Horst Tappert hätte Maximilian Krah nicht gefeuert
Heuchelei und Geschichtsvergessenheit: Die Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit auf die Aussagen des AfD-Politikers Krah zu SS. Eine Erinnerung an die Erinnerungskultur.
Wenn in Frankreich, einem Opfer deutschen Krieges und deutscher Besatzung, extreme Nationalisten verschnupft auf SS-Zugehörigkeit-Apologetik eines Mannes reagieren, der auch sonst bei seinen politischen Geschwistern in der Rechtsauslegerfraktion des EU-Parlaments nicht beliebt ist, so kann das kaum verwundern.
Staunen muss man allerdings, wenn deutsche Journalisten und Politiker angesichts der Äußerungen des AfD-Spitzenkandidaten zur Europawahl, Maximilian Krah, entrüstet tun.
Krah hat laut deutschen Medien bezogen auf 900.000 SS-Angehörige bei Kriegsende, fast alle Waffen-SS, gesagt, es habe unter ihnen zwar "einen hohen Prozentsatz an Kriminellen gegeben, aber nicht nur", und er sehe nicht automatisch jeden SS-Angehörigen als Verbrecher an, sondern die Schuld müsse stets "individuell beurteilt' werden".
Krah und der Nachkriegskonsens: Lasche Urteile gegen SS-Leute
Das sind nun aber aus deutscher Perspektive recht banale Äußerungen. Krah formulierte nicht mehr und nicht weniger als den deutschen juristischen und gesellschaftlichen Nachkriegskonsens zum Umgang mit SS-Leuten bis einschließlich heute, wobei dieser Konsens sogar zu noch lascheren Urteilen führte, als Krah hier formuliert.
Mir ist zum Beispiel nicht bekannt, dass gegen Günter Grass auch nur ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden wäre, als er 2006 offenbarte, ein vom Nationalsozialismus überzeugtes und stolzes Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein ("Elitetruppe"). Mord und Beihilfe zum Mord verjähren wohlgemerkt nicht.
Lesen Sie auch
War Leni Riefenstahl wirklich nur Hitlers willige Filmemacherin?
Nationalhymne? Lieber nicht! Die deutsche Angst vorm Feiern
Warum Annalena Baerbock zu Nazis und Zweitem Weltkrieg nichts mehr posten sollte
"Die Ermittlung": Auschwitz – Das Unfassbare fassbar machen
Verborgene Netzwerke und alte Seilschaften: Deutschlands Kampf um Souveränität
Weder aus dem deutschen Feuilleton noch der deutschen Politik wurde damals danach gerufen, den Mann jetzt aber endlich vor Gericht zu stellen oder ihn als Verbrecher zu ächten; höchstens wurde ihm sein langes Schweigen vorgeworfen und die moralisch erhabene Attitüde, mit der er sich jahrelang als das bessere Deutschland präsentiert hatte, als sei er nicht selbst verstrickt.
Es wurde schlicht ohne Überprüfung angenommen, dass Grass, obwohl SS-Mann, als solcher keine Verbrechen beging und an keinem Mord beteiligt war.
Nazi der ersten Stunde: Hanns Martin Schleyer
Der 1977 ermordete Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer war anders als Grass kein Rädchen und keiner, der als verführter Jugendlicher erst gegen Kriegsende dazugekommen oder gar gegen seinen Willen in den Dienst gepresst worden wäre, wie viele andere. In die Waffen-SS wurde seit 1942 zwangsrekrutiert, wobei dazu besonders auch die "Volksdeutschen" in den eroberten Gebieten herangezogen wurden.
Schleyer war Nazi der ersten Stunde gewesen und bekennender, aktiver Judenfeind, später hoher SS-Offizier. Er kam trotz SS-Rang durch die Entnazifizierung der Alliierten und konnte später unbehelligt in höchste Positionen der bundesrepublikanischen Gesellschaft aufsteigen. Ein Ermittlungsverfahren gab es nie.
Keine Ermittlungen gegen Ex-SS-Mann Tappert
Selbst gegen Horst Tappert, Schauspieler und Autor der Serie Derrick, gab es nie Ermittlungsverfahren, obwohl er bei der SS-Division "Totenkopf" gewesen war – allerdings im niedrigsten Rang –, die mit dem Lagersystem eng verflochten war und im Allgemeinen aus besonders fanatischen Nazis bestand.
