"Islamischer Staat" in Istanbul

Der IS nutzt die Türkei als Durchgangsland und etabliert Drohpotential weit über Syrien und den Irak hinaus

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Mitglieder des Islamischen Staates (IS) im Irak drohen vor den Kameras von Vice damit, Istanbul zu erobern. Nicht aus dem Nichts heraus, sondern als Botschaft an die türkische Regierung, sollte sie nicht weiter kooperieren.

Screenshot aus dem Vice-Film über den Islamischen Staat.

Kurz zuvor hatte die Türkei den Atatürk-Damm teilweise geschlossen und damit die Wasserzufuhr über den Euphrat gedrosselt. Das nahm einigen vom IS im Irak kontrollierten Dämmen ihr Drohpotential. Der türkische Energieminister Taner Yildiz zeigte sich von der Drohung unbeeindruckt. Noch kann er sich das leisten. Denn der IS, der die Türkei bis dato ungehindert als Durchgangs- und Rückzugsland nutzt, würde sich mit Aktionen gegen türkische Bürger auf türkischem Boden selbst schaden. Doch die Situation kann jederzeit kippen. Die offizielle Haltung der türkischen Regierung zum IS ist ablehnend, aber es gibt berechtigte Zweifel.

Der neue türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu (AKP) stellte zuletzt mehrfach klar, dass der IS keinerlei Unterstützung durch die türkische Regierung erhält. Einige Medien hatten nach einer Rede am 7. August berichtet, Davutoglu habe zugleich gesagt, er halte den IS nicht für eine terroristische Gruppierung, doch dabei handelte es sich wahlweise um eine falsche Übersetzung eines Zitats oder um bewusste Manipulation, die der Sache wenig dienlich ist. Es mag sein, dass eine aktive Unterstützung nicht stattfindet, sicher ist das aber keineswegs. Denn nach der Abkehr von der vormals engen Bindung zu Syriens Präsident Assad beteiligte sich die Türkei an den Ambitionen, diesen zu stürzen und kooperierte daher wie zahlreiche andere Staaten auch mit radikalen Kämpfergruppen in Syrien. Dass der IS in dieser Phase direkt oder indirekt profitierte, ist anzunehmen.

Die passive Unterstützung jedenfalls ist eindeutiger und nicht wegzureden. Am 28. Juli, zu den Feierlichkeiten zum Ende des Ramadan, feierte in Istanbul eine Gruppe, die offenbar zum IS gehörte oder mit ihm sympathisierte. Ein Video des Ereignisses, das von einer dem IS nahestehenden islamistischen Website lanciert worden war, erweckte auch die Aufmerksamkeit der türkischen Oppositionspartei CHP, die daraufhin eine Anfrage stellte, ob IS-Gruppen auf türkischen Boden geduldet würden. Eine Antwort gab es laut Al-Monitor nicht.

Woher kommt der IS?

Als der IS, damals noch ISIS oder ISIL, im Frühjahr 2014 im Irak ohne nennenswerte Gegenwehr der Armee durchmarschierte, herrschte bei den Beobachtern auf dem internationalen Parkett vor allem Verwirrung. Dabei war die Entwicklung vorhersehbar. Sie begann bereits 2004/2005, als sich die US-Armee nach ihrem völlig missglückten Einmarsch in den Irak in Kämpfe mit der Al-Qaida und islamistischen Splittergruppen verstrickte.

Es war zu jener Zeit, als Abu Musab As-Sarkawi innerhalb der Dschihadisten einen Richtungsstreit anzettelte, dessen Ergebnis der heutige IS ist. Denn während Al-Qaida klare Gegner außerhalb der islamischen Welt hatte (in erster Linie die USA, Israel sowie deren Verbündete) und diese mit dezentral organisierten Terrorzellen bekämpfte, drängte der Sunnit As-Sarkawi bereits auf die Idee eines staatlichen Territoriums mit Kalifat-Struktur; als Voraussetzung hierfür sah er die Ausschaltung aller innerislamischen Gruppen, die dieser Ideologie entgegenstanden - für den Sunniten waren dies nicht nur Schiiten, sondern auch Christen, Juden, Atheisten sowie jegliche islamische Konfessionen, die nicht sunnitisch sind (Propaganda von Sarkawi).

