Internet und die Belgrader Studentenproteste

Von den "anderen Medien".

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das tagesaktuelle politische Geschehen, so haben wir als brave Medienkonsumenten gelernt, wird journalistisch in den Tageszeitungen, politischen Wochenmagazinen und in den Fernsehnachrichten abgearbeitet. Dort werken professionelle Journalisten. Sie sind ausgebildet, verfügen über weitgespannte Korrespondentennetze, modernste technische Hilfsmittel und sind dem Pressegesetz und der politischen Moral der Objektivität verpflichtet. Sie füttern unsere Nachrichtenmägen mit dem Brei der täglichen Anteilnahme am Weltgeschehen.

Im Internet werden wir jedoch plötzlich mit ganz anderen Nachrichten konfrontiert. In Mailinglists, Newsgroups und Bulletin Board Systems (die schwarzen Bretter der Mailbox-Kommunikationssysteme) begegnen uns Texte von direkt Betroffenen, von Einzelpersonen und Vertretern von NGOŽs. Sie kommen direkt zur Sache und schreiben frisch von der Leber weg. Der internationale Kontext und die diplomatische Rücksichtnahme auf die Interessen der eigenen Regierung oder der Anzeigenkundschaft, wie sie den Zeitungs- und Fernsehjournalismus leider nur allzuoft kennzeichnen, spielen bei diesen Meldungen keine Rolle. Stattdessen wird Betroffenheit direkt spürbar, die Verletzlichkeit von Körpern, die in gefährlichen Zonen der Bedrohung direkt ausgesetzt sind, wird in Sprache umgesetzt.

Man kann derartige Berichte nun als naiv abtun. Lokalität ist eben nur eine Lupe, im Vergleich zum Fernglas der international agierenden Berufsjournalisten. Und über die Lupe kann eben auch die Sicht auf den Kontext ausgeblendet werden. Also brauchen wir sie eben doch, die relativierende, objektivierende Sicht der Profis?

Doch das ist heute nicht der Punkt. Die Sichtweise von dpa, Reuters, AP usw. kennen wir nun schon seit dem Ende von Weltkrieg Zwo. Doch das Internet ist noch relativ neu und neu ist damit die Möglichkeit, sich direkt an den Quellen zu informieren. Manche werden das als Gefahr begreifen, in einem Chaos nicht evaluierter und nicht faktisch durchgechekter Berichte unterzugehen. Ebenso könnte es aber auch wahr sein, daß wir, indem wir beginnen, uns diesen "anderen", nichtprofessionellen Medien zuzuwenden, auch eine andere Sichtweise entwickeln. Daß durch die subjektive Sichtweise plötzlich die Menschen hinter den Nachrichten sichtbar werden und dadurch auch die Möglichkeit, Brücken menschlicher Solidarität aufzubauen.

Bei den seit mehr als 3 Monaten andauernden Protesten in Belgrad hat das Internet von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt. Als der unabhängige Belgrader Sender B92 von der Schließung bedroht war, hat er im Netz weitergesendet und weltweit Unterstützungsaufrufe versandt. Nicht zuletzt dadurch konnte internationaler Druck aufgebaut werden, der den willkürlichen Lizenzentzug für den Sender verhinderte. Seither sorgt die WebSite von B92 bei XS4ALL für kontinuierlichen Informationsfluß aus Belgrad. Zur besonderen Freude von RealAudio-Fans können hier auch Live-Streams des Programms in englischer Sprache empfangen werden.

Auch in Serbien selbst ist es inzwischen gelungen, eine eigene WebSite für die Protestbewegung zu etablieren. Die Site ist informativ, bietet Texte in englischer Sprache und ist obendrein grafisch ausgesprochen gut gestaltet.

Wer es noch ein wenig avantgardistischer haben möchte, ist mit dieser WebSite bestens bedient. Sie zeigt eine kritische Parodie des serbischen Staatsfernsehens RTVSRB. Auf der Homepage prangt der Satz, "ich sehe TV Nachrichten an und habe nun begonnen, mich unter Drogen zu setzen". Politische Antipropaganda wird hier mit dem Konzept des ästhetischen Terrorismus, wie es Hakim Bey in der TAZ (Temporary Autonomous Zone) präsentiert hat, effektvoll kombiniert. Der Ausgangspunkt für diese Site scheint zu sein, daß im Medienzeitalter die pure Nachricht allein nicht mehr genügt. Ebenso wie die auf uns einprasselnden Botschaften der Werbung und des Non-Stop-Clip-Fernsehens muß sich auch die politische Botschaft durch den Einsatz neuester ästhetischer Techniken Raum im Bewußtsein der "Empfänger" verschaffen. Passenderweise ist diese WebSite anonym, das heißt ein "Domain Name", wie bei einer "normalen" Web-Adresse üblich, wird nicht angegeben, nur die IP-Adresse. Doch der Browser-Software ist das egal.