Herbert Reinecker, der Autor von Derrick (der auch für zahlreiche andere Fernsehserien schrieb) und anders als Tappert im Krieg kein leicht verführbarer junger Mann mehr gewesen war, diente ebenfalls bei der Totenkopf-Division und war fast ein Jahrzehnt lang erst NS-Propagandist, dann SS-Kriegspropagandaschreiber.
Anders als sein Kamerad Tappert verschwieg er seine SS-Zeit schon seit den 1950ern nicht mehr. Direkt nach dem Krieg hatte er sich vorübergehend ein Pseudonym zugelegt, weil er offenbar eine Anklage fürchtete, aber eine solche gab es nie; er starb 2007 hochgeachtet, ohne jedes juristische Nachspiel.
"Von Kriegsverbrechern unter den Leistungsempfängern ist der Bundesregierung nichts bekannt"
SS-Angehörige im Inland wie im Ausland und deren Hinterbliebene erhielten bis 2023, wenn sie im Dienst für den nationalsozialistischen Staat verwundet oder getötet wurden, nach dem Bundesversorgungsgesetz Kriegsopferrenten des deutschen Staates. Die SS verbarg sich im Gesetzestext schamhaft unter dem Begriff "militärähnliche Einheiten".
Nachdem heute kaum noch Betroffene leben, wurde 2024 das Bundesversorgungsgesetz als solches gestrichen und inhaltlich in das SGB XIV ("Soziale Entschädigung") eingegliedert, ohne sachliche Änderungen in der Praxis.
Im Baltikum war bekanntermaßen eine große Zahl von ethnisch baltischen späteren SS-Angehörigen unmittelbar an Massenerschießungen jüdischer Zivilisten beteiligt, zudem noch als Freiwillige, sodass hier ein besonders hoher Anteil von mutmaßlichen Verbrechern unter SS-Leuten anzunehmen ist.
Rentenzahlungen an baltische Ex-SS-Leute bis 1998 unüberprüft
Dennoch erhalten auch die baltischen SS-Leute seit dem Ende der Sowjetunion, soweit sie oder ihre Witwen noch leben und sie während ihrer Tätigkeit "für Deutschland" geschädigt wurden, Rentenzahlungen vom deutschen Staat.
Eine vorherige Prüfung, ob diese oder die inländischen Renten an einen Kriegsverbrecher gehen, der willig an der Erschießung von Zivilisten teilgenommen hat, fand bis 1998 überhaupt nicht statt.
Als die Grünen 1996 eine kleine Anfrage im Bundestag zu den Opferrenten für SS-Leute im Ausland, insbesondere im Baltikum, und zu Kriegsverbrechern unter diesen stellten, wurden sie von der Bundesregierung folgendermaßen beschieden: "Von Kriegsverbrechern unter den Leistungsempfängern ist der Bundesregierung nichts bekannt." Manche Dinge will man eben nicht wissen.
SS-Zugehörigkeit nicht per se als Verbrechen gewertet
Das heißt aber auch nicht mehr und nicht weniger, als dass die bloße Zugehörigkeit zur SS von der Bundesregierung eben nicht per se als Verbrechen gewertet wurde (übrigens auch nicht von den Anfragenden), und daran hat sich seitdem nichts geändert, trotz Protesten jüdischer Stimmen.
Zwar wurde aufgrund der durch die Grünen damals angestoßenen Debatte 1998 festgelegt, dass an bekannte Kriegsverbrecher und freiwillig in die SS Eingetretene keine Opferrenten mehr gezahlt werden sollten. Doch die nunmehr beginnende sukzessive Überprüfung ergab bei damals noch einer Million Kriegsopfer-Versorgungsberechtigter nur in 99 Fällen Gründe, die Versorgung einzustellen.
Geschätzt nach dem zahlenmäßigen Anteil der SS an den deutschen Soldaten muss die Zahl der Leistungsberechtigten mit SS-Hintergrund in Deutschland – über deren genaue Anzahl keine Angaben ausfindig zu machen sind – damals noch mehrere Zehntausend betragen haben. Der Anteil der "Verbrecher" unter ihnen beträgt demnach laut amtlicher Einschätzung nicht mehr als ein Prozent.
Im Vergleich mit dieser amtlichen deutschen Sichtweise erscheint Krah mit seinem "hohen Prozentsatz an Kriminellen" geradezu streng in der Bewertung.
