Iran: Wie groß ist die Eskalationsgefahr?

Der innere und äußere Druck auf die Regierung in Teheran wächst, die Zahl der Toten steigt. Wohin steuert Iran?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seit fast einer Woche dauern nun die Proteste gegen die iranische Regierung an. Die bisherige Bilanz: mindestens 19 Tote, zahlreiche Verletzte und hunderte Festnahmen. Zudem soll ein Revolutionsgardist von Demonstranten erschossen worden sein. Staatliche Medien melden, dass es sich bei den Festgenommenen um Randalierer sowie um Drahtzieher der Proteste handeln soll. Verifiziert werden können diese Angaben nicht - es ist weder bekannt, wer die Personen sind, noch was ihnen konkret vorgeworfen wird.

Während Staatspräsident Hassan Rohani Fehler einräumte und den Bürgern das Recht auf friedlichen Protest zugestand, macht Revolutionsführer Ayatollah Ali Chamenei das Ausland für den Protest verantwortlich. Wen genau er damit meint, konkretisierte er aber nicht. Es ist eine Rhetorik, die von den iranischen Hardlinern allzu bekannt ist. Diese konterkarieren Rohanis Linie. Es zeichnet sich erneut ein Machtkampf innerhalb des Staatssystems ab. Das oberste Revolutionsgericht brachte am Dienstag die Möglichkeit ins Gespräch, Teilnehmer an "illegalen Demonstrationen" zum Tode zu verurteilen. Nach China ist Iran weltweit das Land mit der höchsten Zahl an vollstreckten Todesurteilen. Allein 2017 waren es mehr als 500.

Die Demonstranten versuchen, sich über soziale Netzwerke Gehör zu verschaffen und dokumentieren den Protest mit Videos, die sie ins Internet stellen. Immer wieder sind dort auch Männer zu sehen, die auf Dächern stehen und offenbar auf die Demonstranten schießen. Dabei soll es sich um Angehörige der Revolutionsgarden handeln. Eine ähnliche Taktik wendeten diese auch bereits 2009 an, um Proteste aufzulösen und Angst zu verbreiten. Die Revolutionsgarden sind ein Staat im Staat. Sie kontrollieren große Teile der Wirtschaft und sind Chamenei treu ergeben. An Reformen oder gar einem Wechsel des politischen Systems haben sie das geringste Interesse.

Arbeiter, Arbeitslose und wirtschaftlich Unzufriedene

Inzwischen zeichnet sich ab, wie sehr sich diese Proteste von denen der Grünen Bewegung im Jahr 2009 unterscheiden. Damals hatte vor allem die junge gebildete Mittelschicht mit Unterstützung von Kulturschaffenden und Studenten gegen mutmaßliche Wahlfälschungen aufbegehrt, die dem Hardliner Mahmud Ahmadinedschad eine zweite Amtszeit als Staatspräsident verschafft hatten. Dessen Herausforderer Mir Hossein Musavi steht bis heute unter Hausarrest. Genau diese Gruppe hält sich diesmal aber auffällig zurück und scheint die Demonstrationen selbst skeptisch zu sehen und ihnen wenig Aussicht auf Erfolg auszurechnen. Dafür sind sie zu heterogen, außerdem fehlt es an Identifikationsfiguren.

Die Demos gehen, soweit sich das bislang sagen lässt, eher von den Arbeitern, Arbeitslosen und wirtschaftlich Unzufriedenen aus - und davon gibt es viele. Knapp die Hälfte der Iraner lebt nahe oder unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 12,4 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit gar bei rund 40 Prozent. Zwei Drittel der Iraner sind jünger als dreißig. Gerade die Jüngeren sind es auch, die keine Lust mehr auf Gängelung und Bevormundung durch das religiöse Regime haben. Es bricht sich hier ein seit Jahren aufgestauter Unmut Bahn, der sich auch gewaltsam äußert - während die Grüne Bewegung auf friedlichem Protest bestand.

Am Dienstag fanden staatlich organisierte Gegendemos von Regierungsanhängern statt. Die Hardliner wollen zeigen, dass sie Rückhalt in der Bevölkerung haben. Wie die Meinungsverhältnisse tatsächlich sind, lässt sich kaum ermitteln, da es hierzu keine unabhängigen Umfragen gibt. Dasselbe gilt für die Medien - die iranische Presse unterliegt einer rigiden Zensur, regelmäßig werden Publikationen verboten und Verlagshäuser geschlossen. Die Demos der Regierungsanhänger gingen auf die vielfältigen Forderungen der Demonstranten im ganzen Land nicht ein - stattdessen skandierten sie die üblichen Parolen: Nieder mit den USA, Israel, Saudi-Arabien. Es mag auch diese Ignoranz gegenüber den Problemen der Menschen sein, die ihre Wut befeuert.

Im Gegensatz zu 2009 demonstrieren heute auch Einwohner von Ghom und Maschhad - den Zentren der erzkonservativen Geistlichkeit. Auch gegen sie richtet sich der Zorn ganz direkt. Denn während die Bevölkerung unter der schlechten wirtschaftlichen Lage leidet, die ihre Ursachen in den langjährigen Sanktionen ebenso findet wie in staatlicher Korruption und Misswirtschaft, werden die Institutionen der Geistlichen immer wieder mit enormen Summen vom Staat gefördert.

