"Islamischer Staat" in Istanbul

Seite 2: Bedrohung der Türkei?

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Die Versammlung am Ende des Ramadan rüttelte viele in der Türkei auf, während die türkische Opposition der Regierung schon seit mehreren Jahren vorwirft, mit den Extremisten zu kooperieren. Erst nachdem der IS im Juni 49 Mitarbeiter des türkischen Konsulats im irakischen Mossul als Geiseln nahm (und sie bis heute gefangen hält), wurde die Gruppe als terroristische Vereinigung eingestuft. Das Konsulat selbst ist bis heute vom IS besetzt. Für die Türkei ein Schlag ins Gesicht. Diese Situation gilt auch als offizieller Grund dafür, dass die Türkei sich nicht an militärischen Aktionen gegen den IS beteiligt. Ankara ist vorsichtig. Jede Aktion könnte die Geiseln gefährden oder IS-Gruppen im Land selbst provozieren.

Dass es diese gibt ist kein Geheimnis. Allein rund 1200 Kämpfer des IS in Syrien und im Irak sollen Türken sein. Und auch aus Europa konnten hunderte Extremisten offenbar die Türkei ungehindert als Durchgangsland nutzen, während Kämpfer aus Syrien die nahe türkische Grenze nutzten, um sich in sicheren Orten zu erholen oder gar medizinisch behandeln zu lassen. Laut dem britischen Guardian ist die türkisch-syrische Grenze gar der wichtigste Übergang für die Terroristen.

Die Türkei ist in einer verzwickten Lage. Einerseits drängen die NATO-Partner auf Unterstützung im Kampf gegen den IS, andererseits bedroht dieser die Türkei offen, sollte sie aktiv werden. Die türkischen Behörden dulden derweil sogar mitten in Istanbul einen Shop, in dem IS-Devotionalien wie Flaggen, T-Shirts und Tassen mit der Flagge der Gruppe verkauft und Spenden gesammelt werden. Wie viele IS-Mitglieder sich derzeit in der Türkei aufhalten ist unklar.

Wie die englische Ausgabe der Hürriyet berichtet nimmt nun offenbar die PKK-nahe YDG-H den Kampf auf - deren Mitglieder wollen einen IS-Kämpfer in Istanbul erschossen und zwei weitere verwundet haben. Details wurden bislang allerdings nicht bekannt, auch eine behördliche Bestätigung blieb aus. Das passt allerdings ins Bild, wenn man bedenkt, dass es in den Krisengebieten in erster Linie kurdische Kämpfer der Peschmerga und der PKK sind, die sich dem IS-Vormarsch in den Weg stellen. Freuen dürfte sich Erdogan über diese ungebetene Unterstützung nicht, denn die Spannungen zwischen YDG-H und der Polizei kochen immer wieder hoch. Erst im Mai wurden bei einer Razzia im Istanbuler Stadtteil Okmeydani 26 Mitglieder der Gruppe verhaftet, und in den kurdischen Gebieten des Landes kam es auch in den letzten Wochen immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen.

Präsident Erdogan und der als Erdogans Marionette geltende neue Ministerpräsident Davutoglu werden sich eher früher als später klar positionieren müssen. Dass sie ein Übergreifen des Terrors auf ihr Land verhindern wollen, ist klar. Ihre Haltung ist hingegen ambivalent. Den Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, der vor 91 Jahren das osmanische Kalifat beendete und den Staat modernisierte und säkularisierte, betrachtet Erdogan mit Geringschätzung. Immer wieder knüpft er an osmanische Traditionen an, nicht zuletzt mit dem geplanten Wiederaufbau einer osmanischen Kaserne im Istanbuler Gezi Park, was im Sommer 2013 zu landesweiten Protesten führte. Nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten am 10. August betete er in der Eyüp-Moschee, wo das Amtseinführungsritual der osmanischen Sultane stattfand. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Wirbel gibt es zur Zeit auch um Ahmet Davutoglu, dem Prof. Behlül Özkan von der Istanbuler Marmara Universität eine Pan-Islamistische Ideologie vorwirft, nachdem er Artikel des Politikers aus den achtziger und neunziger Jahren ausgewertet hat. Demnach soll Davutoglu noch während des Arabischen Frühlings von einer neuen islamischen Ära in der Region unter Leitung der Türkei fabuliert haben und in seinen Schriften - ähnlich wie der IS - die Auflösung bestehender Nationalstaaten in der Region zugunsten einer neuen Herrschaftsform favorisieren. Als Basis dafür sieht er einen strengen sunnitischen Islam wie ihn beispielsweise die Muslimbruderschaft vertritt.