Israel und Hamas: Was hat sich verändert?
Angeheizte Konflikte in Israel, die neue Qualität des Raketenkriegs und Aufschwung für die Hamas. Zwischenbilanz zur Waffenruhe im Gaza-Krieg
Seit heute Nacht ist Waffenruhe zwischen der israelischen Armee und der Hamas, dem islamischen Dschihad im Gazastreifen. Bislang soll die Abmachung halten, garantiert ist dies nicht; die politischen Auseinandersetzungen gehen weiter.
Die Spannungen bleiben aufgeladen. Sie betreffen nicht nur das Verhältnis zwischen der israelischen Führung und der Hamas sowie deren Verbündeten, sondern auch die Verhältnisse innerhalb Israels.
Viele glauben, wie auch ich, dass die wahre Bedrohung bei der Operation "Wächter der Mauern" der interne Konflikt ist und nicht so sehr der Raketenbeschuss aus Gaza. Ich möchte das tödliche Sperrfeuer, das Häuser und Leben im Land zerstört hat, nicht herunterspielen. Aber während Gaza irgendwo "da drüben" ist, müssen wir hier in Israel neben unseren arabischen Nachbarn aufwachen. Viele von ihnen sind Ärzte, Lebensmittelladenbesitzer, Autohändler, Bauarbeiter, Restaurantbesitzer. Wir leben Seite an Seite. Jeden Tag. Wie wird unsere Beziehung aussehen, wenn das alles vorbei ist?
Arthur Schwartzman, Israel heute
Eskalation der Gewalt in israelischen Orten
Was die Eskalation der Gewalt in israelischen Orten angeht, gibt es viel aufzuarbeiten, wie unterschiedliche Berichte anzeigen. So etwa der Bericht aus Lod, wie ihn das Magazin +972 veröffentlicht hat, der eine Anschauung dessen gibt, was sich jenseits der Schlagzeilen der größeren Medien in den Orten abgespielt hat und mit welchen Problemen die Bewohner konfrontiert sind. Der +972-Autor schreibt von einer Protestwelle, in Lydd (Lod) und in anderen Städten, "wie wir sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben".
Den Autoren des Magazins wird von Kritikern eine Voreingenommenheit gegenüber den "Palästinensern" vorgeworfen. Das Magazin nimmt eine Position ein, die mit dem politischen Verblassen der Linken seltener geworden ist; man kann es mit kritischem Blick lesen, um den Horizont zu vergrößern.
Manches, was dort zur Sprache kommt, etwa die Ausschreitungen von jüdischen Extremisten wird auch von anderer Seite in den Blick genommen. So etwa vom israelischen Polizeichef Kobi Shabtai, der der Agitation der extremen jüdischen Rechten eine Verantwortung für die "riots" in arabisch-jüdischen Städten gibt.
Auch andere Stimmen weisen deutlich auf diesen Problemkomplex. So etwa die Publizistin Bari Weiss, die sich in einem längeren Artikel Gedanken über die spezifischen Gründe macht, warum sich die Gewalt "gerade jetzt und auf diese Art und Weise entfaltet" hat. Dabei erwähnt sie auch Fehler der israelischen Regierung und spricht die Radikalen auf der israelischen Seite an:
Zunächst hätte sie die Unruhen in Jerusalem taktvoller handhaben können. Netanjahus Regierungskoalition, hätte er es geschafft, sie zu bilden, hätte wahrscheinlich Israels eigene Ethno-Nationalisten eingeschlossen. Es sind Menschen mit abscheulichen, rassistischen Ideen, die indiskutabel bleiben sollten. Und obwohl Israels Politik in Bezug auf Ostjerusalem viel komplizierter ist, als die Medien für gewöhnlich glauben machen wollen, werden Sie von mir keine Verteidigung dafür finden.
Bari Weiss, Die Welt
Das soll hier erwähnt werden als Gegengewicht zu schlicht gehaltenen Analysen, die etwa mit dem Klischee auftrumpfen, dass Kritik an Israels Regierung nicht möglich sei. In der Hauptsache bestätigt dies die Dimension der Probleme, mit der es die israelische Politik im Inneren zu tun hat. Der Rechtskurs, den Netanjahu seit vielen Jahren eingeschlagen hat, ermutigt Bewegungen, die auf Konfrontation mit arabischen Israelis aus sind.
