Israel-Gaza-Krieg: Gegen die Logik der Radikalen

Angriff auf Gaza-City. Bild: IDF, Twitter Benjamin Netnajahu

Mediensplitter (45): Gilt in der Debatte nun die Maßgabe von George W. Bush: Entweder ihr seid auf unserer Seite oder auf der Seite der Terroristen? Breaking the Silence macht den Unterschied.

Der 7. Oktober 2023 markiert eine historische Zäsur, heißt es in vielen Kommentaren zum neuen Gaza-Krieg. Manche stellen sogar Vergleiche mit 9/11 an. Das ist gefährliches Narrativ, weil es eindeutige Markierungen setzt: Die Guten gegen die Bösen.

Die französische Zeitung Le Monde warnt in ihrem Leitartikel (auf Englisch):

Angesichts der US-amerikanischen Reaktion und ihre damaligen Fehler kann man nur hoffen, dass die israelische Antwort im Interesse der betroffenen Bevölkerung nicht zu einer Verewigung des Konflikts führen wird.

Le Monde

"Im Interesse der betroffenen Bevölkerung" ist leitartiklerisch beschönigend, angesichts der Bilder, die der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu über X (früher Twitter) in die Welt schickt, die massive Zerstörungen zeigen. Die Radikalen haben die Oberhand, wie Harald Neuber in seinem Leitartikel schrieb:

Wie konnte es so weit kommen?
Einige Antworten darauf sind unangenehm für diejenigen, die jetzt reflexartig ihre uneingeschränkte Solidarität mit der rechts-religiösen Führung unter Benjamin Netanjahu erklären.

Harald Neuber

Nach dem Tag der "erdbebengleichen Verschiebung" (Le Monde) sollte nicht vergessen werden, dass die israelische Gesellschaft in vielen Wochen zuvor Zeichen großer Erschütterung gegeben hat, die von radikalen antidemokratischen Vorhaben einer radikalen Regierung ausgelöst wurden. Von einer uneingeschränkten Solidarität war man weit entfernt.

Zu den vielen Tausenden Protestieren gehört auch die Organisation Breaking the Silence. Es ist ein Zusammenschluss von Veteranen, die, so die Eigenbeschreibung, "seit Beginn der Zweiten Intifada im israelischen Militär gedient haben und es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Öffentlichkeit mit der Realität des täglichen Lebens in den besetzten Gebieten vertraut zu machen".

Das Minenfeld der Debatte

Ihre Position ist deutlich, die Organisation ist gegen die Besatzung und gegen den Ausbau der Siedlungen im Westjordanland, weswegen sie auch im vergangenen Sommer gegen dahin gehende Regierungspläne protestierte.

Man wolle eine öffentliche Debatte über "den Preis anregen, der für eine Realität gezahlt wird, in der junge Soldaten täglich mit der Zivilbevölkerung konfrontiert sind und den Alltag dieser Bevölkerung mitbestimmen. Unsere Arbeit zielt darauf ab, die Besatzung zu beenden" lautet die Mission.

Nun hat sich die Breaking the Silence auch zur gegenwärtigen Eskalation des Konflikts zwischen der Hamas und Israel zu Wort gemeldet und dabei das Minenfeld einer Debatte betreten, die dabei ist, sich nach einem GWOT-Kampfruf von George W. Bush auszurichten:

"Every nation, in every region, now has a decision to make. Either you are with us, or you are with the terrorists." Übersetzung: "Jede Nation, in jeder Region, muss jetzt eine Entscheidung treffen. Entweder ihr seid auf unserer Seite oder ihr seid auf der Seite der Terroristen."

In diese Falle tappt sie nicht. Auf X schreibt die Organisation:

Um es ganz klar zu sagen: Die Hamas hat Verbrechen begangen, die jeden anständigen Menschen entsetzen sollten. Als Menschen, die die israelische Politik im Gazastreifen und im Westjordanland tagtäglich scharf kritisieren, ist es unsere Pflicht, die Dinge so darzustellen, wie sie sind: Die Hamas hat eklatant gegen die grundlegenden moralischen Normen der Menschheit verstoßen

Es ist unmöglich, die Massaker an Hunderten von Zivilisten zu rechtfertigen - selbst im Namen des antikolonialen Kampfes oder des "Volkskampfes" (i.O. popular struggle). Es ist unmöglich, theoretische Rechtfertigungen für die Entführung von Müttern und ihren Kindern, von Senioren, von Teenagern zu konstruieren.

Der Kampf für die Menschenrechte macht keinen Unterschied zwischen menschlichem Blut. Die Legitimität des Kampfes für die Rechte einer Nation kann nicht als Vorwand dienen, die Rechte einer anderen zu dezimieren. Das ist ein Grundprinzip: nicht nur des Völkerrechts, sondern auch des einfachen moralischen Anstands.

Ohne sie bleibt nur ein Kreislauf blinder, wahlloser Rache. Diejenigen, die eine verdrehte theoretische Logik finden, um ein Massaker zu rechtfertigen, kämpfen nicht für die Menschenrechte und rücken das Ziel der Befreiung weiter in die Ferne.

Breaking the Silence

Angesprochen wird auch die Verzweiflung und eine Emotion, mit der zurechtzukommen ein extremer Kraftakt ist. Appelliert wird an einen weiteren Horizont. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Kriegsgeschehen ausdehnt, ist gegenwärtig präsent.

Fast jeder von uns kennt jemanden, der getötet wurde, der als Geisel genommen wurde oder der in Angst um sein Leben stundenlang in Luftschutzkellern eingesperrt war. Wir sind besorgt um das Wohlergehen unserer Familien, unserer palästinensischen Partner und aller unschuldigen Zivilisten in diesem Land vom Fluss bis zum Meer.

Breaking the Silence

Kein Mensch sollte unter Tyrannei leben, heißt es weiter und:

Deshalb kämpfen wir gegen die kollektive Bestrafung, gegen die Politik der "Aufrechterhaltung der Besatzung" - und werden dies auch weiterhin tun. Gegen die Politik des wahllosen Abschusses in Gaza. Unsere Haltung ist klar: Jeder Mensch hat ein Leben in Sicherheit und Freiheit verdient. Sowohl Israelis als auch Palästinenser.

Breaking the Silence

Müßig zu erwähnen, dass der Appell von Breaking the Silence im augenblicklichen Kriegsfuror keine Chance hat, militärische Angriffe zu stoppen. Aber ihre Stimme wird ernstgenommen. Für Netanjahu ist es ein Widersacher, wenn es um die öffentliche Meinung geht.

Als sich der damalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel im April 2017 mit Vertretren der Organisation und B’Tselem treffen wollte, sagte Netanjahu ein vorgesehenes Treffen mit Gabriel ab.