"Individuell ist der Niedergang an der Vereinzelung der Menschen zu erfahren"

Interview mit dem Philosophen Konrad Lotter über Marx als Theoretiker der Dekadenz und Hoffnungen, die auf den gesellschaftlichen Fortschritt gerichtet werden.

In seinem Buch Anatomie der Gegenwart. Beschleunigung, Nachhaltigkeit, Utopie und Fortschritt aus dem Blickwinkel von Marx nimmt der Philosoph Konrad Lotter Begriffe aus der gegenwärtigen kulturellen und gesellschaftlichen Debatte und untersucht sie aus einer marxschen Perspektive. Mitunter widmet er sich auch dem Phänomen der Dekadenz, wofür sich bislang eher Baudelaire und Nietzsche zuständig erklärten. Ein Gespräch mit dem Autoren.

Herr Lotter, Ihr Buch trägt einen anspruchsvollen Titel: Anatomie der Gegenwart". Der Begriff der Anatomie lässt sich im Deutschen mit "Zergliederung" wiedergeben. Verstehe ich Sie richtig: Sie möchten die Glieder oder den Knochenbau freilegen, der dem "Körper" unserer Gegenwart seinen Halt gibt? Und das, wie es im Untertitel heißt, "aus dem Blickwinkel von Marx".

Konrad Lotter: Genau. Es existieren viele "Einführungen" in die Marxschen Theorie, die deren Logik folgen und ihre Begriffe im Zusammenhang darlegen. Mein Buch geht stattdessen von den Problemen und Konflikten unserer Gegenwart aus und analysiert sie aus der Perspektive der Marxschen Theorie.

Thematisiert werden dabei unter anderem die Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich, das angestrebte Ziel der Nachhaltigkeit (unter der Bedingung des ökonomischen Wachstums), die zunehmende Beschleunigung des Lebens, die Freiheit der Meinung und der Presse (unter der Bedingung der social media), der Fortbestand der Humanität (bei gleichzeitigem Zwang zur Anpassung), der widersprüchliche Charakter der Börse und des Aktienhandels, die Zukunft des Privateigentums oder die Überlagerung von Fortschritt und Rückschritt in der gesellschaftlichen Entwicklung.

"Die Kritik der politischen Ökonomie gibt keine Anweisung für den Aufbau einer besseren Gesellschaft"

Bleiben wir bei dem Thema, das Sie zuletzt genannt haben. Was die Gegenwart (so die verbreitete Meinung) doch grundsätzlich mit Marx verbindet, ist die Hoffnung oder das Vertrauen auf den gesellschaftlichen Fortschritt. In Ihrem Buch wird Marx dagegen als "Theoretiker der Dekadenz" vorgestellt. Wie geht das zusammen?

Konrad Lotter: Zuerst einmal sind die Hoffnungen, die auf den gesellschaftlichen Fortschritt gerichtet sind, extrem verschieden. Gegenwärtig sind sie vor allem von der Hoffnung getragen, die von der Ökonomie verursachten Probleme des Klimawandels oder der Ressourcenknappheit durch verbesserte Technologien lösen zu können, und zwar ohne Einbußen des Lebensstandards.

Marxʼ Hoffnung ist dagegen auf mehr Gleichheit, mehr Solidarität, mehr Selbstbestimmung und Humanität gerichtet. Weiterhin liegt den gegenwärtigen Hoffnungen in der Regel die Überzeugung zugrunde, der gesellschaftliche Fortschritt und die Lösung der ökologischen Probleme seien mit den bestehenden Eigentumsverhältnisse und der auf Wachstum ausgerichteten kapitalistischen Produktionsweise kompatibel. Marx sieht darin hingegen eine unüberschreitbare Hürde, und damit kommt der Aspekt der Dekadenz oder des Niedergangs ins Spiel.

Die "Kritik der politischen Ökonomie" gibt keine Anweisung für den Aufbau einer besseren, sozialistischen Gesellschaft. Sie analysiert stattdessen wie die kapitalistische Produktionsweise aufgrund ihrer eigenen Mechanismen an Grenzen stößt.

"Verlust der Möglichkeit, das eigene Leben zu planen, und die Überforderung am Arbeitsplatz"

Woran lässt sich denn Phänomene der Dekadenz festmachen und erfahren?

Konrad Lotter: Von der entfremdeten (Lohn-) Arbeit ausgehend, unterscheidet Marx verschiedene Formen der Entfremdung, die sich auch als Formen des gesellschaftlichen Niedergangs begreifen lassen. Dazu gehören die Polarisierung der Gesellschaft durch die wachsenden Gegensätze des Einkommens und des Eigentums, die wiederkehrenden Wirtschaftskrisen, die ganze Produktion, die nicht an den Bedürfnissen der Menschen, sondern an der Verwertung des Kapitals orientiert ist.