In diesem Sinne hetzten er und seine Anhänger Sunniten und Schiiten im Irak gegeneinander auf und richteten blutige Massaker mit zahllosen zivilen Opfern an. Auch die Ermordung des Kanadiers Nicholas Berg im Jahr 2004 geht auf sein Konto. Zwar war er bis zu seinem Tod durch die US-Armee im Jahr 2006 offiziell der führende Kopf von Al-Qaida im Irak (Der Terroristenführer, der nicht einmal schießen kann), doch da war der Bruch schon längst vollzogen, denn seine Ziele ließen sich nicht mit denen der Qaida-Führung vereinbaren und Aiman As-Sawahiri distanzierte sich bereits vor As-Sarkawis Tod (Terroristenführer Sarkawi getötet)von dessen Aktionen.

Heute spricht kaum mehr jemand von Al-Qaida, die sich vor allem mit sich selbst beschäftigt und sich im syrischen Bürgerkrieg immer weiter selbst demontiert hat. Die Lücken, die sich auftaten, hat der IS für sich genutzt, der seine Mitglieder zuerst aus Qaida-Kämpfern rekrutiert hatte. As-Sarkawi starb 2006, nicht aber seine Ideologie, die weit über alles hinausging, was radikale Islamisten anderer Strömungen vor ihm proklamiert hatten. Mit jedem seiner Nachfolger stieg die Radikalisierung der Gruppe, ebenso ihr Einfluss.

Was in Syrien passieren würde, wenn man die Radikalen unterstützt, um Baschar Al-Assad um jeden Preis loszuwerden, haben Kenner der Region bereits 2011, zu Beginn des Bürgerkrieges, vorhergesagt. Mehrfach wurde davor gewarnt, dass Syrien zum "failed state" werden und ein Flächenbrand auf die Nachbarländer übergreifen könnte. 2014 ist Assad noch immer im Amt, Syrien ist ein Trümmerhaufen, rund 200.000 Menschen sind tot, viele Millionen innerhalb und außerhalb Syriens auf der Flucht. Der IS unter seinem derzeitigen Anführer Abu Bakr Al-Baghdadi hat einen Staat im Staat etabliert, gegen den auch die syrische Armee mit Unterstützung Irans nicht mehr ankommt.

Die Idee des Kalifats ist letztendlich die Auflösung der Nationalgrenzen in der Region, die großteils noch während des Ersten Weltkriegs von den Besatzern aus geostrategischen Interessen heraus gezogen worden waren, und die Errichtung eines umfassenden Staatsgebildes nach Vorbild der frühislamischen Kalifate vor dem Bruderkrieg. Der größte Teil der Muslime weltweit und auch in Deutschland lehnt den IS und seine Verbrechen ab (IS-Terror: Was sagen Muslime darüber?).

Ideologisch werden sich die rückwärtsgewandten Gewalttäter nirgendwo durchsetzen können. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass der innerislamische Krieg, den sie begonnen haben, noch sehr weite Kreise ziehen wird, wenn die rasant wachsende Terrorgruppe nicht nachhaltig gestoppt wird. Dass Diplomatie hier nicht weiterhilft, haben einige Akteure in der internationalen Politik inzwischen begriffen - dennoch verhalten sich vor allem die USA und ihre Verbündeten noch zu zögerlich, während die täglichen Massenmorde in Syrien und im Irak weitergehen.

Im Gegensatz zu den bisherigen islamistischen Terrorgruppen begnügt sich der IS nicht damit, seine Feinde zu benennen und punktuell anzugreifen (als Feind wird jeder betrachtet, der sich dem Diktat des IS nicht zu hundert Prozent unterwirft), sondern er handelt. Wer sich widersetzt, wird ermordet. Wer einen anderen oder auch nur minimal abweichenden Glauben hat, wird ermordet. Wer bestimmte Verhaltensregeln missachtet, wird ermordet. Die Situation der Frauen im vom IS kontrollierten Gebiet ist katastrophal - sie werden zur reinen Verfügungsmasse der Kämpfer. Vergewaltigung, Folter und Mord sind an der Tagesordnung.

Ihre Macht begründet sich nicht zuletzt dadurch, dass sie auf ihrem bisherigen Feldzug große Mengen an Geld und modernstem Kriegsgerät erbeuten konnten und sie einen stetigen Zulauf an Kämpfern aus aller Welt haben. Sympathisanten in unzähligen Ländern können früher oder später zum Problem werden. Zwar konzentriert sich der IS taktisch klug darauf, sich nicht zu verzetteln und vorwiegend seinen Einfluss in den besetzten Gebieten zu zementieren und diese zu vergrößern. Aber die Gefahr, dass Rückkehrer oder einzelne Zellen beispielsweise in Deutschland oder der Türkei für Anschläge genutzt werden, um die Politik der betreffenden Staaten zu beeinflussen, ist real.

