat. Aber im Unterschied zu China, ein Staat, der die religiösen Gegensätze harmonisch in sich vereinigt. Nach dem Prinzip der Bill of Rights leben Sufi-Gläubige, Urchristen, Juden, Hindus und 150 Millionen Moslems friedlich nebeneinander, in der Ausübung ihrer Rechte. Indien ist ein Land, das von weichen Faktoren wie der Geographie, Kultur, Polytheismus bestimmt ist. Es ist ein Land, das bezaubert.
Schon seine Eroberer hat es in seinen Bann geschlagen und die Übereinstimmung der Gegensätze wie von selbst erwirkt. Urs Schoettli löst in seinem Buch “Mehr Indien weniger China” dieses Paradox so auf: “Im Prozess der “Indisierung” der auswärtigen Einflüsse wurde das Fremde nicht ausgelöscht, sondern mit dem Einheimischen verschmolzen und in eine neue Form gegossen.” Und nicht nur das. Indien gleicht Deutschland aufgrund seiner Kolonialvergangenheit und stellt eine Wertegemeinschaft mit der Europäischen Union dar. Es ist der sanfte, andere Riese aus Asien, der jedoch unter der Spanne seiner regierten Vielfalt, die im Vergleich der unmöglichen Kohäsion von Europa, Asien und Russland gliche, viel krisenfester, als es das diktatorische geprägte China sein kann.
Natürlich hat es auch starke Schwächen wie das traditionelle und weit verbreitete Kastensystem, das noch auf dem Land üblich ist und den wirtschaftlichen Aufschwung Indiens behindert. Auch Korruption ist in den indischen Gliedstaaten an der Tagesordnung. Die Politiker und Gouverneure, die riesige Wahlkreise betreuen und verwalten, sind nur mittelmäßig und begeben sich nicht gerne in die Niederungen des Volkes, wie Schoettli anmerkt. Aber, wenn das indische Volk auch arm ist, so hat es ein unvergleichliches politisch-demokratisches Bewusstsein, das ob der widrigen Verhältnisse immer wieder zum Staunen Anlass gibt.
China, das Land der Pflichten
China hingegen blickt einerseits auf keine koloniale Vergangenheit, einzig auf Kriege mit Kolonialmächten wie die beiden Opiumkriege (zwischen 1839 und 1860) und den Boxeraufstand im 19. Jahrhundert, andererseits hat es eine andere kulturelle Grundlage: den Konfuzianismus. Dieser bürdet den Chinesen Pflichten auf, nicht Rechte. Die Herrscher Chinas stützen sich auf das Mandat des Himmels, so Schoettlis Beobachtung. Das heißt, der Kaiser hatte die Pflicht gegenüber seinen Untertanen, für das Wohlergehen des Volkes, für die Sicherung der Grenzen und die Infrastruktur zu sorgen. Hat er in einer seiner Pflichten gefehlt, so rebellierte das Volk gegen ihn und stürzte den Kaiser.
China ist und war wie ein versiegelter Vulkan. Tritt eine Schwachstelle am Verschluss auf, explodiert das Ganze. Ein Grund, überkommene Gewissheiten und Sichtweisen in der Außenpolitik zu überdenken, um Unsicherheiten der Zukunft besser anzugehen.
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