"Die individuelle Schuld muss nachgewiesen werden" – wo die deutsche Justiz Krah widerspricht
Wie gesagt, haben sukzessive Bundesregierungen und die Justiz es vorgezogen, bei den allermeisten SS-Mitgliedern nie ein juristisches Ermittlungsverfahren einzuleiten, das die großzügig über allen Kriegsteilnehmern ausgebreitete Unschuldsvermutung hätte widerlegen können.
Die bloße Mitgliedschaft in der SS, auch die freiwillige, ist nach deutscher Gesetzeslage und deutschen Gerichten per se nie ein Verbrechen oder auch nur Vergehen gewesen. Selbst eine freiwillige Mitgliedschaft galt und gilt bei uns nicht einmal als ausreichender Anfangsverdacht für Ermittlungen, gar nicht zu reden von befreundeten EU-Ländern wie Estland oder Lettland, wo SS-Leute in jährlichen Paraden gefeiert werden.
Nur wo es zusätzlich zur SS-Mitgliedschaft gute Indizien auf direkte individuelle Beteiligung an Verbrechen, wie Erschießungen oder Grausamkeiten gab, wurde überhaupt ermittelt. Niedere Chargen wurden dabei nur verurteilt, wenn sie sich über das von oben Befohlene hinaus Gewalttaten oder besonderer Grausamkeit schuldig gemacht hatten; alle anderen konnten sich auf Befehlsnotstand berufen.
Zuletzt gab es in der deutschen Justiz aber eine Teilabkehr von dem über Jahrzehnte an SS-Leute vergebenen Freibrief beim Fehlen individuell nachgewiesener Schuld, aber nur in speziellen Fällen: Die nachgewiesene dienstliche Tätigkeit in einem Vernichtungslager gilt neuerdings als Beihilfe zum Massenmord, auch ohne Beweise für individuelles verbrecherisches Verhalten oder Beteiligung an Tötungen und selbst bei niedrigsten Diensträngen.
Ukrainischer SS-Helfer als denkwürdiger Präzedenzfall
Der erste Fall, in dem so geurteilt wurde, war ausgerechnet der eines Ukrainers, der sich als Kriegsgefangener zum SS-Helfer pressen ließ, um dem eigenen Tod zu entgehen. Das Gericht und die Staatsanwaltschaft waren aber der Meinung, er hätte sich der Mitarbeit im KZ, einmal dort angekommen und des verbrecherischen Charakters gewahr, durch Flucht in den Untergrund entziehen müssen.
Damals stand es der deutschen Justiz schlecht an, ihren neuen Standard ausgerechnet an einem gefangenen Ukrainer mit gegen null gehender Entscheidungsfreiheit als Präzedenzfall zu exerzieren, nachdem die meisten deutschen Täter längst tot waren und man über Jahrzehnte nicht nur die meisten kleinen und mittleren, sondern auch nicht wenige hohen deutschen Räder im Nazi-Mordgetriebe mit dem Hinweis auf Befehlsnotstand oder als "Mitläufer" ihr Nachkriegsleben hatte genießen lassen.
Die überwiegende Zahl derjenigen, die am Ende des Krieges SS-Angehörige waren, ist von der neuen juristischen Sichtweise auf Mitarbeiter von Vernichtungslagern aber gar nicht betroffen, da nur eine Minderheit von ihnen je in Vernichtungslagern Dienst tat.
Kriegsverbrecher Helmut Schmidt?
Das heißt natürlich nicht, dass nicht eine Mehrheit der Waffen-SS-Leute im Osten in Kriegsverbrechen verwickelt war. Das war sie vermutlich, denn der Krieg im Osten wurde per se verbrecherisch geführt.
Dabei ist es ein Fehler zu glauben, dass schwerste Kriegsverbrechen auf die SS oder die ihr unterstellten Verbände wie die Polizeibataillone beschränkt waren. Drei Millionen von der Wehrmacht gefangen genommene Sowjetsoldaten haben die deutsche Gefangenschaft nicht überlebt, und die meisten von ihnen starben in von der Wehrmacht geführten Lagern.
Die Menschen in den Gefangenenlagern im Osten wurden nicht besser behandelt als die der SS unterstellten Arbeitssklaven in Auschwitz. Eine solche Behandlung von Kriegsgefangenen war ein Kriegsverbrechen auch nach damaligen, von Hitlerdeutschland vertraglich anerkannten Standards des Kriegsrechts.
