Israelisch-Palästinensischer Dialog, der den Namen verdient
Das Buch "Angst im eigenen Land" zeigt, auf welcher Grundlage eine Annäherung zwischen Palästinensern und Israelis stattfinden könnte
Neun SchriftstellerInnen und Intellektuelle israelischer und palästinensischer Herkunft haben sich auf Einladung des in Deutschland lebenden syrischen Autors Rafik Schami vor etwas mehr als einem Jahr an der Eidgenössisch Technischen Hochschule in Zürich zum Thema "Angst im eigenen Land" unterhalten. Die Ergebnisse der Debatten liegen inzwischen in schriftlicher Form vor. Seit der Veranstaltung in Zürich hat sich die Situation im Nahen Osten allerdings überhaupt nicht in jene Richtung entwickelt, wie sie den Teilnehmenden damals vorschwebte. Trotzdem ist das Buch "Angst im eigenen Land" ein eindrückliches Dokument, das zeigt, wie mit gegenseitigem Respekt und Unvoreingenommenheit erste Hürden abgebaut werden könnten.
Die Episode ist symptomatisch. Während der zweitägigen Veranstaltung im Mai vor einem Jahr soll eine Zuhörerin ihrer Nachbarin zugeflüstert haben: "Ich habe vergessen, wer ist hier Jude und wer Araber?" Diese Frage taucht auch während der Lektüre von "Angst im eigenen Land" unwillkürlich auf. Nach anfänglichem Rumblättern in den AutorInnenporträts lässt man es aber bleiben. Die Frage nach der Herkunft der Schreibenden erscheint - trotz der nationalistisch aufgeladenen Thematik - mit zunehmender Vertiefung in die Beiträge kaum mehr relevant. Dies ist einerseits der leitenden Fragestellung "Angst im eigenen Land" geschuldet, andererseits sind es die hybriden Identitäten eines Teils der AutorInnen, die eine dualistische Zuschreibung gar nicht erst zulassen. Rafik Schami sucht als Gastgeber der Veranstaltung und Herausgeber des Bändchens einleitend nach Definitionen von "Angst". Dies im Sinne einer Prämisse, wonach es die Angst sei, die einer Annäherung von Arabern und Juden, Israelis und Palästinensern maßgeblich im Wege stehe.
Das grösste Angstpotential ortet Schami dabei bei jenen Fragen, die sich im Hinblick auf ein allfälliges friedliches Zusammenleben stellen, wie zum Beispiel: "Werden die Gesellschaften mit dem Verschwinden des Krieges leben können?". Damit wird ein Bereich angeschnitten, der in der Folge bei manchen Autoren auftaucht und mit dem Selbstverständnis sowohl der israelischen als auch der palästinensischen Gesellschaft zu tun hat: Jener der Viktimisierung. Die Eigendefinition als Opfer sei auf beiden Seiten der Konfliktlinien ein konstitutives Element, das einen Dialog erschwere, so die These. Oder vereinfacht ausgedrückt: Es handle sich um die "Konkurrenz um den ultimativen Opferstatus", wie dies etwa die Schweizer Journalistin Isabelle Werenfels in einem zusammenfassenden Beitrag feststellt. An beide Seiten gerichtet, fordert Ilan Pappe, ein an der Universität von Haifa lehrender Politologe und Vertreter der sogenannten "Neuen Historiker", "das Opfersein des anderen anzuerkennen oder, was weit darüber hinausgeht, sich selbst als 'Viktimisierer' des 'anderen' zu erkennen".