Individuell ist der Niedergang an der Vereinzelung der Menschen zu erfahren, am Verlust der Möglichkeit, das eigene Leben zu planen, an der Beschleunigung des Lebens, die nicht mehr bewältigt werden kann, an der Überforderung am Arbeitsplatz und der Zunahme psychischer Erkrankungen oder der Verschiebung menschlicher Bedürfnisse auf Konsumbedürfnisse, die durch den Erwerb von Waren befriedigt werden.

Als lebensbedrohliches Dekadenzsymptom kann auch begriffen werden, dass die Natur, der menschliche Lebensraum, den Bedürfnissen eines verselbständigten Wirtschaftswachstums aufgeopfert wird. Lapidar heißt es schon in Marxʼ Kapital: die kapitalistische Produktionsweise untergräbt die beiden "Springquellen des Reichtums", die Natur und den Arbeiter.

"Prozess der Verwesung"

Mit "Dekadenz" wird vor allem Baudelaire oder Nietzsche assoziiert. Beide begreifen die Moderne als Niedergang. Soll Marx in diese Tradition gestellt werden?

Konrad Lotter: Nietzsche bezeichnet sich selbst als "höchste Instanz" in Fragen der Dekadenz. Dabei übernimmt er im Wesentlichen den Begriff der Dekadenz, wie ihn Paul Bourget mit Bezug auf Baudelaire ausgebildet hat. Dieser Begriff ist an der Natur orientiert, am Prozess der Verwesung, bei dem sich die Zellen verselbständigen, sich nicht mehr dem Gesamtorganismus unterordnen, ein Eigenleben führen und den Zerfall des Ganzen herbeiführen.

Marxʼ Paradigma ist nicht die Natur, sondern die bürgerliche Gesellschaft. Deren Niedergang allerdings beschreibt er 40 Jahre vor Bourget und Nietzsche in ähnlichen Begriffen, d.h. als einen Prozess, in dem sich die Teile (die Individuen) mit ihren Privatinteressen "vom Gemeinwesen absondern", in ihrem anarchistischen Gegeneinander gesellschaftliche Krisen erzeugen und damit die Auflösung der bestehenden Gesellschaftsordnung vorantreiben.

Marx beschreibt den gesellschaftlichen Verwesungsprozess auch als wachsende Herrschaft des Toten (des akkumulierten Kapitals, der "Strukturen") über das Lebendige (die täglich verrichtete Arbeit, die Menschen). Wesentlich ist hierbei, dass der Niedergang für ihn nicht zu einem absoluten Ende, nicht zum Tode führt, sondern einen Durchgangspunkt markiert, den Übergang zu einem neuen Leben.

Vor allem wird die "Dekadenz" nicht (wie bei Baudelaire u.a.) unter dem Aspekt des ästhetischen Genusses gesehen, das sie vermittelt, sondern unter dem Aspekt des physischen und psychischen Leidens, das sie für viele Menschen mit sich bringt.

Auch wenn Marx die kapitalistische Produktionsweise ab einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung unter dem Gesichtspunkt der Auflösung und des Niedergangs begreift, so rechnet er es ihr doch gleichzeitig hoch an, dass sie die Mittel (Produktivkräfte) ausbildet, die seiner Meinung nach die Voraussetzung für die Verwirklichung des "Reiches der Freiheit" darstellen...

Konrad Lotter: Fortschritt und Rückschritt im geschichtlichen Prozess bilden für Marx eine widersprüchliche Einheit. Zum einen wird die bürgerliche Gesellschaft als eine "progressive Gesellschaftsformation" begriffen; das "Kommunistische Manifest" überschlägt sich geradezu in der Begeisterung für die ökonomischen und zivilisatorischen Errungenschaften, die die bürgerliche Gesellschaft mit sich gebracht hat.

Zum andern bestehen Marx und Engels aber auch darauf, dass die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, ursprünglich eine Entwicklungsform, zu einem Hemmschuh der Entwicklung geworden sind. An einem bestimmten Punkt der Produktivkraftentwicklung werden neue Produktionsverhältnisse erforderlich, die über den Kapitalismus hinausführen. Wird dieser Übergang versäumt, so beginnt eine Epoche des Niedergangs, der sich auf alle Bereiche des Lebens ausweitet.

Wann aber ist dieser Punkt erreicht?

Konrad Lotter: Marx und Engels sahen ihn (offenbar verfrüht) schon beim Aufbau des Eisenbahnnetzes, der ihrer Ansicht nach der Potenz eines "Einzelkapitals" und sogar einer Aktiengesellschaft entwachsen ist und eine "Verstaatlichung ökonomisch unabweisbar" macht.

Für Lenin war der Punkt mit der "Elektrifizierung des ganzen Landes" erreicht, die mit der "Macht der Räte" verbunden werden und die Epoche des realen Sozialismus einleiten sollte. Aus ökologischer Perspektive nicht mehr nachvollziehbar ist heute die Begeisterung Ernst Blochs, der mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie ein neues postkapitalistisches Zeitalter heraufziehen sah.