Informationskrieg über mutmaßliche Nawalny-Vergiftung
Eigentlich müssten nur die in Russland und Deutschland entnommenen Blut- und Urinproben unabhängig geprüft werden. Derweil versinkt die Flaschen-Hypothese des Nawalny-Teams in Fake-News-Dimensionen, während der OPCW-Befund wohl gezielt vage blieb
Alexei Nawalny, der sich als Opfer eines von Wladimir Putin angeordneten Mordanschlags mit Nowitschok sieht, zieht derzeit alle Register, um in den Schlagzeilen zu bleiben. Der Angriff auf Ex-Bundeskanzler Schröder, den er als "Laufbursche Putins, der Mörder schützt", bezeichnete und ihn beschuldigte, "verdeckte Zahlungen" zu erhalten, dient alleine dazu, ihn im Gespräch zu halten. Schröder weist dies zurück und will gegen Bild deswegen rechtlich vorgehen. Er sagte aber auch: "Der Mordversuch an Herrn Navalny mit Gift muss von den zuständigen russischen Behörden transparent untersucht werden." Nawalny macht daraus: "Das heißt, Putins Freund und Vertrauter, der den Vorstand von Rosneft leitet, hat keinen Zweifel daran, dass ich mit Gift vergiftet wurde, und nennt den Vorfall nichts weiter als einen Mordversuch."
Die russische Regierung bzw. Generalstaatsanwaltschaft hat sich in der Tat in eine schwierige Position gebracht und bislang keine Strafermittlung begonnen, es gab nur Vorermittlungen. Der Grund: Es gebe in Russland keine Beweise für eine Vergiftung. Das betonte auch gestern wieder Außenminister Lawrow: "Wir können keinen Fall untersuchen, über den wir keine Fakten haben." Die von Nawalny entnommenen biomedizinischen Proben, so die russische Seite würden auf kein Gift hinweisen, auch auf keine Organophosphate, zu denen auch Nowitschok-Verbindungen gehören. Deswegen gebe es keinen Hinweis auf ein Verbrechen. Das ist formaljuristisch sicher richtig, wenn man unterstellt, dass die in Omsk analysierten Proben tatsächlich keinen Nachweis auf ein Gift zeigen.
Nawalny stellt sich provokativ auf den Standpunkt, dass Russland keine Proben von ihm erhält, die in Berlin genommen wurden, weil sie doch genug in Omsk genommen hätten. Aber es ginge darum, die Proben aus Deutschland und aus Russland zu vergleichen und gleichzeitig noch einmal zu analysieren. Damit könnte man Russland der Lüge überführen und tatsächlich einfordern, dass strafrechtliche Ermittlungen aufgenommen werden müssen. Das aber scheinen weder Nawalny noch die Bundesregierung zu wollen. Nachweisen ließe sich, dass Urin- oder Blutproben von Nawalny stammen, aber ließe sich auch erkennen, ob sie anderweitig manipuliert wurden, um beispielsweise Biomarker zu entfernen. Gibt es Experten, die das für Telepolis aufklären können?
OPCW-Befund lässt viele Fragen offen
Auffällig ist auch, dass die OPCW nur biomedizinische Proben von Nawalny analysiert hat, nicht aber etwa Funde von anderen Gegenständen, beispielsweise der mysteriösen Flasche aus dem Hotelzimmer in Tomsk. Die OPCW spricht in ihrem öffentlichen Bericht auch nicht von einer Vergiftung, worauf John Helmer mit Bezug auf einen britischen Experten hinweist, sondern nur davon, dass er einer toxischen Chemikalie "ausgesetzt" (exposed) war, die "als Cholinesterasehemmer wirkten". Damit lässt die OPCW offen, ob es eine Vergiftung, also ein Mordanschlag war. Überdies wurden nur Biomarker des Cholinesterasehemmers gefunden, die durch die Hydrolyse zurückbleiben, aber nicht der Wirkstoff bzw. das Gift selbst. Es kann durchaus möglich sein, dass viele Cholinesterasehemmer ähnliche Biomarker hinterlassen, diese also recht unspezifisch sind.
Die OPCW gibt lediglich vage an, dass die Biomarker - sind Metabolite gemeint? - oder der Cholinesterasehemmer (?) "ähnliche strukturelle Eigenschaften" besitzt wie zwei Nowitschok-Verbindungen. Wie ähnlich wird nicht gesagt, auch nicht abgrenzend zu anderen Cholinesterasehemmern, zudem wird die "toxische Chemikalie" nicht benannt. Keine Ahnung, was die OPCW in ihrem ausführlichen Bericht sagt, der auch Russland als Mitgliedsstaat zugehen müsste, allerdings vertraulich. Man muss also auf einen Leak warten.
