Israel, Palästina und die Lehren der Vergangenheit
Der Krieg in Gaza reißt für viele Palästinenser alte Wunden auf. Doch ihr Leid ist tabuisiert. Was das bedeutet und welche Folgen es haben kann.
Die Nakba (arabisch: النكبة an-Nakbah, wörtlich: "Die Katastrophe") war die ethnische Säuberung der Palästinenser im Mandatsgebiet Palästina während des Palästinakriegs 1948 durch ihre gewaltsame Vertreibung und Enteignung von Land, Eigentum und Hab und Gut sowie die Zerstörung ihrer Gesellschaft, Kultur, Identität, politischen Rechte und nationalen Bestrebungen.
Sie ist eng verbunden mit der Gründung des Staates Israel. Der Begriff wird auch verwendet, um die anhaltende Verfolgung und Vertreibung von Palästinensern durch Israel zu beschreiben.
Traumatische Erfahrung wird ausgegrenzt
Dr. Sarah El Bulbeisi arbeitet als Kulturwissenschaftlerin in Beirut und beschäftigt sich intensiv mit Tabu und Trauma der Nakba. Sie hat im Zuge ihrer Dissertation in München viele Gespräche mit hier lebenden Palästinenser:innen geführt.
"Die Vertreibung der Palästinenser:innen und der Holocaust werden nicht als Teile desselben historischen Prozesses gedacht", sagt sie. In ihrer Promotion und einer Buchveröffentlichung zeigt sie Folgen der Tabuisierung der Nakba für Palästinenser:innen in Deutschland und in der Schweiz auf. "Ich finde es wichtig, über sie und ihre Gefühle zu sprechen", betont sie.
Dies tut sie auch bei Veranstaltungen wie am 9. Februar 2024 in Heidelberg, wo sie gemeinsam mit dem jüdischen Wirtschaftswissenschaftler und Menschenrechtsaktivist Dr. Shir Hever den verengten Blick auf den Nahost-Konflikt hinterfragte.
Die Palästinenserin macht deutlich: "Für die Bewältigung traumatischer Erfahrungen wesentlich ist, wie die Gesellschaft damit umgeht. Traumatische Erfahrung ist also weit mehr als ein individuelles Phänomen.
So wirken etwa wiederkehrende Erfahrungen von Ausschluss, die Tabuisierung von Gewalterfahrungen sowie die Missachtung und das systematische Absprechen der eigenen Wahrnehmung traumatisch." Palästinenserinnen und Palästinenser erlebten solche nicht nur individuell, sondern kollektiv, macht sie deutlich.
Keine Lehren aus der Vergangenheit
"Ich bin erschüttert von dem Mangel der Erinnerungskultur in Deutschland", bekennt Shir Hever. Er ist in Israel geboren und aufgewachsen, ist Mitglied der Organisation Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost und lebt in Deutschland.
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"Ich habe immer gelernt, es gibt diese Erinnerungskultur in Deutschland und man lernt über die Gefahr von Völkermord und wie man Rassismus frühzeitig erkennt, um ihn zu stoppen, bevor es zu spät ist", sagt er.
Nun muss er feststellen, dass er sich getäuscht hat: "Ich glaube, es gibt viele Menschen in Deutschland, die Erinnerungskultur nur respektieren als Mittel, um den Blick nach hinten in die Vergangenheit zu richten."
Nie wieder ist jetzt
Shir Hever lenkt den Blick auf das aktuelle Geschehen in Nahost: "Wenn der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant am 9. Oktober sagte, die Palästinenser:innen sind menschliche Tiere, sie bekommen keine Nahrungsmittel, kein Wasser, keine Medikamente, kein Treibstoff: Was ist das anderes als Entmenschlichung, ein Aufruf zum Völkermord? Und als Verteidigungsminister ist er auch in der Lage, das zu ermöglichen, wir haben das gesehen."
