Israel: Wo ist die Linke?

Foto: Uri Avnery (im Bild rechts), 1965 / CC BY-SA 4.0

Sie ist nur mehr eine kleine Minderheit. Ein Erklärungsversuch

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Kurz vor seinem Tod äußerte der legendäre israelische Friedensaktivist Uri Avnery (vgl. Frieden zwischen Palästina und Israel ist möglich):

Wir haben eine ekelhafte Regierung, die gar nicht daran denkt, Frieden zu schließen. Ein palästinensischer Staat neben unserem Territorium ist für Benjamin Netanjahu total undenkbar. Frieden ist nicht erwünscht. Die Linke ist nur eine kleine Minderheit.

Uri Avnery

Avnery persönliche politische Sozialisation verlief entgegengesetzt zu der Israels. Während er sich vom Rechtsaußen-Aktivisten seiner Jugend zu einem zu linken Friedenskämpfer entwickelte, rückte Israel - ursprünglich ein nach eigener Definition sozialistischer Staat -immer weiter nach rechts.

Wie kam es dazu, dass die einst dominante Arbeiterpartei heute nur noch eine untergeordnete politische Rolle spielt und das einst von Ben Gurion verfemte Rechtsaußen-Lager heute die politische Landschaft dominiert?

Staatsgründer David Ben Gurion war sowohl Vorsitzender der Arbeiterpartei, der Mapai, sowie der Jewish Agency, welche die jüdische Gemeinschaft in Palästina vor der Staatsgründung vertrat. Diese Amtsfülle führte dazu, dass nach den dramatischen Tagen der Staatsgründung und dem Unabhängigkeitskrieg die Arbeiterpartei nicht nur die kulturelle Hegemonie besaß, wie es Gramsci in einem anderen Zusammenhang eins formuliert hatte, sondern auch die Macht in den Händen hielt.

Sozialisiert in den Arbeiterbewegungen

Der Grund hierfür lag in der historischen Tatsache begründet, dass die politischen Führer der Gründerjahre, hauptsächlich in den osteuropäischen Arbeiterbewegungen, vorwiegend in der polnischen, in den ersten Jahren und Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts sozialisiert wurden.

Diese Machtstrukturen wurden schon vor der Staatsgründung gelegt, beispielsweise durch die Gründung der Gewerkschaft Histadrut, die schon 1920 erfolgte und eben der Mapai, der Arbeiterpartei, zehn Jahre später. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung verfassten also Partei und Gewerkschaft, die sich beide als sozialistisch definierten, jene zionistische Staatsform, die für Israel Gültigkeit besitzen sollte.

Bei aller Dynamik, mit der Ben Gurion einen säkular-sozialistischen Staat aus der Taufe hob, war er sich tief im Inneren des unglaublichen Unterfangens wohl bewusst, an der Küste des Nahen Ostens aus dem Nichts einen neuen Staat zu schaffen, der die zweitausendjährige Diaspora der Juden negierte - einen modernen Staat, der aber gleichzeitig an die biblische Zeit anknüpfte, an jene prähistorischen Königreiche Davids und Salomons, welche schon vor Jahrtausenden in der Nacht der biblischen Geschichte verdämmert waren.

Überleben

Aber wahrscheinlich ging es Ben Gurion wie vielen Juden aus Mittel-Osteuropa, für die der Zionismus schon vor der Shoa nicht nur eine Perspektive ermöglichte, sondern auch das Überleben. Der weltbekannte Schriftsteller Amos Oz, dessen Eltern gleicher Herkunft waren und aus einem ähnlichen Milieu stammten wie die von Ben Gurion, äußerte diesbezüglich in einem Gespräch mit dem Verfasser dieses Beitrages:

Meine Eltern und auch meine Großeltern waren so etwas wie enttäuschte und verschmähte Liebhaber Europas. Sie haben sich bis zu ihrer Übersiedlung nach Palästina weder als Litauer, Polen oder Russen definiert, sondern immer als Europäer und Kosmopoliten. Und das zu einer Zeit, als dieses sehr gefährlich war.

Mein Vater sprach bis zu elf, meine Mutter vier bis fünf Fremdsprachen; mir haben sie einzig und alleine Hebräisch beigebracht. Sie wussten von der Ausstrahlungskraft und Verführungskunst der europäischen Kultur und wollten mich vor den Enttäuschungen ihres Lebens und vor den von diesem Kontinent ausgehenden Gefahren für Juden der 1930er und 1940er Jahre des letzten Jahrhunderts bewahren.

Amos Oz

Gleich zu Beginn legte Ben Gurion fest, mit wem seine Arbeiterpartei niemals koalieren würde. Zum einen nicht mit der Kommunistischen Partei und zum anderen nicht mit den Revisionisten, den rechten Parteien, den Vorläufern der heutigen Likud-Partei.

In den ersten dreißig Jahren regierte die Arbeiterpartei, wahlweise in Koalition mit kleinen linken Gruppierungen oder religiösen Parteien, nahezu uneingeschränkt. Damals war die Demokratie in Israel, wie auch in anderen westlichen Staaten, enger gefasst als heute.

Natürlich gab es freie Wahlen und prinzipiell Meinungs- und Pressefreiheit. Doch die Mapai dominierte die Gesellschaft weit über ihre parlamentarische Arbeit hinaus. Arbeitsplätze wurden über politische Klientelwirtschaft vergeben, den zahlreichen Neueinwanderern wurde gesagt, wen sie zu wählen haben.

Es waren zwei historische Ereignisse, die dieses Phänomen beendeten.

"Die Existenzkrise kommt den Religiösen zugute"

Zum einen der grandiose Sieg Israels im Sechs-Tage-Krieg 1967. Parallel zur Entwicklung in der arabischen Welt, wo die vernichtende Niederlage zu einer Abkehr der brodelnden Volksmassen von den westlichen Politikmodellen wie Nationalismus und Sozialismus führte und der Weg hin zum politischen Islam begann, fand auch in Israel eine rasante Rückkehr der Religion in das politische System statt.

Ein israelischer Soziologe drückte dieses Phänomen wie folgt aus: "In den Stunden der Prüfung und des Triumphes verstärkte sich bei uns der religiöse Flügel. Als wir 1967 den wunderbaren Sieg errungen hatten, über unsere versammelten Feinde, spürte ich bei mir selbst - und ich bin ein recht ungläubiger Jude - die mystische Erschütterung und den Finger Gottes. Jetzt ist es wieder so weit. Die Existenzkrise, die sich unerbittlich abzeichnet, kommt den Religiösen zugute."

Unmittelbar nach dem Ende dieses Krieges wurde die Bewegung Ganz-Israel, Eretz Israel Ha’schlemah gegründet, die eine Art Blut- und Boden-Ideologie vertrat mit Blick auf die besetzten Gebiete, aber auch darüber hinaus. Der Gründer dieser Bewegung, der schon 1940, also lange vor der Staatsgründung verstorbene Schriftsteller Se’ev Jabotinsky hatte einst folgende Territorialansprüche für Israel skizziert.

Nach seinen Vorstellungen hätte Israel nicht nur das gesamte Westjordanland umfasst, sondern auch Transjordanien - nicht nur den jetzigen Staat und alle palästinensischen Gebiete, sondern auch das heutige Königreich Jordanien.

Zum anderen führten die demographischen Veränderungen, überwiegend durch die Masseneinwanderung hervorgerufen, zu einer Veränderung der politischen Präferenzen der Wähler.