Die Bundesregierung hat erklärt, sie werde sich den detaillierten Bericht anschauen, war aber sofort dabei, den sehr zurückhaltenden OPCW-Bericht in ihrem Sinn zu interpretieren oder Desinformation bzw. strategische Kommunikation zu verbreiten. Die OPCW habe "erneut den zweifelsfreien Nachweis" erbracht, "dass Alexej Nawalny Opfer eines Angriffs mit einem chemischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe geworden ist". Zweifelsfrei heißt "ähnliche strukturelle Eigenschaften" und von Angriff ist nicht die Rede (OPCW: Nawalny wurde mit einem Cholinesterasehemmer vergiftet).
OPCW spätestens seit 2002 unter Verdacht der Parteinahme
Natürlich sind auch in Russland die Maschinen angelaufen, um eine andere Version in Umlauf zu bringen. Wir können nicht wissen, welche Version die richtige ist, da die OPCW vage bleibt und als Institution spätestens seit dem von der US-Regierung betriebenen, auch von Deutschland und den anderen europäischen Staaten unterstützten Hinauswurf des OPCW-Generaldirektors Bustani 2002 im Vorfeld des Irak-Kriegs auch nicht mehr unbedingt als neutral betrachtet werden kann (Abwahl ohne Wahlen).
Bustani war den USA nicht willfährig genug, die bekanntlich den Krieg mit den angeblich im Irak vorhandenen Massenvernichtungswaffen rechtfertigten. Bustani wollte Hussein überzeugen, UN-Inspektoren ins Land zu lassen, was der US-Regierung die Möglichkeit genommen hätte, den Krieg wegen der Massenvernichtungsmitteln anzuzetteln. Das war bekanntlich eine glatte Lüge, eine staatlich fabrizierte Fake News, die dann schon im Trump-Stil auch noch vom damaligen Außenminister Powell im UN-Sicherheitsrat ausgebreitet wurde.
Dazu passt, dass die USA, Großbritannien, Frankreich und ihnen nahestehenden Mitgliedsstaaten am vergangenen Dienstag eine Rede von Bustani zu einem umstrittenen Bericht über einen mutmaßlichen Giftgasangriff in Syrien im UN-Sicherheitsrat verhindert haben ("Die OPCW hat noch die Möglichkeit, sich selbst zu korrigieren"). Symptomatisch war das vielen deutschen Medien keinen Bericht wert.
Die Wasserflaschen und das Nawalny-Team
Interessant ist beispielsweise, dass nach dem russischen Innenministerium es zweifelhaft ist, welche Rolle Maria Pewtschich (Pevchikh) bei Nawalnys Antikorruptionsorganisation FBK spielt. Bei den Mitarbeitern ist sie nicht aufgeführt. Sie soll aber von Anfang an mit dabei gewesen sein, die Ermittlungsarbeit von London aus leiten und eng mit Vladimir Ashurkov, dem FBK-Direktor zusammenarbeiten, der für die Spenden verantwortlich ist.
Vor allem erklärt das Innenministerium, dass Pewtschich keine Wasserflasche bei der Gepäckkontrolle am Tomsker Flugplatz bei sich hatte. Erst nach der Kontrolle habe sie eine gekauft. Das widerspricht den Berichten von Nawalny und Pewtschich, allerdings ist kaum vorstellbar, dass ausgerechnet in einem solchen Fall die Kontrolle der mit Nawalny Mitreisenden zu lax gewesen sei. Es gibt Bilder davon, die zeigen, dass Pewtschich im Flughafen in Nowosibirsk eine Wasserflasche an einem Automaten kaufte, was noch nichts sagt. Aber die Scans von ihrem Gepäck und dem ihres Begleiters Georgy Alburov an der Sicherheitskontrolle zeigen auch keine Wasserflaschen. Ob die Bilder authentisch sind, weiß man natürlich nicht, auch nicht, ob sich die Wasserflaschen am Körper befanden. Aber da dürften sie nicht übersehen worden sein. Mehr dazu bei John Helmer.
Die Bedeutung der angeblich mit Nowitschok kontaminierten und aus Russland geschmuggelten Flasche haben Nawalny und sein Team wieder sehr zurückgefahren. War sie anfangs der Beweis, schon im Hotelzimmer vergiftet worden zu sein, lenkte Nawalny dann den Verdacht auf seine Kleidung, den Bügel oder sonst irgendetwas. Zum Spiegel sagte er, das angebliche Gift auf der Flasche sein harmlos gewesen. Jeder hätte sie berühren können, ohne sich zu schaden. Offen ist schließlich die Tatsache, dass anders als im Skripal-Fall keine einzige andere Person Vergiftungserscheinungen gezeigt hat, auch nicht das FBK-Team oder das Personal, die Nawalny im Flugzeug betreuten und sicher berührt hatten. Das bleibt erklärungsbedüftig.
