Ingenieure als Leiharbeiter

Auch hochqualifizierte Berufe bekommen die Folgen der Arbeitsmarktreformen zu spüren

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In Deutschland gibt es rund 7,5 Millionen Menschen, die von der Bundesagentur für Arbeit als "geringfügig entlohnte Beschäftigte" eingestuft. Die Zahl der Leiharbeiter ist in den letzten zehn Jahren um 178 Prozent gestiegen und liegt mittlerweile bei gut 900.000. Und seit für die Zeitarbeitsbranche ein Mindestlohn diskutiert und beschlossen wurde, steigt das Interesse an Werkverträgen und anderen, noch nicht gesetzlich reglementierten Ausgliederungen aller Art.

Ingenieure, IT-Experten und Techniker dürften von all diesen einschneidenden Konsequenzen des deregulierten Arbeitsmarkts kaum betroffen sein. Denn sie gehören zu den Hochqualifizierten, Besserbezahlten und sind überdies die Hauptakteure im bizarren Planspiel eines vermeintlichen Fachkräftemangels. Eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI), die auf der Auswertung von knapp 30.000 Datensätzen beruht, zeigt allerdings: Die Zeiten haben sich auch hier geändert.

Einkommensgefälle bei Hochqualifizierten

Die Autoren Reinhard Bispinck und Evelyn Stoll untersuchten Berufsgruppen, die nicht unbedingt mit den Problembezirken des deutschen Arbeitsmarkts in Verbindung gebracht werden. Ihnen ging es um Ingenieure der Fachrichtungen Maschinenbau-, Elektrotechnik-, Bau-, Software- und Wirtschaftsingenieure, um IT-Berater, Systemadministratoren, Programmierer und Informatiker sowie um Maschinenbau- und Elektrotechniker.

Tatsächlich kommen alle Berufsgruppen auf ein durchschnittliches Brutto-Monatseinkommen, das deutlich über der Schmerzgrenze des Lebensunterhalts liegt. 4.656 Euro gibt es für die Ingenieure, 3.826 für IT-Experten und die Techniker kommen immerhin noch auf 3.572 Euro.

Für die knapp 10 Prozent, die nicht als Stammkräfte beschäftigt sind, stellt sich die Lage anders dar – insbesondere, wenn sie ihr Geld als Leiharbeiter verdienen oder in Fremdfirmen entsandt werden. Diese Beschäftigten arbeiten vielfach für Unternehmen, die als Entwicklungs- oder neudeutsch "Engineering-Dienstleister" tätig sind und sich auf Dienstleistungen spezialisiert haben, die in Form von Werkverträgen erbracht werden.

Das Einkommensgefälle, das Leiharbeiter und endsandte Beschäftige von der Stammbelegschaft trennt, ist gravierend. IT-Experten verdienen als Leiharbeiter 22,1 Prozent (841 Euro) weniger, Techniker müssen auf 18,5 Prozent (664 Euro) verzichten, Ingenieure machen Abstriche in Höhe von 18,4 Prozent (865 Euro).

Auch bei Fachkräften, die in Fremdfirmen entsandt werden, bleibt oft weniger im Portemonnaie. Der Unterschied beträgt 7,1 Prozent oder 332 Euro (Ingenieure) und 3,9 Prozent oder 141 Euro (Techniker). Nur die endsandten IT-Experten verdienen 3,8 Prozent oder 144 Euro mehr als die regulär Beschäftigten.

Auch in Sachen Tarifbindung, Arbeitszeit und Befristung der Arbeitsverhältnisse sind Leiharbeiter und endsandte Beschäftige oft benachteiligt. So werden 25,7 Prozent der leiharbeitenden IT-Experten lediglich befristet beschäftigt. Innerhalb der Betriebe liegt dieser Wert nur bei 8,6 Prozent.

Sonderzahlungen

Hochqualifizierte Arbeitskräfte kommen mitunter in den Genuss von Sonderzuwendungen, von denen Geringverdiener allenfalls träumen dürfen. Doch auch auf der Bonus-Ebene gibt es erhebliche Differenzen. Wer in einer Fremdfirma arbeitet, kann unter Umständen sogar mit einer höheren Gewinnbeteiligung oder großzügigeren Sonderzahlungen rechnen als die regulär Beschäftigten.

Leiharbeiter liegen in allen Vergleichspunkten und Berufsgruppen unter den Durchschnittswerten der Stammkräfte. Beim Weihnachts- und Urlaubsgeld sind die Unterschiede vergleichsweise überschaubar. Bei der Gewinnbeteiligung und außerordentlichen Sonderzahlungen klafft die Schere dann weit auseinander.