Dies hätte allerdings auf jüdischer Seite zur Folge, den Krieg von 1948 auch unter Aspekten wie Recht und Gerechtigkeit zu betrachten, also auch die Bereitschaft zu zeigen, dass damals Kriegsverbrechen begangen wurden. Pappe weist in seinem Beitrag auf die bislang in Israel noch kaum vorhandene Bereitschaft hin, eine solche Sichtweise überhaupt als möglich in Betracht zu ziehen. Aus palästinensischer Sicht thematisiert der in einem Flüchtlingslager im Libanon aufgewachsene und in London lebende Schriftsteller Samir El-Youssef die mangelnde Bereitschaft den verinnerlichten Opferstatus abzulegen. El-Youssef geht gar soweit zu behaupten die schlimmste aller Ängste sei jene, "des Opfers davor, nicht mehr als Opfer zu gelten." Die Konsequenz daraus sei letzten Endes eine moralische Gleichgültigkeit, die sich einzig vom Schuldgefühl der anderen nährt.
Wenn auch zwischen Selbstmordattentaten und Siedlungen zermalmenden Panzerraupen wenig Raum bleibt, um identischen kollektiven Denk- und Verhaltensmustern auf beiden Seiten des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern nachzuspüren, so ist der vorliegende Band ein Versuch, aus tradierten Denkschemata auszubrechen. Manchmal sogar mit einer entwaffnenden Offenheit, um nicht Naivität zu sagen. So etwa wenn die junge israelische Autorin Lea Aini auf die an sich selbst gerichtete Frage "Habe ich Angst vor den Palästinensern?" knapp und ohne weitere Umschweife mit einem Nein antwortet. Viel größer sei ihre Angst als Schriftstellerin, dass ihr Manuskript in die Hände eines konservativen, chauvinistischen und glatzköpfigen Lektors gerate. Ein Vergleich, der überrascht. Aini steht für eine Generation junger Israeli, die nicht mehr bereit ist, im Namen der "nationalen Sache" Vorurteile zu pflegen. Mit dieser - trotz biografischer Prägung - unvoreingenommenen Herangehensweise und dem Selbstverständnis als Künstlerin Brücken bauen zu können, sieht es Aini als eines der Postulate, die Angst abzuschaffen. Auf ihre eigene Zukunft bezogen, sieht die Schriftstellerin gar nicht erst wovor sie sich fürchten sollten, denn "vor hypothetischen Fragen, vor Ideen oder vor Unbekannten kann man keine Angst haben."
Obwohl bei der Lektüre von "Angst im eigenen Land" die tagtäglich medial vermittelten Konfliktlinien ins Wanken geraten und sich dabei für den Beobachter neue Sichtweisen auftun, wird man bei einzelnen Beiträgen unwillkürlich auf den Boden der Realität zurück geholt. Der nach einem längeren Aufenthalt in New York nun in Ramallah lebende palästinensiche Filmemacher Subhi Zobaidi etwa kann die Offenheit seiner israelischen Altersgenossen und Künstlerkollegen kaum teilen. In seinem Text werden die aktuellen Machtverhältnisse in aller Deutlichkeit klar. Zobaidi beschreibt, wie er als Schüler beobachtete, wie israelische Soldaten auf ein Kind einschlugen. Diese Erinnerung versetze ihn noch heute "in jene Stimmung, die mir damals den Boden unter den Füßen entzog." Ein Zitat des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak aufgreifend, der einmal Israel im Umkreis von 1500 Kilometern als mächtigstes Land definiert hatte, spricht Zobaidi von demselben Abstand, der ihn von jedem israelischen Bürger trenne.
So gelungen der Dialogversuch im Rahmen des Projekts "Angst im eigenen Land" insgesamt zu werten ist und man sich wünscht, dass er nicht nur in akademischer Trautheit eine Fortsetzung findet, so ernüchternd ist der Blick auf das gegenwärtige Geschehen im Nahen Osten. Zwischentöne, wie sie vom Filmer Zobaidi zu vernehmen sind, verdeutlichen zudem, dass trotz dem vorhandenen Bewusstsein um historisch von beiden Seiten verübten Unrechts die aktuelle Konstellation ein klares oben und unten kennt.
Rafik Schami (Hrsg.), Angst im eigenen Land, Nagel & Kimche, Zürich