FSB: "Russland hat die Bestätigung in Form von Proben von biologischem Material Nawalnys"
Am Donnerstag erklärte Sergei Naryshkin, der Chef des russischen Geheimdienstes FSB, dass es im Körper von Nawalny keine toxischen Substanzen gegeben habe, so lange er in Russland war. "Das ist unanfechtbar. Russland hat die Bestätigung in Form von Proben von biologischem Material Nawalnys." Es hätten Nawalny keine Geheimdienstmitarbeiter begleitet, als er sich im Flugzeug nach Berlin und später in Deutschland befand. Er unterstellte Nawalny eine "russophobe Propaganda". Der hatte schon ähnlich dümmlich gegenüber BBC gesagt, Putin, Maria Sacharowa oder Doktor Myasnikov seien keine Russen, sondern Invasoren.
Imagine prospects for world peace, prosperity, & security if Joe Biden were President of the United States & Alexei Navalny the President of Russia. We'll soon be halfway there.
John Brennan, EX-CIA-Chef, gestern in einem Tweet, der misstrauisch machen kann. Kreml-Sprecher Peskow hat behauptet, Nawalny würde mit der CIA und anderen westlichen Geheimdiensten zusammenarbeiten.
Man wird jedoch russischen Geheimdienstchefs ebenso misstrauen wie denen anderer Länder. Naryshkin stützt sich auf die Untersuchungsergebnisse der Notfallklinik, in dem Myasnikov Chefarzt war, der am 24. August während einer Pressekonferenz erklärt hatte, dass man erst einmal von einer Vergiftung ausgegangen war, dann aber Untersuchungsergebnisse von Labors in Tomsk und Moskau, dass keine Gifte oder Produkte von Giften identifiziert werden konnten.
Überdies habe man am 21. August den in Omsk anwesenden deutschen Ärzten um 23 Uhr die Genehmigung erteilt, Nawalny nach Deutschland zu fliegen. Die seien dem aber erst am nächsten Tag um 8 Uhr nachgekommen. Daraus könnte man schließen, dass der Zustand tatsächlich nicht so ernst gewesen ist, wie er manchmal beschrieben wurde, und dass die deutschen Ärzte ihren Teil dazu beigetragen hätten, dass die Spuren des Gifts nicht mehr nachweisbar sind. Das wurde den russischen Ärzten unterstellt, obgleich dann doch "zweifelsfrei" Nowitschok nachgewiesen worden sein soll.
Verdächtig mag sein, dass gestern bekannt wurde, dass Myasnikov befördert wurde. Er ist jetzt Chef des Stadtkrankenhauses Nr.1 in Omsk.
Und während Russland immer vorgeworfen wird, keine Ermittlungen durchzuführen, beschwert sich das dafür zuständige Regionalbüro des Innenministeriums, dass sich Nawalnys Mitarbeiter, die ihn auf seiner Reise begleitet haben, weigern, Anfragen zu beantworten, beispielsweise was sie in dem Hotelzimmer machten, warum sie mögliche Beweisgegenstände wie die Wasserflaschen entfernten und wie sie diese transportiert hatten. Insbesondere wisse man nicht, wo sich Pewtschich aufhält, die sich in Omsk geweigert hatte, Fragen zu beantworten und sich angeblich seitdem entzieht. Sie sagte hingegen, man könne sie doch gut über ihr Handy an jedem Ort erreichen.
Eine wirkliche Nebelkerze dürfte sein, dass angeblich eine Bombendrohung gegen den Flugplatz Omsk eingegangen sei, um die Notlandung des Flugzeugs, in dem sich Nawalny befand, zu verhindern. Die sei von einem deutschen Server gekommen.
Was hat das schwedische Militärlabor herausgefunden?
Nach einem Informationsfreiheitsgesuch wurden jetzt Teile der Analyseergebnisse des schwedischen Militärlabors bekannt, das auf Wunsch der Bundesregierung Proben von Nawalny untersucht hat - wenn es sich nicht um eine Fälschung handelt, John Helmer weist auf einige Seltsamkeiten hin. Danach wurden zwei Blutproben am 5. September entnommen, am 4. September war FOI (Swedisch Defense Research Agency) darum gebeten worden. Am 6. September hat die OPCW Proben genommen.
Das Blutplasma wurden vom schwedischen Militärlabor verschiedenen Prozeduren unterzogen, die aber nur teilweise nicht geschwärzt wurden. Besonders spannend ist das Ergebnis. Bis auf den Satzteil "Die Anwesenheit … wurde im Blut des Patienten bestätigt." Das ist die Transparenz, die von Russland gefordert wird. Wieder einmal wenden wir uns an Experten, die uns erklären können, was das schwedische Militärlabor anhand der nicht geschwärzten Textteile gemacht hat.