Israel-Krieg, Moral und Dissens: Offener Brief an einen Freund
Seite 2: Brief an einen Freund zu Israel: "Ist das noch Selbstverteidigung?"
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Vielleicht hätte ich bei unserer Abmachung bleiben sollen. Trotzdem schreibe ich dir. Der Grund ist, dass du eine große Verantwortung trägst. Du berätst in Berlin politische Entscheider in der Frage, wie sie sich zum Konflikt in Israel und Gaza verhalten sollen. Für welche Partei – das spielt dabei keine große Rolle.
Die Position der deutschen Parteien ist so uniform wie selten: Im Vordergrund steht der Kampf gegen Antisemitismus und die aus der Geschichte abgeleitete Verantwortung Deutschlands, an der Seite Israels zu stehen.
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Für die Regierungsparteien muss diese Solidarität "uneingeschränkt" sein, für die FDP gehört beispielsweise auch ein Verbot aller propalästinensischen Versammlungen in Deutschland dazu. Stimmen, die auch die Sorge äußerten, Israels Reaktion dürfe in Gaza nicht zu einer humanitären Katastrophe führen, blieben bisher eine Randerscheinung.
Die Solidarität des Westens mit Israel ist für Deutschland nicht verhandelbar – und das ist gut so. Aber es könnte darum gehen, ob diese Solidarität angesichts der humanitären Katastrophe, die in Gaza in vollem Gange ist, bedingungslos und ob sie gleichbedeutend mit Solidarität mit der rechten Regierung von Benjamin Netanjahu sein soll.
Ja, wir sind uns uneinig. Aber nicht so sehr, wie es auf den ersten Blick scheint. Du beharrst auf Israels Recht auf Selbstverteidigung. Ich auch. Israel hat ein Recht darauf, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen, und gegen Gruppen, die Israels Existenz aktiv bekämpfen, militärisch vorzugehen.
Aber ich frage mich, ob es noch Selbstverteidigung ist, wenn ein Verteidigungsminister die Blockade von Essen, Wasser und Treibstoff für zwei Millionen Menschen anordnet, wenn er diese Menschen zugleich als "menschliche Tiere" bezeichnet.
Du hältst die Hamas für rücksichtslose Terroristen, die zu bekämpfen sind. Auch da sind wir uns vollkommen einig. Ich frage mich nur, ob der Einsatz von weißem Phosphor, einer geächteten Waffe, die zu schweren Verbrennungen auf der Haut führt, ob die Bombardierung ziviler Ziele, wie Journalistenbüros und flüchtender Autokolonnen – "Wir fokussieren auf Schaden, nicht auf Präzision", sagte der israelische Armee-Sprecher –, ob die systematische Vertreibung Hunderttausender Menschen zur Bekämpfung von Terroristen beiträgt.
Ich frage mich auch, wie es möglich ist, dass sich im selben Augenblick, wo der israelische Bombenregen in Gaza Tausende Opfer fordert, der Hamas-Führer Ismail Haniyeh sich in aller Ruhe in Katar mit dem iranischen Außenminister treffen, die Ermordung von über 1.300 Israelis als "historischen Sieg" feiern und eine weitere Kooperation mit dem Unterstützer Iran ankündigen kann. Das alles ohne Konsequenzen: weder für den Hamas-Führer noch für das Regime im Iran.
Auch für dich ist schwer erklärlich, wie die Hamas einen solchen Großangriff an Israels Geheimdiensten vorbei über Monate, vielleicht Jahre vorbereiten konnte. Wie Israel trotz seiner militärischen Übermacht nicht in der Lage war, seine Bürgerinnen und Bürger vor dem Angriff zu schützen.