33,3 Prozent der Ingenieure, die in der eigenen Firma arbeiten, sind am Gewinn ihres Unternehmens beteiligt. Das gilt nur für 8,5 der Ingenieure, die in der Leih- oder Zeitarbeit beschäftigt sind.

"Make or buy"

Auch hochqualifizierte Besserverdienende geraten in den Abwärtsstrudel des deregulierten Arbeitsmarkts. In weiten Teilen der Wirtschaft sieht man trotzdem keinen Handlungsbedarf. Die "Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V.", die 108 bayerische Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände sowie 34 Einzelunternehmen vertritt, legte Anfang des Jahres eine neues Positionspapier, in dem unsichere Beschäftigungsverhältnisse einmal mehr als "flexible Personalpolitik" interpretiert werden.

Neben Instrumenten wie Teilzeit- und Zeitarbeit oder befristeter Beschäftigung sind Werk- und Dienstverträge zusätzlich ein Baustein für eine flexible Personalpolitik.

Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft

Aktivitäten des Gesetzgebers, die in die freie unternehmerische Entscheidung eingreifen, lehnt (nicht nur) dieser Verband kategorisch ab.

Die Entscheidung, ob Wertschöpfung im eigenen Unternehmen erfolgt oder ganz oder in Teilen unter Rückgriff auf Werk- und Dienstverträge gestützt wird, ist Teil der freien unternehmerischen Entscheidung "make or buy". Dies ist ebenso wenig zu regulieren, wie die Frage in welchem Umfang ein Unternehmen am Markt tätig sein will.

vbw Positionspapier: Werk- und Dienstverträge erhalten

Der achselzuckende Blick auf die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen kontrastiert in seltsamer Weise mit dem Mantra des Fachkräftemangels, das Arbeitgeberverbände von Jahr zu Jahr aufwendiger inszenieren. Mit freundlicher Unterstützung der Bundesagentur für Arbeit, deren Vorstand Frank Jürgen Weise am Wochenende erneut Alarm schlug.

Der Fachkräftemangel verschärft sich permanent. Offene Stellen sind immer länger unbesetzt. Ich sehe auch einen latenten Personalbedarf. Wenn eine Firma wachsen und hierzulande einen neuen Produktionsstandort eröffnen will, dann ist eine der ersten Fragen: Finden wir in Deutschland die richtigen Leute dafür? Wenn die Firma die Frage für sich mit Nein beantwortet und den Standort lieber anderswo ansiedelt, dann kriegen wir davon überhaupt nichts mit. Da sehe ich eine Gefahr. Daher sage ich offensiv: Wir werden alles tun, um den Fachkräftebedarf zu decken.

Frank Jürgen Weise

Alles ist offenbar nicht genug. Eine Anfang Februar veröffentlichte OECD-Studie zeigt, dass deutsche Unternehmer kaum von der Möglichkeit Gebrauch machen, dem angeblichen Fachkräftemangel durch die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer entgegenzuwirken. Die Anzahl der Arbeitsmigranten aus Nicht-EU-Ländern und Mitgliedsstaaten der Europäischen Freihandelsregion EFTA beläuft sich demnach auf gerade einmal 25.000 pro Jahr. Australien, Dänemark, Kanada oder Großbritannien werben nach OECD-Berechnungen fünf bis zehnmal so viele ausländische Arbeitskräfte an.

Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), widersprach der These vom nahen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft infolge eines nicht mehr zu deckenden Fachkräftemangels schon vor knapp einem Jahr. Brenke wandte sich insbesondere gegen die inflationären Negativ-Prognosen des Vereins Deutscher Ingenieure, auf dessen Homepage sich mittlerweile über 100 Beiträge zum Thema Fachkräftemangel angesammelt haben.

In den letzten Jahren hat es einen regelrechten Run auf ingenieurwissenschaftliche Studienplätze gegeben. Allein die Absolventen, die gegenwärtig aus den Unis kommen, können den Gesamtbedarf an Ingenieuren decken.

