Irak: Schwere Vorwürfe gegen schiitische Milizen
Nach dem Mord an einem sunnitischen Stammensführer in Bagdad drohen die sunnitischen Parteien mit einem Ausstieg aus dem politischen Prozess. HRW wirft schiitischen Millizen Kriegsverbrechen gegen Sunniten vor
Der sunnitische Stammesführer Scheich Qasim al-Janabi, dessen Sohn sowie mehrere Gefolgsleute wurden vergangene Woche in Bagdad getötet. Sunnitische Politiker bezichtigen schiitische Milizen der Tat und werfen der Regierung vor, dass sie diese Milizen straffrei gewähren lässt.
Sunnitischen Parteien überlegen laut, sich aus dem Parlement zurückzuziehen, was eine Regierungskrise zur Folge hätte. Übernahm doch Ministerpräsident Haider al-Abadi das Amt, um eine Regierung der nationalen Einheit zu betreiben. Die USA wie auch Iran hatten den Wechsel von al-Maliki auf al-Abadi unterstützt. Nun ist wieder einmal die Rede davon, dass der Versöhnungsprozess am Scheitern ist. Im irakischen Parlament werden Krisensitzungen einberufen, um dann doch wieder auf Treffen hinter geschlossenen Türen verlegt zu werden.
Zu besprechen gibt es einiges. Der Vorwurf, dass die Regierung nicht genug zum Schutz der Sunniten unternimmt, bekommt gegenwärtig viel Unterstützung durch Veröffentlichungen in US-Medien. Ende Januar sorgte der Tod von 72 Personen in einem Ort mit sunnitischer Bevölkerungsmehrheit im Osten Iraks für große Aufmerksamkeit. Laut Augenzeugen sollen schiitische Milizen, die irakische Sicherheitskräfte unterstützten, für die Schlächterei verantwortlich sein.
Heute veröffentlicht die Organisationen Human Righst Watch gestern einen Bericht, der eine ganze Serie von Menschenrechtsverletzungen, Gewalttaten und Vertreibungen - "mögliche Kriegsverbrechen" - auflistet, die schiitischen Milizen vorgeworfen werden. Der Vorsitzende der HRW-Abteilung für den Nahen Osten und Nordafrika, Joe Stork, kritisiert, was auch von sunnitischen Stämmen gegen Regierung vorgebracht wird: Dass sie der Bevölkerung keinen Schutz bietet.
Anzeichen dafür, dass einiges aus dem Ruder läuft, ist allerdings auch einer offiziellen Einlassung des großen Geistlichen der schiitischen Bevölkerung Iraks, Großayatollah Ali-Sistani, vom 12. Februar diesese Jahres zu entnehmen.Sistani fordert in dem fatwahgleichen Papier in mehreren Punkten zur Mäßigung auf.
Indessen werden in US-Medien, wie in der Washington Post, der irakischen Armee die schiitischen Milizen gegenüber gestellt und ein Bild von der Dominanz der Milizen gezeichnet:
Mit der geschätzten Zahl von 100.000 bis 120.000 bewaffneten Männern sind die Milizen stärker als die dezimierte und demoralisierte irakische Armee, deren Kampfstärke seit der Niederlage der Regeirungstruppen in Mosul laut irakischen und amerikanischen Regierungsvertreter auf 48.000 geschrumpft ist.
Andere Veröffentlichungen, wofür der 88seitige Bericht von Phillip Smyth vom Think Tank Washington Institute, der in amerikanischen Middle-East-Expertenkreisen viel Beachtung fand, exmeplarisch ist, gehen noch ein paar Schritte weiter: Sie sehen Indizien für eine systematische Politik Irans, die neue schiitische Milizen ausbildet - in Syrien und im Irak - und sie dem Netzwerk der bekannten Milizen, wie etwa Filialen der Hisbullah in Syrien oder der Badr-Organisation im Irak, hinzufügt.
Nicht jede Veröffentlichung achtet dabei auf Unterschiede und Differenzen, wie es Smyth an manchen Stellen immerhin tut, wenn er zum Beispiel die ambivalente Einstellung zu Iran von Muqtada as-Sadr herausarbeitet. Für weniger sorgfältig vorgehende Kolumnisten ist alles ein Topf und die entscheidende, bekannte Botschaft hat auch Smyth in Gepäck: Iran sucht aus der Situation in Syrien und im Irak möglichst große Einflussräume für sich zu schaffen zuungunsten der USA. Was bei Smyth noch ein diskutables Panorama mit sehr vielen konkreten Belegen für eine Interessenspolitik ist, wird bei manchen in Washington zum Aufruf, der keinen Platz für Widerrede hat.
Laut einem al-Jazeera-Bericht von Anfang Februar wollten die USA anscheinend mit der Unterstützung des Aufbau einer Nationalgarde kontern, die aus Sunniten bestehen und auch Ex-Baathisten einschließen sollte - um erfolgreicher gegen den IS vorzugehen. Der Bericht wurde, was die US-Unterstützung angeht, an einigen Stellen dementiert.
Beunruhigungen bleiben. Ein Verschärfung der Fronten zwischen Sunniten und Schiiten, die von einer Verschärfung der Differenzen zwischen den beiden Proxystaaten USA und Iran begleitet wird,verstärkt das Auseinanderdriften der Konfessionen und Ethnien im Irak. Was wird geschehen, wenn die USA mit Iran zu keiner Vereinbarung über die zivile Nutzung der Atomenergie kommt und das Tauwetter wieder in den kalten Krieg übergeht?