Irakische Truppen haben Kurden Ölprovinz Kirkuk komplett abgenommen
Gesellschaft für bedrohte Völker warnt vor neuer Islamisierung von Minderheiten durch Schiiten
Dem gemeinsamen irakischen Operationskommando nach hat die Armee des Landes gestern zusammen mit schiitischen Milizen die vorwiegend von Turkmenen bewohnte 10.000-Einwohner-Stadt Altin Köprü besetzt - den letzten vorher von kurdischen Peschmerga gehaltenen Ort in der sowohl von der Zentral- als auch von der kurdischen Autonomiegebietsregierung beanspruchten Ölprovinz Kirkuk. Den Rest dieser Provinz hatten sie vergangene Woche eingenommen - meist ohne größeren Widerstand der Peschmerga, die sie besetzt hatten, nachdem die Soldaten der Zentralregierung 2014 vor der Terrororganisation Islamischer Staat geflüchtet waren (vgl. Kirkuk: Die irakische Armee fährt mit Panzern in die Stadt).
In Altin Köprü soll es dagegen zu schweren Kämpfen gekommen sein, die auch vom Sicherheitsrat der Kurden (der die komplette Einnahme noch nicht bestätigt hat) eingeräumt werden. Angeblich kamen dabei etwa 30 Peschmerga-Milizionäre ums Leben. Wie die kurdische Regionalregierung, auf deren Unabhängigkeitsreferendum hin die Besetzung erfolgte (vgl. Unabhängigkeitsvotum: Barzani hat verloren), darauf reagieren wird, ist unklar. Vorerst hat man lediglich die eigentlich für November vorgesehenen Wahlen auf das nächste Jahr verschoben.
Plakate als erste Warnzeichen
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) warnt währenddessen, dass Jesiden sowie chaldäischen, assyrischen und armenischen Christen in den für den Zentralstaat zurückeroberten Arealen eine neue "Islamisierung" droht. Die soll diesmal nicht von den sunnitischen Fanatikern des Islamischen Staates, sondern von schiitischen Milizen ausgehen. Den Informationen des GfbV-Nahostreferenten Kamal Sido nach wurden "an der Universität von Mosul und anderswo [...] bereits Schilder und Plakate aufgehängt, auf denen die Frauen aufgefordert werden, die islamische Kleiderordnung einzuhalten und sich gemäß der Sitten der Muslime zu verhalten." Das sind seiner Ansicht nach "erste Anzeichen dafür, dass sich für die Lage der wieder in Mosul lebenden Christen und Jesiden nicht zum Besseren wendet."
Bevor der IS 2014 Mosul besetzte, lebten dort zehntausende Christen und Jesiden, die von der salafistischen Terrororganisation vor die Wahl gestellt wurden, die Stadt ohne ihre Habe zu verlassen, zum Islam überzutreten oder getötet zu werden (vgl. Irak: 100.000 Christen auf der Flucht). Die Unterworfenensteuer Dschizya, eine vom Koran für Christen vorgeschriebene vierte Alternative, hatte der IS Zeugenaussagen nach mit 250 Euro pro Kopf so hoch angesetzt, dass sie praktisch niemand zahlen konnte, weil sie für eine typische fünfköpfige Familie mit einem durchschnittlichen jährlichen Bruttoeinkommen von lediglich 2.640 Dollar 1.250 Dollar betragen hätte. Ausnahmen für Arme gab es nicht. Christen mit Berufen, die die Salafisten für einträglich hielten, sollten jedoch Aufschläge auf die für das Aufbehalten der Köpfe zu zahlende Kopfpauschale entrichten.
Chaldäer, Assyrer, Armenier, Jesiden und Schabak
Die Chaldäer, die der GfbV zufolge nach der Vertreibung des IS teilweise wieder in den Nordirak zurückkehrten, sind orientalische Christen, die zum römischen Katholizismus gehören, aber andere Riten haben. Die liturgische Rolle des Lateinischen spielt hier das westlichen Ohren aus Mel Gibsons The Passion of the Christ vertraute klassische Aramäisch - eine Sakralsprache, die sie mit ihrem nicht zu Rom gehörigen christlichen Konkurrenzbekenntnis gemeinsam haben.
Weltweit soll es etwa eine halbe Million chaldäische Christen geben. Die meisten davon leben allerdings nicht mehr im Irak (wo sich seit 2003 alleine die Zahl der Christen in Bagdad von etwa 400.000 auf weniger als 100.000 verringerte), sondern in Syrien, Europa und den USA.
Die Assyrer, von denen sich die Chaldäer im 16. Jahrhundert abspalteten, führen ihre Traditionen auf die Nestorianer im antiken Perserreich zurück. Ihre Zahl wird weltweit auf bis zu 400.000 geschätzt. Auch ihre Gläubigen leben meist nicht mehr im Orient, sondern in Europa und den USA. Inzwischen hat man auch das religiöse Zentrum der Assyrer, den Sitz ihres Katholikos, aus dem türkischen Qudshanis in das amerikanische Chicago verlegt, wo alleine 80.000 Angehörige dieses Bekenntnisses ansässig sein sollen.
Armenier sprechen - anders als Chaldäer und Assyrer - kein Aramäisch, sondern eine eigene indoeuropäische Sprache, die sie auch als Sakralsprache nutzen. Weil sie mit dem ehemals sowjetischen Armenien einen eigenen Staat haben, ist ihre Sprache trotz des osmanischen Genozids im Ersten Weltkrieg weniger vom Aussterben bedroht als die der beiden anderen christlichen Gruppen. Außer dort und im Irak leben sie heute vor allem in der Türkei, Syrien, Frankreich, den USA und Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion.
Jesiden sind keine Christen, sondern Angehörige einer Elemente aus den abrahamitischen Religionen enthaltenden streng endogamen Volksreligion. Ihre Zahl wird auf mehrere Hunderttausend weltweit geschätzt. Die meisten von ihnen lebten bis zum IS-Krieg im Irak (wo ihr religiöses Zentrum Lalisch liegt) und sprachen die Kurdensprache Kurmandschi.
Dort - aber auch in Europa - fielen die von den Sunniten und Schiiten wegen ihrer Verehrung eines "Engels Pfau" als "Teufelsanbeter" geschmähten Jesiden wegen ihrer strengen Endogamie immer wieder durch Ehrenmorde auf, bei denen Frauen, die Angehörige anderer Religionen heiraten wollen, getötet werden. In Deutschland spricht sich vor allem die auf Twitter bekannte Jesidin Ronai Chaker öffentlich gegen diese Endogamieregel aus.
Ebenfalls Kurdischsprecher mit eigener Religion sind die bis zu 100.000 Schabak, deren Glauben jedoch dem der türkischen Aleviten und der Schiiten näher steht als der der Jesiden. Sie wurden vor dem Ansturm des IS bereits vom osmanischen Sultan Abdülhamid II. erfolglos zum Sunnitentum zwangsbekehrt und lebten im Irak vor allem in Mosul und in den Dörfern östlich der Stadt.