Indien: "Wachstum ohne Entwicklung"

Quelle: Datenbank Weltbank. Eigene Berechnungen und Darstellung.

Die Bevölkerung Indiens gehört zu den ärmsten und am schlechtesten ausgebildeten weltweit. Das hohe Wirtschaftswachstum erhöht bisher nicht den sozialen Wohlstand

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Der zweite asiatische Megastaat verstärkt seit zwei Dekaden seinen internationalen Einfluss. Allerdings ist die Bevölkerung der "Weltmacht" strukturell durch Armut und Hunger gekennzeichnet. Entsprechend nehmen innere Verteilungskonflikte zu. Im Gegensatz zu China fehlt einer indischen Politik der außenpolitischen Stärke die innere soziale Stabilität.

Whenever you are in doubt …
Recall the face of the poorest and the weakest…
And ask yourself…
Will they gain anything by it?

Mahadma Ghandi

Indien ist eine Weltmacht. Betrachtung der absoluten Daten: Platz 2 Einwohner (1,2 Mrd.), Platz 3 Anzahl Soldaten (1,2 Mio.), Platz 7 Staatsfläche (3,3 Mio. km²), Platz 9 BIP (1,4 Billionen €), Platz 11 Militärhaushalt (ca. 20 Mrd. €). Indien ist eine Nuklear- und Weltraummacht.

Werden diese Fakten ins Verhältnis zur Bevölkerung gesetzt und mit sozio-ökonomischen Werten unterlegt, relativieren sich die Superlative drastisch. So zählt Indien mit einem BIP pro Einwohner von ca. 1.100 € zu den Staaten mit geringer volkswirtschaftlicher Produktivität. Der Abstand zu den anderen Staaten der BRICS ist gewaltig.

Die geringe Wirtschaftskraft pro Kopf in Indien belegt eine massive soziale Unterentwicklung. Der Vergleich zu ökonomisch entwickelten Staaten wie Deutschland weist auf einen Jahrhundert-Abstand hin.

Quelle: Datenbank Weltbank. Eigene Berechnungen und Darstellung.

Millenniums Ziele verfehlt

Die indische Bevölkerung gehört zu den ärmsten und ungebildetsten weltweit. Von den Großregionen der Welt haben nur die Länder der Subsahara vergleichbar schlechte sozio-ökonomische Werte. Besonders deutlich tritt die soziale Not bei der Versorgung von Kindern hervor. Die 2001 von der UN, dem IMF und der OECD erstellten Millenniums-Entwicklungsziele legen darauf besonderen Wert.

Konkret wird angestrebt, den Anteil der Kinder, die unter Entbehrungen wie Hunger oder mangelnde Impfungen leiden, weltweit bis 2015 zu halbieren. Ausgangsbasis ist der Stand des Jahres 1990. Anhand dieses Maßstabes urteilen die Autoren des Länderreports eindeutig - Indien verfehlt die gestellten Ziele. (Kurzüberblick über Indien und die MDG)

Flächendeckende "absolute" Armut

Die sozio-ökonomischen Probleme haben in Indien ein katastrophale Dimension. Es dominiert eine flächendeckende "absolute Armut". Diese "ist gekennzeichnet durch eine unzureichende Mittelausstattung, um lebenswichtige Grundbedürfnisse zufriedenstellen zu können. Absolut arme Menschen leiden unter schwerwiegenden Entbehrungen und müssen permanent um ihr Überleben kämpfen" (World Vision Institut).

Die hohen Werte signalisieren, dass die indische Volkswirtschaft nicht in der Lage ist, die Gesamtbevölkerung mit dem Nötigsten zu versorgen. Für die Messung von Armut haben sich zwei in den Millenniums-Entwicklungszielen erfasste Indikatoren durchgesetzt: Kaufkraftminimum sowie Unterernährung.

Kaufkraftminimum

Als Einkommensminimum definiert die internationalen Statistik ein verfügbares Einkommen von 1,25 US-$ pro Tag pro Person - inklusive aller direkten staatlichen und karikativen Transfers. Menschen, deren Einkommen darunter liegt, können sich kaum ausreichend versorgen.

Kritiker sehen diesen Wert auf Grund von Inflation und veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen als nicht mehr aussagekräftig an. Um gegenwärtige Armut zu erfassen, müsste mindestens eine Erhöhung auf 2 US-$ am Tag (ca. 45 € im Monat) erfolgen.

Bereits bei dem Ansatz von 1,25 US-$ pro Tag treten im Vergleich zum zweiten asiatischen Milliarden-Staat, der Volksrepublik China, die sozialen Defizite Indiens drastisch hervor. Noch Anfang der 1980er Jahre hatte China ein deutlich höheres Armutsniveau. Mit der sukzessiven Entwicklung der chinesischen Wirtschaft seit Ende der 1970er Jahre, stellten sich soziale Verbesserungen ein.

Der große Schub erfolgt ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Innerhalb einer Dekade erhöhte sich das Einkommen der Bevölkerung außerordentlich. Heute leben "nur" noch 12 Prozent der Chinesen in absoluter Armut.

Die indische Wirtschaftsentwicklung verlief andersartig. Indien baute nach der Unabhängigkeit 1947 eine formale Marktwirtschaft mit stark zentralplanwirtschaftlichen Zügen auf. Diese "mixed-economy" entwickelte aber auf Dauer nicht die nötige Wirtschaftsdynamik.

Indien fiel seit den 1970er Jahren hinter die Gesellschaften Süd-Ostasiens sowie zunehmend auch China zurück. Der Niedergang der Sowjetunion sowie die Auflösung der Systemkonfrontation verstärkten den Druck, sich neu zu orientieren. Gleichzeitig nahmen die innergesellschaftlichen Spannungen zu, da das Wirtschaftswachstum nicht ausreichte, um der schnell wachsenden Bevölkerung eine Entwicklungsperspektive zu bieten.

