"Individuell ist der Niedergang an der Vereinzelung der Menschen zu erfahren"

Seite 2: "Das Privateigentum hat sich überlebt"

Und heute, im Zeitalter von Industrie 4.0?

Konrad Lotter: Folgt man Nikolai Kondratieffs Theorie der "langen Wellen", dann treibt die Entwicklung der Produktivkräfte (in Form der Erneuerung der "Basistechnologie") den Kapitalismus nicht unmittelbar seiner Auflösung entgegen. Sie wirkt zunächst einmal dem Konjunktur- oder Krisenzyklus entgegen, schafft neue Investitions- und Verwertungsmöglichkeiten fürs Kapital, erhöht aber zugleich auch den Exploitationsgrad der Arbeit.

Erneuerungen der Basistechnologie, die "lange Wellen" einleiteten, waren die Einführung der Dampfmaschine, der Eisenbahn, der Elektrifizierung etc. Heute ist es die Informations- und Kommunikationstechnologie, auf deren Grundlage sich das Projekt der Industrie 4.0 entwickelt.

Die Diskrepanz zwischen den Möglichkeiten einer fortschreitenden Befreiung der Menschheit und der gleichzeitigen Realität eines zunehmenden Verfalls spitzt sich allerdings mit jeder "Welle" zu. Das von den "Visionären" von Industrie 4.0 angestrebte Ziel ist die Vernetzung, die computergesteuerte und robotergenerierte Selbstorganisation der gesamten Produktion, wodurch die "notwendige Arbeit" reduziert, die Anarchie konkurrierender Konzerne beseitigt wird und in einer Art von (privatwirtschaftlicher) Planwirtschaft übergeht.

Gleichzeitig zentriert sich der Reichtum in immer weniger Händen; die Spaltung nicht nur der Gesellschaften, sondern (auf Kontinente verteilt) der gesamten Menschheit schreitet voran. Die Produktivkräfte werden zu Destruktivkräften. Sie zerstören die natürlichen Kreisläufe, verbrauchen die (nur in endlichen Maßen vorhandenen) Ressourcen und vernichten die Lebensgrundlagen der Menschen.

Es gibt doch politische Programme zur Vermeidung der Klimaveränderung oder zur Erhaltung der Artenvielfalt. "Nachhaltigkeit" besitzt in der gegenwärtigen Planung höchste Priorität…

Konrad Lotter: Der Begriff der Nachhaltigkeit selbst kommt bei Marx nicht vor. Aus seiner Kritik der politischen Ökonomie und seinen umfassenden Exzerpte der zeitgenössischen Agrartheorien (Carl Fraas, Justus von Liebig u.a.) lässt sich allerdings eine dezidierte Stellung zum Thema der Nachhaltigkeit erkennen, die im Gegensatz zu den heute zumeist vertretenen Auffassungen steht.

Ihr Kern: Nachhaltiges Produzieren und ökonomisches Wachstum im Sinne der kapitalistischen Produktionsweise schließen einander aus.

"Tatsächlich stammt das Geld aus vergangener Arbeit"

Eine letzte Frage: Welche Rolle spielt denn der Aktienhandel im Entwicklungsprozess des Kapitalismus? Die Börse ist und bleibt doch gewissermaßen dessen Herzstück.

Konrad Lotter: In deren Beurteilung machen Marx und Engels eine bemerkenswerte Entwicklung durch. Während ihrer Jugend überwiegt die moralische Verurteilung. Engels spricht von der Börse als dem "Kulminationspunkt der Unsittlichkeit". Später steht die wissenschaftliche Analyse im Zentrum des Interesses, der zufolge die Ausgabe von Aktion im Zusammenhang mit der Beschaffung von Kredit steht und eine kolossale Beschleunigung der Zirkulation und der Konzentration des Kapitals bewirkt.

Der "doppelseitige Charakter" der Börse besteht zum einen darin, dass in ihr die Entfremdung oder der "Kapitalfetischismus" seinen reinsten Ausdruck findet. Aus Geld wird mehr Geld. Es entsteht der Eindruck, Geld hätte von Natur aus die Fähigkeit, sich zu vermehren und Früchte zu tragen, so wie der Birnbaum die Fähigkeit hat, Birnen zu tragen – ohne die Vermittlung durch den Einsatz bzw. die Exploitation von Arbeitskraft.

Tatsächlich stammt aber das Geld, das im "Börsenspiel" eingesetzt wird, aus vergangener Arbeit oder bereits abgeschlossener Exploitation. Die Börse erscheint somit als ein Institut, wo "die Bourgeoisie nicht die Arbeiter, sondern sich untereinander ausbeutet", d.h. sich die gemacht Beute abjagt.

Zum anderen wird das "Privatkapital" innerhalb der Aktiengesellschaft in "Gesellschaftskapital" überführt, es findet somit "die Aufhebung des Kapitals als Privatkapital" statt, wenn auch noch innerhalb der Schranken der kapitalistischen Produktionsweise.

Ganz wesentlich dabei ist, dass der Privateigentümer seine Funktion als Unternehmer und Organisator seines eigenen Unternehmens (wie das im 19. und noch im frühen 20.Jahrhundert üblich war) aufgibt und sie an einen "Dirigenten" oder Manager abgibt, der trotz seiner u.U. hohen Belohnung ein Lohnabhängiger bleibt. Die Trennung von Eigentümer und "fungierendem Kapitalisten" aber macht deutlich, dass der Ablauf der Produktion und Distribution auch ohne Privateigentümer stattfinden kann. Das Privateigentum hat sich überlebt.