Die Verschärfung der Konflikte zwischen israelischen Juden und Arabern ist eine der Veränderungen, die man für den eben - hoffentlich auf längere Zeit - beendeten Krieg als neu, beunruhigend und irritierend herausstellen kann. Vor der militärischen Auseinandersetzung gab es häufige Zeichen, dass auch ein friedliches Zusammenleben nicht nur möglich ist, sondern gut funktioniert. Gerade für die Ein-Staaten-Lösung, die in den letzten Jahren als stärkste Zukunftsoption gehandelt wurde, ist das wichtig.
Die Opfer-Bilanz
Die größte Aufmerksamkeit in den internationalen Medienberichten zum Waffenstillstand liegt freilich beim Konflikt zwischen Israel und der Hamas und dem islamischen Dschihad. Ausgehandelt wurde er maßgeblich durch ägyptische Vermittlung, auch Katar spielte eine Rolle, und ganz sicher hat das Drängen des US-Präsidenten Biden auf Netanjahu, den er angeblich seit 40 Jahren kennt, eine Hauptrolle gespielt. Die vielen zivilen Toten in Gaza haben die Verhandlungen angetrieben, heißt es. Die New York Times bilanziert wie folgt:
Die israelische Luft- und Artilleriekampagne tötete laut Gaza-Gesundheitsministerium mehr als 230 Menschen in Gaza, viele von ihnen Zivilisten, und beschädigte die Infrastruktur des verarmten Territoriums schwer, einschließlich des Frischwasser- und Abwassersystems, des Stromnetzes, der Krankenhäuser, Schulen und Straßen. Das primäre Ziel war das ausgedehnte Tunnelnetzwerk der Hamas für den Transport von Kämpfern und Munition, und Israel versuchte auch, Hamas-Führer und Kämpfer zu töten. Mehr als 4.000 Raketen wurden seit dem 10. Mai aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert und töteten 12 Menschen, meist Zivilisten.
New York Times
Bekanntlich setzen an den Opfer-Bilanzen die verschiedenen politischen Legitimationserzählungen an, das ist seit den Anfängen des israelisch-palästinensischen Konflikts so, und dazu wissen sicher die Leser im Kommentarfeld wesentlich mehr.
Augenfällig bleibt die wiederum hohe Zahl der zivilen Opfer aufseiten der Bewohner des Gaza-Streifens, die Fragen an die israelische Aufklärung und der Vorgehensweise der israelischen Armee stellen wie auch an der Art, wie die Hamas und die anderen islamistischen Milizen mit der Zivilbevölkerung im Gazastreifen umgehen. Wie der Generationswechsel dort aussieht, stellt sich nach der jüngsten kriegerischen Auseinandersetzung neu?
Wie groß der Rückhalt für die Hamas tatsächlich ist, gehört zu den vielen schwierigen Fragen in einem abgeschlossenen Gebiet, in dem die Hamas Politik und Ton vorgibt und Dissidenten, die ihre Abweichung öffentlich äußern, viel riskieren.
Militärische Neuerungen ...
Militärisch wird es eine größeren Nachbearbeitung aufseiten der israelischen Führung dazu geben, von welcher Qualität die unterschiedlichen Raketen im Arsenal der Hamas und der anderen Milizen sind, ob sich nicht nur die Menge verändert hat, sondern auch die Reichweite und die Zielgenauigkeit. Es gab auch strategische Ziele der Raketen.
... und Neuerungen in einem Nahost-Bündnis
Politisch gehört zur vorläufigen Bilanz, dass die Hamas den Waffenstillstand wie einen Sieg feiert, was propagandistisch naheliegt, wofür es aber auch realistische Gründe gibt.
Die Islamisten, die das Existenzrecht Israels anfechten, haben die säkulare Vertretung der Palästinenser, die Fatah, erneut in den Schatten gestellt. Sie sind relevanter. Dass es Zeichen der Annäherung zwischen der Hamas und iranischen Vertretern gab, könnte auch bei anderen Konflikten im Nahen Osten eine Rolle spielen.
Es gab eine große Kluft zwischen Iran und der Hamas beim Krieg in Syrien. Die Hamas-Führung unterstützte die islamistische, dschihadistische Opposition gegen Baschar al-Assad. Iran ist eng mit der syrischen Regierung verbunden. Verbündeter Teherans im Gazastreifen war die Miliz "islamischer Dschihad".
Welche Konsequenzen die wiedergefundene Nähe zwischen den iranischen Revolutionsgarden und der Hamas haben wird, gehört zu den politisch interessanten Folgerungen des gerade beendeten kriegerischen Schlagabtausches zwischen Israel und den Milizen im Gazastreifen.