Inside AOL

Haftnotiz statt Email

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In Sterling, Virginia, unweit von Washington, wird an der Zukunft des Internet gearbeitet. Ein Kaff im Nirgendwo beherbergt die Zentrale. Ein pyramidenartiger Terrassenbau aus Stahl und Glas mit etlichen Nebengebäuden schafft Platz für all die Presidents, die Senior Presidents, die Vice-Presidents, eine Hundertschaft von Directors für dies und jenes sowie für normale Mitarbeiter.

Die erste Hürde ist der Erhalt eines Security-Badges, einer Türöffnerkarte und einem Namensschild. "Visitor" ist die einfachste Zutrittsart, bei der man ständig vor verschlossener Türe stehen muss. Man sollte sich zudem beeilen seine "Destination" zu erreichen, denn so nach 12 Stunden färbt sich das Besucherschild ein und zeigt ein großes "Expired" in roten Lettern, was ziemlich sicher zu einer freundlichen Wegweisung in Richtung eines der Ausgänge führt. Mein Badget ist da schon besser, es öffnet mehr Türen und gilt auch morgen noch.

Im Aufzug wird man eingeschworen. Das Mission-Statement als allgegenwärtiger Begleiter: Wir machen AOL so populär wie Radio und Fernsehen, ..."and even more". Bescheidenheit hat der größte Onlinedienst der Welt schließlich auch nicht nötig. Recht so!

Wer suchet der findet. Zum Beispiel CC-One und CC-Two. Das sind nicht etwa die Hausroboter, sondern die beiden Creative-Center. Endlich ist unsere Bezugsperson gefunden. Jim ist Director, wobei ein Director nicht unbedingt wirklich wichtig ist. Schließlich ist er ja nur Director. Und auch so ein Director sitzt in einem Cubicle, so wie fast alle Mitarbeiter in einem Cubicle sitzen. Die mobilen Trennwände sind nur 1,50 hoch, zäunen 8 Quadratmeter Arbeitsraum ohne Tür ein. Das nächste Fenster auf einer Großetage ist immer weit weg. Das hat Vorteile: Optimales künstliches Licht, keine unnötige Ablenkung durch Schönwetterlagen, bessere Monitorlesbarkeit. "I will get a window place quite soon!", gibt sich Jim optimistisch.

Wer Licht sucht, sollte häufig zu Meetings gehen. Die Konferenzräume sind befenstert, ja lichtdurchflutet. Eigentlich geht man immer und fortwährend zu Meetings, an denen mehrere Abteilungen mitwirken. Da entwerfen die Mitarbeiter die Technik und die Features von morgen. All diese Ideen werden gesammelt und stetig schwirrt die Frage durch den Raum, wer wohl in der Lage ist, technische Details zu prüfen, damit diese Visionen auch Realität werden können. Ein Anruf in der Netzwork-Division hilft, denn eine genaue Antwort kann bereits in 4-6 Wochen vorliegen.

Ebenfalls im Creative-Center findet man die Programmierabteilung. Die Hackerhochburg ist irgendwie eine andere Welt. Man bemerkt es sofort, denn die Cubicles haben Wände bis zur Decke und sogar eine abschließbare Türe! Zwei Programmierer, 4 Rechner, 9 Quadratmeter, da bekommt das Wort Zusammenarbeit eine ganz neue Bedeutungsdimension. Das zeitgleiche Zurücklehnen im Bürostuhl beinhaltet durchaus die Gefahr eines Zusammenstoßes der Stuhllehnen - oder schlimmer- der kostbaren Köpfe. Doch zum Zurücklehnen ist man ja schließlich nicht bei AOL.

Im eigenen Cubicle prangt ein Netzwerkanschluss an der Wand. Einstöpseln und sofort mit AOL ins Netz - herrlich. Der Instant-Messanger und das Emailprogramm üben die friedliche Koexistenz auf dem Desktop. Brian, Nick und Christin sind online, sagt die Buddyliste. Auf Instant Messages reagiert bloß kaum jemand. Online in der Cafeteria? Die normale nicht IP-basierte Telefonanlage versteht niemand so recht und die internen Rufnummern führen eher selten zum gewünschten Gesprächspartner. Stattdessen kann das Besteigen des Schreibtisches eine sinnvolle Methode zur innerbetrieblichen Kontaktaufnahme sein: Cubicles sind halt toll.

Zur Kontaktaufnahme in andere Etagen hilft hingegen nur eine Email. Die Anfrage an Jims Sekretärin, ob denn die Hotelreservierung geklappt hätte, blieb an diesem Tag ohne Antwort. Doch am nächsten Morgen durfte ich am bahnbrechenden Fortschritt der zeitgenössischen Kommunikationstechnik teilhaben: Eine knallgelbe Haftnotiz hängt an meinem Cubicle: "Hotel is okay! S."

Schnell noch ein Meeting um 10 Uhr. Fein vorbereitet warte ich vor dem Konferenzraum, doch niemand ist da: "What are you waitin for? The meeting is cancelled for today, didnŽt you know?" Ob da eine Haftnotiz nicht fest genug geklebt hat?

Der AOL-Merchandising-Shop spendet Trost. Eine Netscape-Kappe für 12 Dollar ist an einem solchen Tag genau das richtige, oder?