Die indische Führung reagierte in den 1980er Jahren zunächst nur mit einem verhaltenem Umbau des Wirtschaftssystems. Die Neustrukturierung der Wirtschaft und der Gesellschaft beschleunigten sich allerdings nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten - den Haupthandelspartnern Indiens. Es entstand ein neuer Elitenkonsens. Der marktwirtschaftlichen Selbststeuerung wird ein größerer Freiraum gewährt, gleichzeitig erfolgt die Modernisierung von Verwaltung, Steuer- und Sozialsystemen.

Allerdings reduzierte sich bisher die absolute Armut nur bei einem angenommenen Einkommensminimum von 1,25 US-$ pro Tag. Die Anzahl der Personen mit weniger als 2 US-$ pro Tag ging dagegen kaum zurück. Noch immer verfügen fast 70 Prozent der Inder über ein geringeres Einkommen. Hier zeigt sich der qualitative Unterschied zu China. Auch bei dem höheren Einkommensminimum sank dort der Anteil der absoluten Armen an der Bevölkerung um über 60 Prozent. In Indien sind solche Fortschritte nicht in Sicht.

Hunger in Indien und China

Beim zweiten Indikator ergibt sich ein gemischtes Bild. In beiden Staaten wuchs die Bevölkerung in den letzten zwei Dekaden (China +17 Prozent; Indien +42 Prozent). Trotzdem stieg die Anzahl der Mangelernährten nicht, bzw. in China verringerte sie sich sogar. Anfang der 1990er Jahre hungerten in beiden Staaten 20 - 25 Prozent der Bevölkerung. Inzwischen gelten "nur" 11 Prozent der Chinesen und 17 Prozent der Inder als unterernährt. Beide Volkswirtschaften konnten die Lebensmittelversorgung deutlich verbessern.

Neue Daten weisen darauf hin, dass sich die Zahl der Unterversorgten nur noch langsam verringert, bzw. in China sogar stagniert. Eine beunruhigende Entwicklung, da die positiven Tendenzen der weltweiten Hungerbekämpfung in den vergangenen drei Jahrzehnten maßgeblich auf Erfolge in diesen beiden Großstaaten zurückzuführen sind.

Ebenfalls haben sie bereits jetzt umfassende Umwelt- und Klimaprobleme, die in den nächsten Jahrzehnten zu großen Verlusten an Agrarflächen führen. Dies wiegt umso schwerer, da beide Staaten zusammengenommen 25 Prozent der weltweiten Mais-, 50 Prozent der weltweiten Reis- und 30 Prozent der weltweiten Weizenernte erzeugen.

Instabilitäten in Indien

Indien konnte durch zahlreiche Sozialprogramme den Hunger eindämmen. Dieser Teilerfolg soll jetzt durch ein weiteres ca. 17 Milliarden-Euro-Programm ausgebaut werden. Allerdings gelang es nicht, die Armut zu reduzieren.

Ein deutliches Zeichen, dass Indiens wachsende Wirtschaftskraft sich kaum in sozialem Wohlstand umsetzt. Seine Erfolge in der Informations-, Pharma- und Biotechnologie mögen beeindruckend sein, "doch Beschäftigung für die Massen der ungelernten Erwerbsfähigen zaubern sie nicht herbei."1

Bisher profitieren von diesem "Wachstum ohne Entwicklung" primär die neuen Mittel- und Oberschichten (150 - 250 Millionen Menschen von insgesamt 1.200 Millionen).2 Damit verstärken sich die zentrifugalen Kräfte, inklusive eines sich ändernden Eliten- und Machtgefüges.

Zumal sich 60% der Armen Indiens in nur 6 Bundesstaaten Mittel- und Nord-Ostindiens konzentrieren. Infolge dieser inneren Ungleichgewichte spitzen sich die religiösen und ethnischen Konflikte (z.B. mit den Sikh und den Tamilen) weiter zu.

Gleichzeitig steigen neue (militante) Eliten die sich als Sprecher der Verlierer des Modernisierungsprozess verstehen, wie die Naxaliten, auf.3

Quellen: Linke Seite: Bevölkerungsdichte indische Bundesstaaten, Bild: Marcel Krüger. In den sechs unterstrichene Staaten konzentriert sich 60 Prozent der Armen Indiens. Rechte Seite: Aktivitäten der Naxaliten, Bild: Planemad, Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Illusion außenpolitischer Stärke

Indien verstärkte in den letzten Jahren seine Rüstungsanstrengungen und versucht in Süd-Ostasien sowie darüber hinaus (wieder) an Einfluss zu gewinnen. Dieses Bestreben ist angesichts der inneren sozialen Herausforderungen äußerst fragwürdig.

Das Land mag zwar nach absoluten Zahlen eine Weltmacht sein, aber die inneren Probleme fesseln Indien langfristig. Bei einer "strategischen Überdehnung" droht eine massive innere Destabilisierung. Gemessen an China, das seinen Aufbruch 15 Jahre vor Indien begann und immer noch einen weiten Weg vor sich hat, wird Indien erst gegen Mitte des 21. Jahrhunderts seinen historischen Platz unter den führenden Nationen einnehmen.

Kai Kleinwächter ist Mitarbeiter der Redaktion von WeltTrends - Zeitschrift für internationale Politik. Die letzte Ausgabe zum Thema "Indien" erschien im November 2013. Ebenfalls bloggt der Autor zweimal im Monat auf e-Politik.