Inventar ade
In "Sunrise" erkundet der Spieler ein menschenleeres New York - ohne volle Taschen
Wie wäre es wohl, der einzige Mensch auf Erden zu sein? Schriftsteller Richard Matheson hat dieses Motiv in seinem Roman „I am Legend“ (1954) aufgegriffen. Wie es sich in die Form eines Films gießen lässt, ist zurzeit im gleichnamigen Kinostreifen mit Will Smith zu sehen. Das Computerspiel Sunrise behandelt das Motiv ebenfalls.
Gesetze regeln unseren Alltag. Was aber, wenn mit einem Mal alle Menschen in der Stadt, in der man sich gerade befindet, wie vom Erdboden verschluckt sind? Dann spielen die Rahmenbedingungen plötzlich keine Rolle mehr und es heißt „Leck mich am A…!“. Doch so ganz ohne Moral geht es dann auch wieder nicht, wie der Protagonist des Point-and-Click-Adventures (für Windows XP/Vista) beweist.
Der Held heißt Rydec und muss für seine beiden Kollegen Brian und Max unterschiedliche Sachen erledigen: Brian benötigt ein Notebook, Max hat Hunger. Nun ist es jedoch tatsächlich so wie eingangs beschrieben: Die Stadt, bei der es sich wie im Kinofilm um New York handelt, ist wie leer gefegt. Nur gut, dass wenigstens noch überall Strom fließt. Andernfalls wäre es richtig finster und man fühle sich vielleicht gleich wie im Örtchen Silent Hill.
Schuld an der Situation ist offensichtlich ein Experiment des Trios. Denn der Versuch, mittels einer selbst gebastelten Apparatur einen Blumentopf von A nach B zu beamen, scheiterte mit einem mächtigen Knall. Kurz darauf war plötzlich keine Menschenseele mehr zu sehen. Außerdem geschah dies abends. Daher sind jetzt alle Geschäfte geschlossen. Also muss Rydec zu illegalen Mitteln greifen, um seine Besorgungen zu machen…
Dem Genre gemäß hat der Spieler gut zu kombinieren. Es gibt schließlich niemanden, mit dem sich Rydec unterhalten könnte. Brian und Max verlassen das Gebäude, in dem das missglückte Experiment stattfand, nur selten. Reicht dem Spieler ein Mal die Rückmeldung Rydecs nicht, wenn er sich ein benutzbares Objekt anschaut, lässt sich eine integrierte Hilfsfunktion aufrufen. Wer deswegen jetzt glaubt, er müsse gar nicht nachdenken, der hat sich geschnitten. So dumm wie bei TV-Gewinnspielen wird hier zum Glück nämlich niemand verkauft.
Grafisch setzt „Sunrise“ keine neuen Maßstäbe. Die Qualität ähnelt etwa den Werken von House of Tales, deren aktueller Titel „Overclocked“ zu Recht bei der Vergabe des Deutschen Entwicklerpreises in der Kategorie „Innovationspreis der Jury“ gewann. Innovativ war jedoch die Erzählstruktur, und nicht die Optik. Innovativ präsentiert sich auch „Sunrise“, jedoch nur insofern, wenn man dem Intro Glauben schenkt.
In puncto Inventar wird einem vor Augen geführt, was man sich schon seit der Text-Adventure-Ära fragt: Wie groß ist eigentlich die Hosentasche des Helden? Das ganze Zeug passt da doch niemals rein! Diesen Gedanken greifen die Entwickler, die in Erfurt ansässigen TML Studios, selbstreflexiv auf, indem sie es bereits eingangs, im optionalen Tutorial, augenzwinkernd illustrieren.
Rydec reißt gleich zu Beginn die Inventarleiste vom oberen Bildschirmrand runter und meint, er entsorge sie, weil sie nicht notwendig sei. Es gehe nicht darum, schwere und gar viel zu große Gegenstände mit sich herumzuschleppen. Stattdessen solle man seine Ohren spitzen. Allerdings sei das für männliche Spieler „eine echte Herausforderung“. Klingt selbstironisch? Klar, ist es ja auch. Und dies ist auch der Grundton von „Sunrise“.
Die Entwickler legen unüberhörbar großen Wert darauf, dass ihr Spiel nicht zu dröge wird. Daher sind die Monologe und Dialoge am Ende das Beste, was dieses Point-and-Click-Adventure zu bieten hat. Rydec denkt über alle möglichen Dinge im Leben nach. Weil er wegen seiner Aufgaben zunehmend genervt reagiert, kommt das oft mit Humor rüber und so hat man als Zuhörer entsprechend viel zu schmunzeln. Für Lacher sorgen aber auch Brian und Max. Besonders geil: Wenn Technikfreak Brian über das Zusammenspiel von Hard- und Software philosophiert. Plug & Play nennt er Plug & Pray. Hahaha!