Nach heutigen Standards war es ein Genozid an drei Millionen mehrheitlich ostslawischer Menschen, die bei der geplanten deutschen Besiedelung der fruchtbaren Böden im Osten ohnehin störend gewesen wären und daher bei knapper Versorgungslage weder Essen noch eine Unterkunft mit Dach verdient hatten.
General Eduard Wagner: "Nicht arbeitende Kriegsgefangene in den Gefangenenlagern haben zu verhungern.". Man ließ also in vollem Bewusstsein dessen, was man tat, drei Millionen gefangener sowjetischer Soldaten an Hunger, Kälte und Seuchen sterben.
Die Verbrechen der Wehrmacht im Osten wurden in Westdeutschland überhaupt nie juristisch aufgearbeitet und waren auch selten Thema in der Öffentlichkeit. Helmut Schmidt, der allseits geschätzte Kanzler, war als Wehrmachtsoffizier direkt an der Blockade von Leningrad beteiligt.
Eisernes Kreuz für Teilnahme an Kriegsverbrechen
Diese Blockade schnitt über zwei Jahre lang die Stadt von Nahrung und Brennstoff ab und hatte eine Million zivile Opfer. Nach den Standards, die heute üblich sind, war das mindestens ein "furchtbares Kriegsverbrechen" (so nennt es das Auswärtige Amt), eigentlich aber eher ein Genozid, denn die Ausrottung der Bevölkerung dort war geplant, wie sich aus einer Direktive des Oberkommandos der Heeresgruppe Nord ergibt:
Der Führer hat beschlossen, Leningrad dem Erdboden gleichzumachen. Es besteht nach Niederwerfung Sowjetrusslands kein Interesse am Fortbestand dieser Großsiedlung. Sich aus der Lage der Stadt ergebene [sic] Bitten um Übergabe werden abgelehnt.
Für Helmut Schmidts Teilnahme als Offizier an diesem Kriegsverbrechen, wofür er mit dem Eisernen Kreuz vom Nazistaat belobigt wurde, hatte die deutsche Öffentlichkeit, soweit das Thema überhaupt je angesprochen wurde, nur Entschuldigungen parat.
Niemand hat ihn als Verbrecher gesehen. Schmidt selbst begründete seinen über Jahre treuen Dienst im Osten unter anderem damit, er habe von den Verbrechen der Nazis nichts gewusst.
Mehr Bildung und Handlungsfreiheit als andere SS-Leute
Die Nahrungsmittelblockade einer Großstadt über zwei Jahre war ihm offensichtlich nicht verbrecherisch genug, um zu zählen, obwohl sie auch nach damaligen Standards mindestens als moralisch verwerflich galt.
Ebenso gute oder schlechte Entschuldigungen für ihren Dienst in einem verbrecherischen Krieg und ähnlich hohe oder geringe Grade individueller Verantwortung für die Verbrechen, an denen sie beteiligt waren, hatten auch zahllose Waffen-SS-Leute, viele davon vermutlich mit schlechterem Bildungsgrad, Selbstbewusstsein und Handlungsfreiheit als der Offizier Schmidt.
Um die Sache zusammenzufassen: Die meisten der den Krieg und die Gefangenschaft überlebenden SS-Angehörigen galten und gelten der Bundesrepublik Deutschland nicht als Verbrecher, ebenso wenig wie direkt Beteiligte an Kriegsverbrechen der Wehrmacht.
Freiwillige SS-Mitgliedschaft bis heute nicht als Straftat gewertet
Die freiwillige SS-Mitgliedschaft ist bis heute kein Straftatbestand, anders als die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung; abgesehen davon, dass seit 1942 die Mehrheit der Waffen-SS-Leute zwangsrekrutiert wurde.
SS-Leute und ihre Angehörigen erhielten, genau wie Wehrmachtsangehörige, Opferrenten, soweit sie im Dienst geschädigt worden waren. Kriegsverbrechern könnte seit 1998 ihre Opferrente entzogen werden, aber die weitaus meisten SS-Leute und Wehrmachtsangehörigen gelten dem deutschen Staat auch nach amtlicher Überprüfung nicht als solche. Die meisten von ihnen wurden nie juristischen Ermittlungen ausgesetzt, die die Unschuldsvermutung hätte widerlegen können.
Wer sich bei diesen Realitäten über die oben zitierten Krah'schen Äußerungen erregt, der betreibt pure Heuchelei oder offenbart grobe zeitgeschichtliche Ahnungslosigkeit.