Zehn Tage später sei er in Berlin gewesen als Gast von Pistorius um ein Rüstungsgeschäft zu unterzeichnen, bemerkt der Aktivist und schickt hinterher: "Also Pistorius hat wahrscheinlich keinen Bezug zur Erinnerungskultur." Netanjahu habe einen Krieg erklärt, aber nicht gegen Hamas, sondern gegen alle Palästinenser:innen."
In Israel habe er Erinnerungskultur ganz anders gelernt: "Man muss lernen, um sicherzustellen, dass sich das nicht wiederholt. Also nie wieder! Und nie wieder ist jetzt."
Wiederholte Vertreibungserfahrungen
Sarah El Bulbeisi unterscheidet drei große Migrationswellen: Die Studien- und Arbeitsmigration der 60er-Jahre, die Fluchtmigration aus dem libanesischen Bürgerkrieg in den 80er-Jahren und die jüngste Fluchtmigration der Palästinenser:innen aus den syrischen Flüchtlingslagern.
Sie berichtet über ihre Interviews: "Meine Gesprächspartner der ersten Generation waren vorwiegend Männer, die in den 60er-Jahren nach Deutschland und die Schweiz migrierten und ihre Kinder, die hier geboren wurden.
Sie durften nach der israelischen Besetzung von 1967 nicht mehr nach Hause zurückkehren, wenn sie aus Gaza, Westjordanland oder Ost-Jerusalem stammten. Viele von ihnen verfügen über vielfache Vertreibungserfahrungen, wenn sie 1947/48 bereits als Kinder geflohen waren."
Sie erzählt auch über Gespräche mit Palästinenserinnen und Palästinensern, die in den 80er-Jahren aus dem libanesischen Bürgerkrieg geflohen sind. Sie hätten oft sogenannte Kettenduldungen erfahren, da Deutschland sie nicht als politische Geflüchtete anerkannte und der Libanon aufgrund ihrer offiziellen Staatenlosigkeit sich nicht verpflichtet sah, sie zurückzunehmen, berichtet sie.
Scham und neues Selbstbewusstsein
Die Kulturwissenschaftlerin macht die Folgen deutlich: "Ich zeige, wie für Palästinenser:innen und ihre Kinder die Gewalt nach ihrer Vertreibung anhält. Weil die physische Gewalterfahrung in Palästina, die Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft und Identität, im Exil auf einer symbolischen, sprachlichen Ebene und durch antipalästinensischen Rassismus fortgesetzt und wiederholt wird."
Dies habe zur Selbstauflösung, zu Gefühlen der Unsichtbarkeit, Abwesenheit, Schuld und Scham im Innern und Selbstverneinung im Äußeren geführt, kurz gesagt, zu einer traumatischen Existenz, so El Bulbeisi.
"Aber während die erste Generation in ihrem Trauma gefangen bleibt, beginnen ihre Kinder, es in Handlungsmacht umzuwandeln, die sozial verworfene Identität und Geschichte zurückzuerobern und Selbstverneinung durch Sichtbarkeit zu ersetzen", beschreibt sie das neu erwachte Selbstbewusstsein.
Unterdrückung palästinensischer Stimmen
"Das Tabu der siedlerkolonialen Gewalt, deren Betroffene Palästinenser:innen sind, ist in Deutschland und in der Schweiz gesellschaftlich tief verankert", stellt Sarah El Bulbeisi fest und führt aus: "Es kommt als soziale Norm und gesellschaftlicher Konsens zum Ausdruck und äußert sich in im- und expliziten Sprechverboten, aber auch in Denk- und Fühlverboten.
Wie keine Empathie und Solidarität zu fühlen. Das Tabu ist so wirkmächtig, dass nicht nur die Gewalterfahrung, die Palästinenser:innen erleiden, sondern Palästinensisch-Sein und palästinensische Sichtbarkeit an sich zu etwas sozial Verworfenem wird."
