Individuelle Selbstüberschätzung und gesellschaftliche Ideologien

Seite 2: Anmerkungen zum tautologischen Charakter der Intelligenztheorie

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Was hingegen an den Besonderheiten, Fähigkeiten und "Merkmalen" eines Individuums per se vorhanden und was erworben; was "fix" und was auf welche Weise und in welchem Umfang beeinflussbar ist, wird ja gerne mit Intelligenztests fundiert, die anhand diverser Schreib-, Zuordnungs- und Rechenaufgaben angeblich die "Befähigung" eines Menschen zu einer Zahl komprimieren, die ihn als mehr oder weniger "intelligent" ausweist.

Diese Sorte Intelligenztheorien bzw. -messungen sind wissenschaftlich umstritten2 und verweisen auf ein grundsätzliches Problem: Alle individuellen Eigenschaften äußern sich letztlich nur in Handlungen, in welchen die individualhistorische "Genese", also die Entstehungsgeschichte, der Entwicklungsprozess der Handlungspotentiale und -gründe unhintergehbar verborgen, also im Resultat unergründbar "aufgehoben" ist. "Aufgehoben" im dreifachen Sinne G.F.W. Hegels3: die Genese ist "zerstört", also durch die untrennbare Vermengung ihrer Einflussmomente im sichtbaren Handeln unkenntlich gemacht, sie ist als komplexes Resultat gleichsam auf eine neue, höhere Ebene gehoben - neue Fähigkeiten sind entstanden - , deren Entwicklungsbedingungen und vielgestaltigen Einflussfaktoren damit im Subjekt als Resultat zugleich aufgehoben, "bewahrt" wurden.

Hegels systematische Überlegungen zu "Kraft" und "Äußerung" verdeutlichten schon vor etwa 200 Jahren, warum im Resultat, dem wirklichen Handeln des Menschen, die Genese der darin zum Ausdruck kommenden "Kompetenzen" untrennbar mit dessen komplexen Bestimmungsgründen vermengt ist. Hinzu kommen noch Faktoren wie die willentliche Anstrengung, die heutzutage unter Label "Motivation" thematisiert wird sowie Fragen der Zweckmäßigkeit von Handlungsweisen, die auch ein kulturelles Moment enthalten: Wer an Regengötter glaubt, für den sind die entsprechenden Rituale, um Regen zu erzeugen, durchaus angemessen - aber drückt sich darin dann nicht weniger individuelle Inkompetenz als der beschränkte historische Wissensstand und die damit verbundene Weltsicht einer ganzen menschlichen Gruppe bzw. Kultur aus?

Generell bleibt festzuhalten: Theoretische Konstruktionen zur Begründung individueller Fähigkeiten aus irgendwelchen dem Individuum innewohnenden Eigenschaften sind deshalb oft zirkulär - sie begründen ihre Argumentation mit statistischen Messungen, denen die zu beweisenden Zusammenhänge und Unterscheidungen schon zugrunde liegen, da sonst das Messprogramm gar nicht formuliert werden könnte: "Intelligenz ist, was der Intelligenztest misst."

Mit nichts wird in modernen kapitalistischen Gesellschaften so viel Schindluder getrieben wie mit Intelligenzzuschreibungen und Kompetenzvermutungen: Schließlich will jeder seinen Platz in der sozialen Hierarchie damit begründet wissen, dass er ihn "verdient" hat bzw. die anderen nicht, weil sie die dafür erforderlichen "Fähigkeiten" angeblich nicht besitzen - was man daran bemerkt, dass sie diesen Platz nicht einnehmen…. Zirkulärer geht es nicht!

Dabei genügt ein Blick auf die Welt der Erfolgreichen, um das naturalistische Schema sozialer Hierarchie in Zweifel zu ziehen: So mancher "Dünnbrettbohrer" nimmt gehobene Positionen in Politik & Wirtschaft ein, und so mancher kluge Kopf führt ein notgedrungen bescheidenes Nischendasein. Die Verteilung auf die Hierarchie der Berufe scheint andere Kriterien zu beinhalten, der Zugang zu den sozialen Klassen schon gleich gar: Manche können sich der Konkurrenz um "Chancen" allein durch die Verfügung über verwertbares Eigentum erfolgreich entziehen.

Dies verweist uns schließlich auf den gesellschaftspolitischen Charakter von Kompetenzzuschreibungen: So macht Susanne Kretschmann auch darauf aufmerksam, dass im Umgang mit dem "Dunning-Kruger-Effekt" Vorsicht geboten ist: Die Ursachen von Inkompetenz in bestimmten Bereichen sind vielfältig; ebenso reduziert der plakative und simplifizierte Gebrauch des Dunning-Kruger-Modells als einzige Erklärung den komplexen Sachverhalt des psychologischen Umgangs von Menschen mit ihrer eigenen Inkompetenz auf eine Art und Weise, die im ungünstigsten Fall selbst auf Inkompetenz in Sachen wissenschaftlicher Psychologie hinweist. Sie zitiert den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann, der feststellte:

Die Kompetenzillusion ist nicht nur ein individueller Urteilsfehler; sie ist tief in der Kultur der Wirtschaft verwurzelt. Tatsachen, die Grundannahmen infrage stellen - und dadurch das Auskommen und die Selbstachtung von Menschen bedrohen -, werden einfach ausgeblendet.

Daniel Kahnemann

Die in Wissenschaft und Politik so offensichtlich verbreitete Praxis, die zuweilen stillschweigend vorausgesetzten, manchmal axiomatisch behaupteten Grundannahmen der eigenen Theorien und Auffassungen als quasi "blinden Fleck" zu zementieren, der außerhalb des eigenen Betrachtungs- und damit Kritikvermögens liegt, wird unabhängig von individuellen Beschränkungen der eigenen Kompetenzwahrnehmung durch gesellschaftliche Ideologien bewirkt. Als Paradebeispiel bietet sich hierfür das Basismodell der neoklassischen Ökonomik, der "homo oeconomicus" an.

Ignoranz als kontrafaktische Axiomatik: Das Beispiel des "homo oeconomicus"

Die neoklassische Orthodoxie der Nationalökonomen wurde von der Weltfinanzkrise 2008 kalt erwischt, d.h. im Zustand völliger Ahnungslosigkeit überrascht:

Wie in einem Brennglas bündelt die Londoner Konferenz das Versagen der modernen Makroökonomie: Während die Akademiker in der Zentrale der englischen Notenbank noch über die "Quellen der Finanz-Stabilität" diskutieren, bricht draußen das Bankensystem des Landes zusammen. "Die Finanzkrise hat eine Reihe von fundamentalen Schwächen in unserem analytischen Gerüst offengelegt", betonte Orphanides in dieser Woche auf der Jahrestagung der Royal Economic Society (RES) in der südenglischen Universitätsstadt Guildford

Olaf Storbeck

Die Mängel betreffen das theoretische System in seinem Kern:

Ähnliches gilt für die Frage, welche Rolle die Banken in der Wirtschaft spielen. Bis heute machen sich die meisten Makroökonomen nicht die Mühe, in ihre Modelle einen Finanzsektor einzubauen - sie unterstellen, dass die Finanzwelt reibungslos funktioniert.

Olaf Storbeck

Wenn man natürlich in die Modelle einer Ökonomie, die die Vermehrung von Geld zum zentralen Zweck hat, um den sich das gesamte Wirtschaftsgeschehen dreht, "keinen Finanzsektor einbaut", kommt man mit der Erklärung des realen Geschehens ungefähr so weit wie mit der Religion als Wegweiser der Deutung des Himmelsgeschehens.