Internationales Insolvenzverfahren
Die NGO erlassjahr.de fordert eine "systemische Lösung" für verschuldete Länder
Als Insolvenz bezeichnet man eine Situation, in der eine natürliche oder juristische Person seine Gläubiger nicht mehr bedienen kann. Meldet ein Unternehmen Insolvenz an, dann soll ein darauf folgendes Insolvenzverfahren entweder dessen Zahlungsfähigkeit restaurieren oder das verbliebene Vermögen an die Gläubiger verteilen. Während juristische Personen nach solch einer Verwertung der Insolvenzmasse im Regelfall aufgelöst werden, gelten für Privatinsolvenzen von Land zu Land unterschiedliche Fristen, nach deren Ablauf die zahlungsunfähigen Schuldner als schuldenfrei gelten. Die Gläubiger gehen in solchen Fällen leer aus.
Auch Staaten geraten immer wieder in Situationen, in denen sie Zinsen nicht mehr bezahlen oder Schulden nicht mehr tilgen können. Da die Schulden häufig in Fremdwährungen aufgenommen wurden, eignen sich Inflationen (abgesehen von ihren extrem negativen Folgen für Wirtschaft und Bevölkerung) nur sehr bedingt zur Lösung solch einer Nationalinsolvenz. In den letzten 30 Jahren versuchte man solche Situationen dadurch zu lösen, dass der Weltwährungsfonds mit neuen Krediten einsprang, dafür aber die betroffenen Länder zu umfassenden Privatisierungen verpflichtete.
Allerdings stellte sich heraus, dass die Privatisierung natürlicher Monopole ein sehr bestechungsanfälliges Geschäft war, das aufgrund mangelnden Wettbewerbs mittelfristig ausgesprochen negative Auswirkungen auf die Infrastrukturen der betroffenen Staaten hatte. Und so gerieten gerade Länder wie Argentinien, Bolivien oder Indonesien, welche die Auflagen des Internationalen Währungsfonds besonders brav erfüllten, in wirtschaftliche Schwierigkeiten, während sich China, Vietnam und Botswana, die sich nicht den vom IWF als "Kur" verordneten Privatisierungsforderungen unterwarfen, wirtschaftlich wesentlich besser entwickelten.
Nun fordert die NGO erlassjahr.de die Einführung eines "Fair and Transparent Arbitration Process" (FTAP), eines Schiedsverfahrens, das bei zukünftigen Liquiditätskrisen die Verhandlungen mit einzelnen Ländern ersetzen und "tragbare Lösungen für alle beteiligten Parteien" herstellen soll. Nach Ansicht der NGO brächte solch ein "internationales Insolvenzverfahren" sowohl Schuldnern als auch Gläubigern Vorteile: Erstere erhielten die Chance auf einen "schuldenfreien Neuanfang" und letztere würden zu einer "verantwortlichen Kreditvergabe" motiviert.
Das, was in jüngster Zeit über Island, Griechenland und andere Länder bekannt wurde, zeigt erlassjahr.de zufolge, dass "Zahlungsunfähigkeit von Staaten kein Zustand mehr [ist], der sich nur auf den globalen Süden begrenzt". Als Beleg dafür zieht die Organisation auch den von ihr herausgegebenen Schuldenreport 2010 heran, eine "Landkarte der Verschuldung", aus der dem politischen Koordinator Jürgen Kaiser zufolge hervorgeht, dass es weltweit mindestens 23 "Insolvenz-Kandidaten" gibt - darunter acht europäische Staaten.
Mit der Forderung nach einer internationalen Insolvenzordnung steht erlassjahr.de nicht alleine: Auch der von CDU, CSU und FDP geschlossenen Koalitionsvertrag kündigt unter dem Punkt "Entwicklungszusammenarbeit" an, dass sich die Bundesregierung für die "Implementierung einer internationalen Insolvenzordnung" einsetzen will.
Solch ein internationales Insolvenzverfahren könnte - je nachdem, wie es im Detail ausgestaltet ist - ganz unterschiedliche Auswirkungen haben. Würden beispielsweise Forderungen nach einer Prüfung der Legitimität von Schulden berücksichtigt, dann könnten solche, die von Diktatoren gemacht wurden (und häufig nicht Landes-, sondern Partikularinteressen dienten), in der Befriedigungsrangfolge einen Malus bekommen, so dass Gläubiger leer ausgehen. Dadurch würden Anreize gesetzt werden, dass Banken bei der Kreditvergabe zukünftig stärker berücksichtigen, ob es sich bei ihren Kunden um legitime Regierungen handelt und wie sie das geliehene Geld einsetzen.
Andererseits lassen sich auch an Geschäftsinsolvenzen orientierte Regelungen denken, die für die Bevölkerung in den betroffenen Staaten negative Folgen haben könnten. Eine Übergabe natürlicher Monopole an Gläubiger beispielsweise hätte ohne ausreichende Simulation von Wettbewerbseffekten über Regulierungsbehörden zur Folge, dass Gebühren in praktisch beliebiger Höhe als Quasi-Steuern erhoben werden könnten, was vor allem bei nicht oder nur schlecht umgehbaren Schlüsselleistungen wie Wasser, Energie und Verkehr problematisch wäre.
Eine andere Forderung, die bei den Verhandlungen um ein internationales Insolvenzverfahren laut werden könnte, ist die nach Gebietsabtretungen. Der mit einem Wechsel der Staatszugehörigkeit verbundene An- und Verkauf von Territorien war in der Vergangenheit nicht ungewöhnlich. Die USA etwa kauften sechs ihrer Bundesstaaten ganz und neuen weitere teilweise von Frankreich, Mexiko und Russland. Allerdings zeigt die Geschichte auch, dass solchen Transfers nicht unbedingt im Interesse der in den betroffenen Arealen ansässigen Bevölkerung liegen. Zudem würden sie potenziell mit Selbstbestimmungs- und anderen Menschenrechten kollidieren. Eher denkbar wären deshalb Geschäfte, wie sie in jüngster Zeit einige afrikanische Länder mit asiatischen Investoren abschlossen: Danach verbleiben die Landflächen zwar im Staatsgebiet des Verkäufers, werden aber vom Käufer bewirtschaftet.