Du versuchst es trotzdem und nennst "vordigitale Kommunikationsmethoden der Hamas" und die "innenpolitischen und gesellschaftlichen Spannungen" in Israel. Auch hier bin ich bei dir. Aber ich weiß, was du mit Spannungen meinst: den seit Monaten anhaltenden Versuch der Netanjahu-Regierung, den Staat Israel am Willen Hunderttausender protestierender Israelis vorbei in eine Diktatur zu verwandeln.
Und was du auch nicht sagst: Israels militärische Übermacht war zum Zeitpunkt des Angriffs vor allem deshalb empfindlich geschwächt, weil die Hälfte der Soldaten damit beschäftigt war, rechtsextreme Siedler und ihre illegalen Expansionsprojekte im Westjordanland zu unterstützen. Wer Frieden in Nahost will, kann den Kontext der jahrzehntelangen aggressiven Siedlerpolitik, der Enteignung, Entrechtung und rhetorischen Entmenschlichung von Palästinensern nicht einfach ausblenden.
Machen wir eine allerletzte Prämisse, wo wir uns einig sein werden. Die Erhaltung Israels, eines jüdischen Staates, dieser letzten sicheren Heimat für ein Volk, das in der Menschheitsgeschichte Verfolgung, Vertreibung, Pogrome und schließlich das schlimmste Menschheitsverbrechen, den Holocaust, überleben musste, sollte das oberste Ziel der deutschen Nahost-Politik sein.
Doch arbeitet auch Israels rechtsnationale Regierung für dieses Ziel? Ich erinnere dich: Es waren die Hardliner in der israelischen Regierung, die von den 80er-Jahren bis in die Nullerjahre die islamistische Hamas unterstützt haben, um deren Gegenspieler, die nationalistischen, aber säkularen und vergleichsweise gemäßigten Fatah- und PLO-Parteien, zu schwächen.
Und jetzt? Schützt oder schadet die Netanjahu-Regierung ihrem Land, wenn sie Millionen Menschen in ihrer Rhetorik zu "Tieren" macht, wenn sie keine Rücksicht für palästinensische Menschenleben zeigt und sich allein auf militärische Überlegenheit stützt?
Gideon Levy, ein prominenter Journalist bei der israelischen Tageszeitung Haaretz, gab vor einigen Tagen eine klare Antwort darauf:
Israel ist nicht so allmächtig, wie es denkt. Seine militärische Stärke reicht nicht aus, um die Sicherheit seiner Bewohner zu gewährleisten. Noch ist nicht klar, ob Israel daraus die wichtigste Lehre ziehen wird: dass das Land nicht ewig nur mit dem Schwert leben und sich allein auf seine militärische Macht verlassen kann.
Nach Levy wird zweifellos der Tag kommen, an dem Israels militärische Macht und seine internationale Rückendeckung nicht mehr ausreichen werden, um sich gegen die vielen Feinde zu wehren, die man in der Region hat – politische Feinde wie den Iran und die Hamas, aber auch Millionen vermeidbare Feinde wie die entrechteten, enteigneten Palästinenser und ihre Sympathisanten.
Für ihn ist der Terrorangriff der Hamas kein Grund, um die Gewalt gegen Zivilisten zu eskalieren, sondern um eine Politik zu überdenken, die nicht in der Lage war, menschenwürdige Bedingungen sowohl für Israelis als auch für Palästinenser zu schaffen – langfristig die beste Form der Selbstverteidigung.
Wer Israel jetzt aber ermuntert, sich beim Ziel der Selbstverteidigung allein auf militärische Mittel zu stützen, ist mitverantwortlich für Gewalt und Gegengewalt. Nicht nur für die Tausenden zivilen Toten in Gaza, sondern auch für mögliche Vergeltungsmassaker an Juden in der Zukunft, wenn Israels militärische und geheimdienstliche Mittel wieder einmal nicht ausreichen sollten, um seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen.
Und hier wirst du mir wahrscheinlich wieder zustimmen: Dass dieses Szenario plausibel ist, hat der grausame und abscheuliche Überfall der Hamas leider bereits bewiesen.
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