Vor etwas mehr als einer Woche erreichte uns über die Mailing List Nettime der folgende Text. Telepolis publiziert diesen Text in voller Länge und in deutscher Übersetzung, weil er den Unterschied zu den professionellen Nachrichten überzeugend dokumentiert. Hier schwingt etwas mit, was sonst nur in wenigen Momenten der Mediengeschichte zu spüren ist, etwa in jenen letzten Radiobotschaften, die zur Zeit des Prager Frühlings zu uns drangen, als die Soviettruppen einmarschierten und schon im Begriff waren, den Sender zu besetzen.

Subject: nettime: URGENT: Police atack in Belgrade Date: Mon, 03 Feb 1997 00:50:26 +0100 From: Novica Milic

Liebe Freunde,

Heute nacht um 11.30 Uhr (Ortszeit) haben mehrere tausend Polizisten die Belgrader Demonstranten angegriffen. Ich komme soeben aus der Stadt zurück und als Augenzeuge kann ich folgendes sagen:

Vor der "Branko"-Brücke wurden wir länger als zwei Stunden aufgehalten. 10-15.000 Leute befanden sich auf der anderen Seite der Brücke, doch die Polizei blockierte die Brücke von beiden Seiten und erlaubte es ihnen nicht, sich mit uns zusammenzutun. Auf unserer Seite der Brücke befanden sich zunächst 35- 40.000 Menschen, doch viele verließen den Ort. Als nur mehr 4-5000 Menschen übriggeblieben waren, und als es klar wurde, daß starke Polizeieinheiten uns einzukreisen begannen, sprach der Oppositionsführer Vuk Draskovic zu uns und forderte uns auf, ins Stadtzentrum zu gehen. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt den Eindruck, daß sie uns in 5 bis 10 Minuten angreifen würden. So begannen wir also, in Richtung Zentrum zu gehen. Innerhalb einer Minute griff uns dann die Polizei von allen Seiten zugleich an, mit Wasserwerfern und Tränengas. Es gab KEINE Provokationen von unserer Seite und es gab KEINEN einzigen Grund für die Polizei, uns anzugreifen! Wir begannen uns zurückzuziehen und zu laufen, doch die Polizeieinheiten verfolgten die Menschen und schlugen alle brutal zusammen, die sie einfangen konnten - alte Frauen, Kinder -, sie schlugen auf alle ohne Unterschied ein.

Ein Taxifahrer nahm meine Frau und mich auf und brachte uns nach Hause. Jetzt höre ich die beiden unabhängigen Radiosender, die es hier gibt, (B92 und Radio Index): Mehrere tausend Polizisten sind in den Straßen des Zentrums von Belgrad unterwegs und schlagen dort alle zusammen. Die Leute versuchen zu flüchten, und im Moment ist die Lage im Umkreis der Fakultät für Philosophie besonders gefährlich, wo viele Menschen Schutz gefunden haben. Die letzten Nachrichten besagen, daß die Polizisten in die Fakultät eingedrungen sind, mehrere Leute verprügelt und sehr viele eingesperrt haben. Hunderte Menschen sind verletzt. Auch viele Kameraleute wurden angegriffen.

In einem dramatischen Interview hat Vuk Draskovic soeben gesagt, daß die Polizei auf ihn geschossen habe, es ihm aber irgendwie gelungen sei zu entkommen. Er sagte auch, daß das regime die Anweisung gegeben habe, ihn diese Nacht noch zu ermorden. Auch die große Dame der Opposition, die Leiterin der pazifistischen "Zivilen Liga für Serbien", Vesna Pesic, ist verletzt. Zum Zeitpunkt, als ich diese Zeilen schreibe, gehen die Polizeiaktionen immer noch weiter.

Bitte helft uns, indem ihr alle Menschen im Netz über diese fürchterliche Nacht in Belgrad informiert.

Wir werden ohne Zweifel weiter für unsere Freiheit und unsere Rechte kämpfen! Sie können uns einsperren, aber sie können niemals gewinnen, ganz egal was passiert!

Euer Novica Milic

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