Karl Brenke, DIW Berlin

Doch Brenke ging noch einen Schritt weiter: "Der Berufseinstieg kann für junge Ingenieure zunehmend schwierig werden, wenn es eine Absolventenschwemme gibt", meinte der Arbeitsmarktforscher. Eine Teilbeobachtung der WSI-Studie scheint diese Prognose zu bestätigen. 48 Prozent der Ingenieure, IT-Experten und Techniker, die als Leiharbeiter beschäftigt sind, haben weniger als fünf Jahre Berufserfahrung. Dabei hätte der Fachkräftemangel sie doch eigentlich auf dem schnellsten Weg in ein unbefristetes, hoch dotiertes Beschäftigungsverhältnis führen müssen.

Statistische Daten nicht erwünscht

Die WSI-Studie basiert auf einer Online-Umfrage des Portals lohnspiegel.de. Eine statistische Aufbereitung des Themas in sehr viel größerem Maßstab wäre wünschenswert und notwendig, doch darauf wird man wohl noch einige Zeit warten müssen. Mitte Februar lehnte der Bundestags-Ausschuss für Arbeit und Soziales einen Antrag der Linkspartei ab, der eine gesetzliche Meldepflicht für Werkverträge, Leiharbeitsbeschäftigte und Honorarverträge vorsah.

Die Linken gingen bei ihrem Vorstoß nicht von Ingenieuren, IT-Experten und Technikern, sondern von Beschäftigten auf Schlachthöfen aus, die möglicherweise zu 90 Prozent im Rahmen von Werkverträgen arbeiten und so die Stammbelegschaft ersetzen sollen. Ein Thema, das übrigens schon vor zehn Jahren für Unmut sorgte (Wie im Lager).

Verlässliche Zahlen wären für Besser- und Geringverdiener nützlich, doch CDU und FDP lehnten den Antrag als "Diffamierung der Werkverträge zur Gänze" ab. Es gebe diese Vertragsform bereits seit mehr als 100 Jahren, hieß es aus den Reihen der Regierungskoalitionäre, die aber wohl wussten, dass die kleine Oppositionspartei nicht über alte Handwerkstraditionen, sondern über aktuellen Missbrauch und neuzeitliche Ausbeutung reden wollte.

Doch auch Rot-Grün ging die linke Initiative zu weit. Beide enthielten sich – die SPD-Vertreterin wollte mit dieser Haltung allen Ernstes eine "insgesamt gute Idee" honorieren. Immerhin scheinen Purpur-Rote und Grüne die Brisanz des Themas erkannt zu haben. Ein eigener SPD-Antrag beschäftigt sich nun mit der Eindämmung des Missbrauchs von Werkverträgen, der sogar der Bundeskanzlerin mittlerweile aufgefallen ist.

Hier werden wir in Zukunft ein Auge drauf haben müssen, weil immer öfter auch Werkverträge ein Umgehungstatbestand sein können für vernünftige tarifvertragliche Abmachungen.

Angela Merkel, 15.01.2013

Während die Kanzlerin "ein Auge drauf hat", kündigt Arbeitsministerin Ursula von der Leyen bessere Kontrollen an. Auch die FDP will die "wenigen negativen Fälle" künftig im Blick halten.

"Wunderwaffe Werkvertrag"

Dass sich die Mandatsträger nicht auf ein mehrheitsfähiges und effektives Vorgehen einigen können, gereicht anderen zum Vorteil. Ein Seminarangebot mit dem aufmunternden Titel "Wunderwaffe Werkvertrag" richtet sich an Unternehmen, für die das Modell Zeitarbeit nach Einführung des Mindestlohns nicht mehr attraktiv ist. Das "Praxisseminar", das am 24. April 2013 in Frankfurt stattfindet, widmet sich stattdessen der "Wunderwaffe Werkvertrag". Mit ihr eröffnen sich nach Angaben der Veranstalter neue Wege, "Fremdpersonal zu geringen Kosten einzusetzen". Aber offenbar wissen (noch) nicht alle Arbeitgeber damit umzugehen.

Doch bei dieser "Wunderwaffe" gibt es viele juristische Fallstricke, die schnell die erhofften Einsparungspotentiale aufzehren und damit zum "Bumerang" beim Einsatz von Fremdpersonal werden können. In dem Seminar werden Ihnen die unterschiedlichen Modelle des Fremdpersonaleinsatzes dargestellt und Chancen und Risiken praxisnah und umfassend diskutiert. Sie erhalten vom Referenten Lösungsansätze für die rechtssichere Gestaltung von Werkverträgen sowie Musterverträge.

Seminarankündigung: FORUM - Institut für Management GmbH

Die Teilnehmergebühr beträgt 960 Euro. Zuzüglich Mehrwertsteuer.