Shir Hever spricht das Thema Meinungsfreiheit an: In den vergangenen Monaten sei er vielfach in seiner Rolle als Geschäftsführer des Vereins ‚Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinenser‘ oder als Mitglied der ‚Jüdischen Stimme‘ angefragt worden, etwas zu sagen über palästinensische Rechte, gegen Zensur und gegen diese Unterdrückung von palästinensischen Stimmen. "Es gibt viele verhaftete Menschen und Verbote verschiedener Parolen wie "from the River to the Sea, Palestine will be free", stellt der Menschenrechtsaktivist fest und merkt an: "Netanjahu sagt regelmäßig, 'from the River to the Sea, Palestine is ours', aber das wird nicht bestraft."
Erinnerungskultur bleibt im Rückspiegel gefangen
"Ich glaube, es gibt viele Menschen in Deutschland, die Erinnerungskultur nur respektieren als Mittel, um den Blick nach hinten in die Vergangenheit zu richten", sagt Shir Hever. Und das gehe so: "Wenn wir sagen, dass wir in Deutschland diese Geschichte haben, dass unsere Großeltern im Holocaust Jüd:innen ermordet haben, dann ist das unsere Identität, dann sind wir gute Deutsche, das wäscht unsere Seele."
Es gebe, vor allem in Deutschland, die Idee, ein Staat sei wie eine Entschädigung: Also, wenn die Nazis Völkermord gegen die Jüd:innen begangen haben, sei die Lösung, dass die Jüd:innen einen Staat bekommen:
Also, Entschuldigung: Das ist keine Lösung. Das ist keine Wiedergutmachung. Das wird von der großen Mehrheit der Jüd:innen der Welt nicht akzeptiert. Und natürlich ist es auch wichtig zu sagen, dass der Staat Israel nicht von Deutschland geschaffen wurde. Aber viele in Deutschland wollen vielleicht glauben, dass Israel existiert, nur weil Deutschland es unterstützt, mit U-Booten, mit Geld und mit Gebeten in evangelischen Kirchen.
Aber jetzt – mitten in einem Völkermord in Gaza – höre er von verschiedenen Politiker:innen und vor allem in Deutschland: Die Israelis seien außer Kontrolle, sie töteten so viele Zivilisten, da müsse jetzt eine Zwei-Staaten-Lösung her. "Ein Staat oder zwei Staaten, das ist absolut irrelevant, wie viele Staaten es gibt. Es geht um Menschen, es geht um Rechte, und das müssen auch die Menschen in Deutschland endlich verstehen."
Maßstab müssen Menschenrechte und Völkerrecht sein
Shir Hever ist als Jude Mitglied der internationalen BDS Bewegung. "Es geht um die gemeinsame Zukunft, denn die Situation in Palästina, die voller Gewalt ist, auch schon vor dem 7. Oktober, wird wie jede koloniale Beziehung früher oder später zu einem Ende kommen", sagt er. Die Frage sei, wie.
Als Negativbeispiel nennt er den schmerzhaften Dekolonisierungsprozess in Algerien mit fast einer Million Opfern allein durch die französische Armee. "Die BDS Bewegung sucht einen anderen Weg, einen demokratischen Weg, der Menschenrechte und das internationale Völkerrecht respektiert." "Was wäre, wenn …?", habe die kanadische Autorin Naomi Klein nach dem 7. Oktober geschrieben und sich dabei auf den BDS-Aufruf bezogen, der 2005 von palästinensischen Gruppen gestartet wurde. "Was wäre, wenn wir ihnen zuhören würden?"
Dr. Sarah El Bulbeisi: "Tabu, Trauma und Identität: Subjektkonstruktionen von PalästinenserInnen in Deutschland und der Schweiz, 1960-2015" (transcript, Bielefeld 2020).
Dr. Shir Hever: Die Politische Ökonomie der israelischen Besatzung ‒ Unterdrückung über die Ausbeutung hinaus (ISP, Köln, 2014)
Der Artikel basiert auf der Podiumsdiskussion zum Nahostkonflikt "Für eine gemeinsame Zukunft von jüdischen Israelis und PalästinenserInnen" mit Dr. Sarah El Bulbeisi, Dr. Shir Hever, Moderation Prof. Ulrich Duchrow. Hier eine Videoaufzeichnung