Indien: Die Reichen und Gutausgebildeten verlassen das sinkende Schiff
Seite 2: "Saubere Oasen" und Influencer
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Dass Indiens Bundesstaat Uttar Pradesh mittlerweile vom radikalen Hindu Priester Yogi Adityanath regiert wird, ist nur eine von vielen Folgeerscheinungen und wundert nicht. Der Bundestaat nimmt innerhalb Indiens einen der letzten Plätze im Index der menschlichen Entwicklung (unter anderem wird der Zugang zu Bildung im Index bewertet) ein, ist religiös aufgeheizt und die vorherigen lokalen Regierungsparteien waren extrem korrupt.
Die Hauptstadt Delhi, in die sich vorwiegend die finanziell bessergestellte Mittelklasse gerettet hat, wird dagegen (noch) von einer liberalen Partei regiert, die aus einer Anti-Korruptions-Kampagne hervorging. Doch das wird sich bald ändern, denn Indien "blutet" immer schneller aus.
Dass diejenigen "saubere Oasen" suchen, die wirtschaftlich am meisten von den Umweltzerstörungen profitiert haben, ist jedoch kein indisches Phänomen, wie das Beispiel des buddhistischen Königreiches Bhutan zeigt. Das 700.000 Einwohnerland am östlichen Ausläufer des Himalayas liegt nördlich von Indien und dürfte den meisten ein Begriff sein, weil den Bürgern per Gesetz das Glücklichsein garantiert wird.
In Kolkata traf ich eine von denen, die diese Traumgeschichte, ohne sie zu hinterfragen, weiterverbreiten. Die Influencerin hatte auf eine Einladung einer Reiseagentur ein paar Wochen in Bhutan verbracht. Die Visakosten von 200 Dollar am Tag, blieben ihr so erspart. Als Gegenleistung schrieb sie einen butterweichen Artikel über die "Heile Welt" in Bhutan für ihre Followers.
Als ich sie fragte, ob sie von den ethnischen Säuberungen in Bhutan weiß, bei denen vor 25 Jahren 100.000 Nicht-Buddhisten aus dem Land gejagt wurden, verneinte sie überrascht. Genauso wenig wusste sie davon, dass bis heute 13 Prozent der Bevölkerung Bhutans als Bürger zweiter Klasse gehalten werden.
Wie später auch ein weiterer Influencer, der auf Einladung nach Bhutan wollte. Immerhin versuchte er, seine Unwissenheit damit zu rechtfertigen, dass er bisher nur Positives über Bhutan zu lesen bekommen hat: "Wie sollte es auch anders sein, wenn ihr nur noch bezahlte Schönfärberei betreibt." Dass Bhutan eine negative CO2 -Bilanz hat, ist überaus lobenswert.
Dass nur noch diejenigen die teils unberührte Natur des Landes besuchen können, die von der Zerstörung des Planeten wirtschaftlich am meisten profitiert haben, ist allerdings äußerst bedenklich, denn es ist das Denkmuster vieler Bessergestellten: Im Kleinen wird Nachhaltigkeit gelobt, weil es "mir" einen naturbelassenen Urlaubsort sichert. Im Großen wird dagegen das alte Wirtschaftssystem unterstützt, weil es "mir" einen Vorteil bringt, auch wenn das Ganze vor die Hunde geht.
Ähnliches ist auch in deutschen Großstädten zu beobachten, wo ebenfalls mit Geld ein Auswahlverfahren getroffen wird, wer wo wohnen darf, und wo der beruflich erfolgreiche Vielflieger belohnt wird. Nach den Arbeiterinnen und Arbeiter trifft es mittlerweile auch die Menschen in sozialen Berufen, die sich die Innenstädte nicht mehr leisten können - also die Menschen, auf denen die Kosten der Ungleichheit mit am meisten abgeladen werden und diejenigen, die sich an Schulen in Nord-Neukölln mit den Kindern der Abgehängten beschäftigen dürfen.
Nach einem Tag an einer solchen Schule sagte ich zu einem Sozialarbeiter, den ich bei seiner Arbeit begleiten durfte, dass die Kinder eigentlich alle erst einmal ein Jahr in psychische Behandlung gehören. Da ich noch etwas Nettes sagen wollte, schob ich hinterher: "Aber der eine blonde Junge, der im Sportunterricht ruhig auf der Bank saß, schien wirklich nett und pflegeleicht", worauf der Sozialarbeiter trocken antwortete: "Ja, der X ist schon eigen. Letzte Woche hat er eine Mitschülerin mit einer Schere angegriffen". Die wichtige Arbeit von Menschen wie dem jungen Sozialarbeiter interessiert das Wirtschaftswachstum nicht einmal mit einer kleinen Zahl hinter dem Komma.
Wenn am 20.September in über 100 Ländern der Erde gleichzeitig für ein nachhaltiges Wirtschaften demonstriert wird, sollte der Kampf gegen Ungleichheit und der gegen Umweltzerstörungen gleichberechtigt nebeneinander stehen.
Das sieht auch Wilfred d'Costa in New Dehli so. Er ist Vorsitzender des Indian Social Action Forum (INSAF), einem Dachverband von 700 NGOs, deren Konten noch immer von der indischen Regierung eingefroren sind. Die Regierung wirft ihnen vor, mit ihrem Tun, den Fortschritt Indien zu behindern: Was bedeutet, dass die Regierung das Wirtschaftswachstum für den einzigen Indikator in Sachen Fortschritt hält.
INSAF dagegen stellt sich gegen die wachsende soziale Ungleichheit Indiens und gegen Umweltzerstörungen für mehr Wirtschaftswachstum: "Der Kampf zum Erhalt des ökologischen Systems sollte mit dem für bessere Arbeitsbedingungen wie einer gerechten Gewinnverteilung Hand in Hand gehen", sagte d'Costa erneut gegenüber Telepolis.