Influenza - Die Jagd nach dem vergessenen Killer-Virus geht in die nächste Runde
Forscher wollen Grippe-Erreger von 1918 in Leichnam aufspüren und das Virus-Genom entschlüsseln
Ende 1918 infizierten sich über 700 Millionen Menschen mit dem Erreger der Spanischen Grippe. Bis zu 100 Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer. Umso mehr verwundert es, wieso die eigentlich schlimmste Pandemie aller Zeiten so schnell wieder in Vergessenheit geriet. Jetzt aber wagen einige unerschrockene Wissenschaftler einen ungewöhnlichen Schritt. Aus dem Leichnam eines Grippe-Opfers wollen sie das Erbgut der heimtückischen Mikrobe extrahieren und dabei den genetischen Aufbau studieren, um herausfinden, warum das Virus so extrem bösartig gewesen war.
Zuerst spürten die Infizierten einen dumpfen Schmerz im Kopf. Dann brannten die Augen und Fieber sowie ein Frösteln setzte ein. Schließlich fielen die Erkrankten in einen unruhigen von wirren Träumen begleitenden Dämmerzustand, wobei die Körpertemperatur unaufhörlich anstieg und die Gesichtsfarbe sowie die Füße sich auf unheimliche Weise bräunlichviolett färbten. Im letzten Stadium vor dem Exitus spuckten die Patienten Blut und schnappten verzweifelt nach Luft.
Virus kam aus dem Nichts
Warum dieser schreckliche Krankenverlauf vor 84 Jahren für mindestens 20 Millionen, möglicherweise sogar 100 Millionen Menschen mit dem Tod endete, bleibt bis auf den heutigen Tag eines der vielleicht größten ungelösten Rätsel der Medizingeschichte. Kein Virus in der Menschheitsgeschichte verbreitete sich innerhalb so kurzer Zeit derart schnell und tötete binnen weniger Monate so viele Menschen wie die Spanische Grippe (benannt nach dem zuerst vermuteten Ursprungsland) von 1918. "Die Seuche kam, als die Welt des Kriegsführens müde wurde, fegte in wenigen Monaten über den Globus, verschwand, als der Krieg aufhörte. Sie ging auf ebenso mysteriöse Weise, wie sie gekommen war", schreibt die US-Mikrobiologin Gina Kolata in ihrem jüngst erschienenen sehr empfehlenswerten Wissenschaftsthriller Influenza. Die Jagd nach dem Virus.
Besonders fatal an dieser Pandemie, die in zwei Wellen verlief, war einerseits ihre extreme Aggressivität, andererseits die Schnelligkeit, mit der sie sich rund um den Globus verbreitete. Selbst bis in den entlegensten Winkel der Welt drang die Spanischen Grippe vor und befiel weltweit insgesamt 700 Millionen Menschen. So harmlos der erste Influenza-Virusstamm im März 1918 noch daherkam, so heftig wütete dessen mutierte Variante im Herbst.
Heute ist der historische Killer-Virus von 1918 immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Woher kam er? Warum verschwand er so schnell wieder? Und wieso war die zweite Mikrobenvariante 24-mal aggressiver als der Vorgänger? Weshalb tötete sie vornehmlich junge und gesunde Menschen?
Wenngleich Molekular- und Mikrobiologen aus früheren Untersuchungen von Leichen bisher erst vier Gene des historischen Grippeerregers identifizierten, konnten sie immerhin feststellen, dass es sich beim Erreger der Spanischen Grippe um den Grippetyp H1N1 gehandelt hat, der seinerzeit direkt von Vögeln auf den Menschen übergesprungen sein muss.
Exhumierung soll Geheimnis lüften
Jetzt aber wollen es die Forscher ganz genau wissen. In wenigen Wochen werden Mediziner des Londoner St Bartholomew's-Krankenhauses und Forscher von der Queen Mary's School of Medicine den Leichnam einer 1918 verstorbenen Frau exhumieren, um das Genom des Influenza-Virus möglichst vollständig zu entschlüsseln.
Die Chancen, dass die Molekularbiologen aus dem Körper der an der Spanischen Grippe verstorbenen 20-jährigen Phyllis Burn ein halbwegs intaktes Virus mitsamt Erbgut extrahieren, sind nach Ansicht des Leiters der Untersuchung, Prof. John Oxford, recht gut, da die Verantwortlichen das Grippeopfer seinerzeit aus Angst vor einer weiteren Verbreitung der Seuche in einem luftdichten Bleisarg beisetzten, der zusätzlich in einem Mauergewölbe eingekerkert wurde. "Gelingt es uns, einen gut konservierten Körper eines der Epidemie-Opfer von 1918 zu finden, können wir möglicherweise eine Menge offener Fragen beantworten", vermutet Oxford, der in London noch neun andere Bleisärge mit Influenza-Toten fand.
Aus der Vergangenheit lernen
Derzeit bemüht sich das Forscherteam, noch lebende Verwandte der Toten zu finden, um die Erlaubnis für die Exhumierung einzuholen. Falls dies nicht gelingen sollte, kann aber auch das britische Innenministerium intervenieren und das Vorhaben in eigener Regie gutheißen.
Eine genaue Analyse der genetischen Signatur des Influenza-Virus könnte nach Ansicht der Wissenschaftler dabei helfen, vor künftigen Grippewellen besser gewappnet zu sein. "Die nächste Welle könnte die wirklich große sein", gibt Prof. Oxford zu bedenken. "Es dauert mindestens sechs Monate, um ein neues Impfmittel herzustellen, aber wenn wir herausfinden könnten, wodurch es damals so gefährlich war, könnten wir rechtzeitig einen Vorrat mit den richtigen Medikamenten anlegen."