Indische Realitäten
Wenn ein indischer Polizist sich 30 Dienstjahre von der Seele redet, wird deutlich, dass es mit gefährlichen Blendern wie der Demonetarisierung oder dem Abspielen der Nationalhymne vor jeder Kinovorstellung nicht getan ist
Morgens gegen vier auf einer abgelegenen Landstraße in Nord-Bengalen treffe ich auf einen kleinen Polizeiposten. Auf der anderen Flußseite des Tista-Rivers liegt der Bundesstaat Sikkim, in dem es die indische Regierung erfolgreich mit dem Zuckerbrot probiert hat, anstatt mit der Peitsche (wie in Kaschmir). Ein kleiner, stämmiger Polizist winkt mich hinein. Auf dem Bildschirm in der kalten Stube verkündet Ministerpräsident Modi gerade sein Neujahrsgeschenk: Jeder Inder darf jetzt täglich 4500 Rupien (64 €) vom Geldautomaten abheben - 53 Tage nachdem Modi alle großen Geldscheine für ungültig erklärt hat, gehen die Zahlungsprobleme weiter.
Aus der Zelle, einem kalten Betonverschlag, dringt ein wimmerndes Rufen; der einzige Gefangene der Nacht: "Drogen", sagt der kleine Stämmige: "Der Junge war so zugedröhnt, dass er kaum noch Laufen konnte. Dazu wollte er noch Tabletten schmuggeln. Dass alles schwappt jetzt von Sikkim zu uns nach Bengalen. So ist das halt, wenn Menschen mit Geld ruhiggestellt werden." Dann winkt er seinen langen Kollegen zu Zelle. Nachdem die beiden das junge Häufchen Elend zur Toilette und zurück gebracht haben, verabschiedet sich der Lange ins Bett.
Wie ich erfahre, heißt der Stämmige Bimal und hat noch drei Monate bis zur Rente. Nun ist er der einzige wache Beamte für 5000 Bewohner der Umgebung. Dann ist Motorengeräusch zu hören und wir beide gehen nach draußen. Der Fahrer des heranfahrenden Jeeps wird zwar langsamer, aber anstatt anzuhalten und mich mitzunehmen, grüßt er mit falschem Lächeln und deutet mit ungelenken Bewegungen an, dass er eh nicht hoch nach Darjeeling wolle, sondern nur um die Ecke. "Den darf ich sowieso nicht anhalten und kontrollieren, obwohl sein Wagen bis obenhin mit steuerfreien Alkohol aus Sikkim voll ist, denn er bezahlt meine Superintendentin", sagt Bimal mit unbewegter Miene, die durch 30 Jahre Polizeidienst an der Front der indischen Realitäten gestählt ist.
Wieder in der Stube frage ich ihn, was er von seiner Chefin hält, der Ministerpräsidentin von Bengalen, Mamata Banerjee. "Sie ist gut und will verändern, aber schon ihre Minister sind korrupt - im 5-Milliarden-Dollar-Skandal um die Pleite der Saradha Group, die mit dem Schnellballsystem 1,7 Millionen Anleger betrogen hat, waren nachweislich Minister und Abgeordnete der aktuellen Regierungspartei TMS beteiligt. Schau: Eigentlich sollen wir hier rund um die Uhr mit acht ausgebildeten Polizisten im Dienst sein. Wir sind aber insgesamt nur acht und davon sind fünf Hilfspolizisten, die statt 30.000 Rupien im Monat nur 5000 bis 7000 Rupien verdienen. Im Budget ist aber Geld für acht volle Stellen frei gegeben."
Kurz darauf ertönt ein Motorengeräusch und wir gehen wieder nach Draußen, damit ich nach Darjeeling komme, doch der Fahrer reagiert nicht einmal mit alibimäßigem Winken auf das halbherzige Zeichen zum Anhalten von Bimal: "Das ist ein ganz großer Krimineller und ich möchte gar nicht wissen, was er heute wieder in seinem Wagen schmuggelt. Vor ein paar Jahren stoppte ich ihn. Zwei Minuten später rief mich mein Superintendent an …".
"Aber gibt es denn hier keine Kontrollen der übergeordneten Stellen", will ich wissen, worauf Bimal kurz überlegt und dann auf einen platten Fußball zeigt: "Das ist unser System, aber niemand ist da, der es aufpumpt."