Donald Trump, die israelische Regierung und das saudische Königshaus wünschen einen Regime Change in Teheran

Die Reaktionen aus dem Ausland fallen unterschiedlich aus. Deutschland und die EU halten sich mit Stellungnahmen auffällig zurück, mahnen bislang nur die Einhaltung von Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit an. Das liegt wohl auch darin begründet, dass man die erst seit 2015 langsam wieder anlaufenden wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen nicht gefährden will. Iran ist für die deutsche Industrie ein wichtiger Markt. Erst im November fand ein Treffen von iranischen und EU-Vertretern in Isfahan statt. Dabei versicherte man sich gegenseitig am Atomabkommen festhalten zu wollen.

Auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) zeigte sich zuletzt zuversichtlich und teilte mit, dass Iran vollumfänglich kooperiert und sich in allen Punkten an das Abkommen hält. Die Deutsch-Iranische Handelskammer (DIHK) verzeichnete 2017 einen deutlichen Anstieg von Güterausfuhren nach Iran, in Teheran eröffnete vor zwei Monaten ein Zentrum für bilaterale Verhandlungen, von dem sich beide Länder eine Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen versprechen.

Doch das Atomabkommen, das das Fundament für diese Beziehungen bildet, ist in Gefahr. Nicht nur Chamenei hatte mehrfach dagegen gewettert - wohl auch, weil Rohani mit dem Abkommen bewiesen hat, das sein moderater Öffnungskurs erfolgversprechender ist als die starre Haltung der Hardliner. Auch US-Präsident Donald Trump steuert seit Beginn seiner Amtszeit auf einen Konfrontationskurs. Die USA fordern nun eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates.

Dass Trump sich ebenso wie die israelische Regierung und das saudische Königshaus einen Regime Change in Teheran wünschen, ist ein offenes Geheimnis. Während es Riad um die Vormachtstellung in der Region geht, spielt in den USA und Israel aber auch die innenpolitische Botschaft eine zentrale Rolle. Wenn Trump gegen Iran wettert, ist das für ihn eine willkommene Möglichkeit, von seiner katastrophalen innenpolitischen Bilanz und seinen historisch niedrigen Zustimmungswerten abzulenken. Die Kernfrage ist: Wie weit ist er dafür bereit zu gehen?

Die Haltung jedenfalls unterscheidet sich von der iranischen kaum. Die allgegenwärtige antiamerikanische und antiisraelische Propaganda war stets in erster Linie innenpolitisch motiviert - der gemeinsame äußere Feind, so das Kalkül, sollte von den Problemen im Inland ablenken. Das funktioniert nun offensichtlich nicht mehr, denn auch gegen genau diese Rhetorik wird auf den Straßen Irans demonstriert.

Einmischung von außen nutzt den iranischen Hardlinern

"Es ist jedoch sicher, dass US-Präsident Donald Trump seine eigenen Ziele nicht befördert hat, als er sofort in Großbuchstaben twitterte: "Zeit für einen Wechsel". Auch Israel und die arabischen Staaten haben sich ähnlich positioniert, doch diese Einmischung von außen nutzt im Iran eher den Hardlinern als den Reformern", schreibt Bahman Nirumand dazu in einem Kommentar.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Demonstranten sich über die Unterstützung aus Washington und Tel Aviv freuen, ist gering. Wenn Trump auf die Menschenrechte verweist, ist das allenfalls zynisch, solange er enge Beziehungen zum saudischen Königshaus pflegt, das zu den repressivsten Regimen der Welt zählt und mit der Verbreitung seiner radikalislamischen Ideologie maßgeblich für den Aufstieg von Al-Qaida und IS verantwortlich ist.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es tatsächlich zu einem fundamentalen Wechsel in Iran kommt, ist dementsprechend gering. Seit der Revolution von 1979 war das theokratische Regime immer wieder für so gut wie erledigt erklärt worden, doch am Ende sitzt es nach wie vor fest im Sattel. Der Irakkrieg in den Achtzigern konnte ihm ebenso wenig anhaben wie die Protestwelle von 2009.

Und angesichts der Umbrüche und des Chaos in der Region hat sich Iran auch in den letzten Jahren als außerordentlich stabil erwiesen - und als geschickter außenpolitischer Taktierer. Im Irak konnte Iran seinen Einfluss massiv ausbauen, ebenso im Libanon. Und gemeinsam mit Putin und Erdogan schmiedet Rohani bereits Pläne für die Zukunft Syriens. Wobei Iran und Russland, sehr zum Unmut der Türkei, an Assad festhalten.

Die zum jetzigen Zeitpunkt größte Gefahr einer Eskalation liegt auf den iranischen Straßen selbst: Wenn die Hardliner und die Revolutionsgarden die Chance auf Reformen verpassen, könnte die Lage für die iranische Bevölkerung in den nächsten Jahren noch weit unangenehmer werden, die zaghaften Bemühungen Rohanis, die Zügel zu lockern und Iran in die internationale Staatengemeinschaft zurückzuführen, würden erstickt. Das erinnert nicht zuletzt an die Präsidentschaft von Mohammad Chatami, der ebenfalls an den Hardlinern gescheitert war.