Indien: Oberstes Gericht legalisiert außertraditionelle Homosexualität

Indische Hijras um 1865.

Hindus und Moslems dagegen

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Das Oberste Gericht Indiens hat heute entschieden, dass das im Paragrafen 377 des Strafgesetzbuchs enthaltene und mit einer bis zu zehnjährigen Haftstrafe bewehrte Verbot von "fleischlichem Verkehr gegen die Ordnung der Natur" zwar weiterhin für Akte mit Kindern oder Tieren, aber nicht mehr für hetero- oder homosexuellen Oral- und Analverkehr gilt, weil das irrational, willkürlich und grundrechtswidrig sei. Homosexualität stuften sie nicht als "Abweichung", sondern als natürliche "Variation" ein.

Die Kläger gegen das Gesetz hatten dem Gericht zahlreiche Fälle präsentiert, in denen Homosexuelle nicht nur Opfer von Demütigungen und Diskriminierungen, sondern auch von Erpressungen und sexuellen Übergriffen wurden, weil sie ihre Orientierung geheim halten wollten. Oft spielte dabei die Angst vor Untersuchungshaft, Hausdurchsuchungen und anderen Ermittlungsmethoden eine größere Rolle als die vor den eigentlichen Strafen, die nur relativ selten verhängt wurden. Gegen heterosexuellen Oral- und Analverkehr scheint das Gesetz in der Praxis gar nicht angewendet worden zu sein.

Entscheidung vom 11. Dezember 2013 revidiert

Mit ihrem Urteil revidieren die fünf Richter unter Vorsitz von Dipak Misra einstimmig eine Entscheidung vom 11. Dezember 2013, in der das Gericht zur gegenteiligen Auffassung gelangt war. Das Gesetz, das nun nicht mehr für homosexuelle Geschlechtsakte gilt, war 1861 erlassen worden, als Indien unter britischer Kolonialherrschaft stand. Anders als in manchen Medien dargestellt war das so genannte "Zina"-Verbot aber nicht oktroyiert, sondern bereits Bestandteil der Fatawa-e-Alamgiri im Mogulreich, wo Hindus mit 50 bis 100 Peitschenhieben und Moslems mit dem Tod durch Steinigung bestraft wurden.

In der Arthashastra, die vom 2. Jahrhundert vor Christus bis zur islamischen Invasion galt, werden ebenfalls Strafen für homosexuelle Unzucht genannt - allerdings verhältnismäßig milde: Baden und eine Nacht lang fasten, oder, wie man heute sagen würde: "Ohne Abendessen ins Bett". Vor der Gültigkeit dieser Vorschrift war die Strafe härter: Es drohte eine Kasten-Degradierung. Der traditionelle akzeptierte Umgang mit Homo- und Transsexuellen war die rituelle Kastration und die Aufnahme in eine Hijra-Kommune, wo sie sich als Frauen kleideten und die Muttergöttin Bahuchara Mata verehrten.

Guru: "Schlimme Sucht", die durch Yoga "geheilt" werden kann

Homosexuellen, die keine Hijras werden, steht der organisierte Hinduismus überwiegend skeptisch gegenüber: Guru Baba Ramdev verdammt Homosexualität als "schlimme Sucht", die er mit Yoga heilen könne, und für Om Prakash Singhal richtet sie sich nicht nur gegen die indische Kultur, sondern auch gegen die Natur. Damit ist sich der Vizepräsident des Welthindurats VHP mit Maulana Madni von der indisch-islamischen Jamiat Ulema-e-Hind einig, der darüber hinaus betont, dass die Praxis auch in der Heiligen Schrift und den Überlieferungen seiner Religion verboten sei.

Entsprechend dieser Position kritisierte auch Swami Chakrapani, der Präsident der Akhil Bharatiya Hindu Mahasabha, das heutige Urteil als "schändliche Aufwertung von Geisteskranken". Das hielt indische Homosexuelle in Großstädten wie Bangalore und Bombay nicht davon ab, das Urteil öffentlich zu feiern. Damit, dass die indische Regierung dafür sorgt, dass ihre Freude nicht lange währt, rechnen sie nicht, weil sich Ministerpräsident Narendra Modi ebenso wie andere führende Politiker seiner Bharatiya-Janata-Partei weitgehend aus der Debatte herausgehalten hat. Bis Homosexuelle in Indien heiraten können, dürfte es allerdings noch etwas dauern. In ihrem heutigen Urteil betonten die Richter nämlich auch explizit, dazu keine Vorentscheidung gefällt zu haben.

Homosexualität in 71 Ländern verboten

Meenakshi Ganguly, der Südasiendirektor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, meinte nach dessen Bekanntwerden, er hoffe, dass Indien ein Vorbild für andere Länder sein wird. Nach der Legalisierung im zweitbevölkerungsreichsten Land der Erde gibt es aktuell 71 Staaten, in denen praktizierte Homosexualität verboten ist - vor allem in Afrika, der arabischen Welt und Südasien. In Saudi-Arabien, dem Iran, dem Südsudan, dem Jemen, Mauretanien und Nordnigeria steht sogar die Todesstrafe darauf. In Pakistan, Bangladesch, Birma, Uganda, Tansania und Sambia droht lebenslange Haft. In Algerien, Eritrea, Angola, Ghana, Togo, Sierra Leone, Namibia, Botswana, Sri Lanka, Guyana, Teilen Indonesiens und einer Reihe von kleinen Inselstaaten besteht das Verbot dagegen nur noch de jure - de facto findet eine Strafverfolgung dort nicht mehr statt.

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