Dann kickt er gegen den Ball, der in einem Halbkreis zur Seite eiert. "Wenn der Kontrollbesuch bei uns erscheint, läuft es natürlich so, wie der Ball gerade rollte: quer! Aber mein Superintendent sagt dann zu den Kontrolleuren, dass es nur ausgerechnet heute quer lief, jeden anderen Tag läuft es bestens. Dann hat er wieder ein Jahr Ruhe."
"Läuft das überall so ab?" Nein, nicht auf zentraler Ebene. Die Beamten der Zentralregierung sind gut ausgebildet und gut bezahlt. Die Stellen werden nur nach vielen harten Tests vergeben. So ist gerade die untere Ebene der Beamten kaum bestechlich.
In der Morgendämmerung kommt die Ablösung von Bimal, doch anstatt ins Bett zu gehen, tritt er wieder nach Draußen: "Jetzt habe ich Außendienst. Für unsere Überstunden bekommen wir mittlerweile ein 13. Monatsgehalt."
"Und da ihr nur drei volle Polizisten seid, verschwindet auch da sofort wieder Geld in fremden Taschen sobald es Banajeer freigegeben hat", sage ich, worauf Bimal nickt und hinzufügt: "Anfang letzten Jahres sind Regierungsmittel für einen Bus freigegeben worden, der die Menschen kostengünstig nach Darjeeling bringen soll, doch noch immer sind einzig private Jeeps und Taxen die Fahrdienste."
Als ein teurer Geländewagen vorbeirast, aus dem Gejohle, Frauengekreische und laute Musik schallt - der Sohn einer bekannten lokalen Persönlichkeit, wie Gurung sagt -, kommt eine junge Dame angejoggt. Nach einem kurzen Smalltalk im perfekten Englisch joggt sie weiter: "Die Dame ist eine Kollegin. Von 9 bis 14 Uhr arbeitet sie als Lehrerin. Anschließend als Hilfspolizistin bei uns. Obwohl sie einen abgeschlossenen Master besitzt, bekommt sie in Bengalen keine volle Regierungsstelle."
Kurz darauf gesellen sich drei Kollegen von Bimal zu uns. Ob sie gerade Freizeit haben oder im Dienst sind, ist unwichtig, da sie wegen der Unterbesetzung eh 24 Stunden in Bereitschaft sind. Um sie aufzumuntern, erzähle ich, wie ihre schlechtbezahlten Kollegen in Pakistan ihr Frühstücksgeld verdienen: "Da dort fast jeder ohne Helm fährt, brauchen sie nur einen Helmlosen anzuhalten und ihm den Strafzettel über 200 Rupien hinzuhalten. Da die Strafe im abgelegenen Verkehrsamt zu bezahlen ist, steuert der reuige Sünder schnell ein paar Rupien zum Frühstück bei."
Noch während die drei aus vollem Herzen lachen und Sätze wie: "In Indien trägt jeder einen Helm", von sich geben, rollt ein Vater mit seinem kleinen Sohn auf einem Motorrad heran - beide ohne Helm. "Eh, eh die sind aus dem Dorf und wollen nur …", stottert der Lange, aber wird brüsk von Bimal unterbrochen: "Ach lass. Dass sind unsere Bürger. Nur mal kurz ohne Helm Milch holen. Nur mal kurz im überfüllten Laster in den nächsten Ort. Und unsere Auto- und Jeepfahrer: Statt öfters mal neue Reifen zu kaufen, zünden sie lieber eine Räucherkerze für Ganesha an, damit dieser auf sie aufpasst. Aber wenn etwas passiert, beschimpfen sie als erstes uns", worauf wir alle instinktiv zur Seite schauen, wo zwei völlig demolierte Fahrzeuge liegen - direkt darüber ein Hindu-Tempel, wo ein Priester mit Räucherkerzen das morgendliche Puja einläutet.
Als wir wieder alleine sind, frage ich Bimal, ob auch er schon einmal Bestechungsgeld angenommen hat: "Nein. Aber wenn einer meiner schlecht bezahlten Hilfskollegen mal für 50 Rupien die Hand aufhält, schweige ich und auch sonst schaue ich öfters weg - damit ich meine Rente erreiche."
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