Bedrohung der Türkei?

Die Versammlung am Ende des Ramadan rüttelte viele in der Türkei auf, während die türkische Opposition der Regierung schon seit mehreren Jahren vorwirft, mit den Extremisten zu kooperieren. Erst nachdem der IS im Juni 49 Mitarbeiter des türkischen Konsulats im irakischen Mossul als Geiseln nahm (und sie bis heute gefangen hält), wurde die Gruppe als terroristische Vereinigung eingestuft. Das Konsulat selbst ist bis heute vom IS besetzt. Für die Türkei ein Schlag ins Gesicht. Diese Situation gilt auch als offizieller Grund dafür, dass die Türkei sich nicht an militärischen Aktionen gegen den IS beteiligt. Ankara ist vorsichtig. Jede Aktion könnte die Geiseln gefährden oder IS-Gruppen im Land selbst provozieren.

Dass es diese gibt ist kein Geheimnis. Allein rund 1200 Kämpfer des IS in Syrien und im Irak sollen Türken sein. Und auch aus Europa konnten hunderte Extremisten offenbar die Türkei ungehindert als Durchgangsland nutzen, während Kämpfer aus Syrien die nahe türkische Grenze nutzten, um sich in sicheren Orten zu erholen oder gar medizinisch behandeln zu lassen. Laut dem britischen Guardian ist die türkisch-syrische Grenze gar der wichtigste Übergang für die Terroristen.

Die Türkei ist in einer verzwickten Lage. Einerseits drängen die NATO-Partner auf Unterstützung im Kampf gegen den IS, andererseits bedroht dieser die Türkei offen, sollte sie aktiv werden. Die türkischen Behörden dulden derweil sogar mitten in Istanbul einen Shop, in dem IS-Devotionalien wie Flaggen, T-Shirts und Tassen mit der Flagge der Gruppe verkauft und Spenden gesammelt werden. Wie viele IS-Mitglieder sich derzeit in der Türkei aufhalten ist unklar.

Wie die englische Ausgabe der Hürriyet berichtet nimmt nun offenbar die PKK-nahe YDG-H den Kampf auf - deren Mitglieder wollen einen IS-Kämpfer in Istanbul erschossen und zwei weitere verwundet haben. Details wurden bislang allerdings nicht bekannt, auch eine behördliche Bestätigung blieb aus. Das passt allerdings ins Bild, wenn man bedenkt, dass es in den Krisengebieten in erster Linie kurdische Kämpfer der Peschmerga und der PKK sind, die sich dem IS-Vormarsch in den Weg stellen. Freuen dürfte sich Erdogan über diese ungebetene Unterstützung nicht, denn die Spannungen zwischen YDG-H und der Polizei kochen immer wieder hoch. Erst im Mai wurden bei einer Razzia im Istanbuler Stadtteil Okmeydani 26 Mitglieder der Gruppe verhaftet, und in den kurdischen Gebieten des Landes kam es auch in den letzten Wochen immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen.

Präsident Erdogan und der als Erdogans Marionette geltende neue Ministerpräsident Davutoglu werden sich eher früher als später klar positionieren müssen. Dass sie ein Übergreifen des Terrors auf ihr Land verhindern wollen, ist klar. Ihre Haltung ist hingegen ambivalent. Den Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, der vor 91 Jahren das osmanische Kalifat beendete und den Staat modernisierte und säkularisierte, betrachtet Erdogan mit Geringschätzung. Immer wieder knüpft er an osmanische Traditionen an, nicht zuletzt mit dem geplanten Wiederaufbau einer osmanischen Kaserne im Istanbuler Gezi Park, was im Sommer 2013 zu landesweiten Protesten führte. Nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten am 10. August betete er in der Eyüp-Moschee, wo das Amtseinführungsritual der osmanischen Sultane stattfand. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Wirbel gibt es zur Zeit auch um Ahmet Davutoglu, dem Prof. Behlül Özkan von der Istanbuler Marmara Universität eine Pan-Islamistische Ideologie vorwirft, nachdem er Artikel des Politikers aus den achtziger und neunziger Jahren ausgewertet hat. Demnach soll Davutoglu noch während des Arabischen Frühlings von einer neuen islamischen Ära in der Region unter Leitung der Türkei fabuliert haben und in seinen Schriften - ähnlich wie der IS - die Auflösung bestehender Nationalstaaten in der Region zugunsten einer neuen Herrschaftsform favorisieren. Als Basis dafür sieht er einen strengen sunnitischen Islam wie ihn beispielsweise die Muslimbruderschaft vertritt.