Israels geheimer Krieg gegen den Internationalen Strafgerichtshof – und sein Scheitern
Guardian, +972 decken massive Kampagne auf. IStGH-Chefankläger und -Mitarbeiter wurden ausspioniert, verleumdet, mutmaßlich bedroht. Chronik eines Skandals.
Israel soll einen fast zehnjährigen "Krieg" gegen den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) geführt haben. Das ist das Ergebnis einer gemeinsamen Recherche des britischen Guardian, des israelischen Magazins +972 und des ebenfalls in Israel ansässigen Mediums Local Call.
Netanjahu "besessen" von Operation gegen IStGH
Danach sollen die israelischen Geheimdienste eingesetzt worden sein, um hochrangige IStGH-Mitarbeiter zu überwachen, ihre Kommunikation zu hacken, sie unter Druck zu setzen, zu verleumden und angeblich auch zu bedrohen, um die Ermittlungen des Gerichtshofs zu behindern.
Ein ehemaliger israelischer Geheimdienstmitarbeiter sagte laut Recherchen, das "gesamte militärische und politische Establishment" Israels habe die Gegenoffensive gegen den IStGH "als einen Krieg betrachtet, der geführt und gegen den Israel verteidigt werden muss. Der Vorgang wurde in militärischen Begriffen beschrieben."
Netanjahu hat sich sehr für die Geheimdienstoperationen gegen den Internationalen Strafgerichtshof interessiert und wurde von einer Geheimdienstquelle als "besessen" von abgefangenen Informationen über den Fall beschrieben.
Wir wissen, wo Du lebst
Die Recherchen können sich auf Interviews mit mehr als zwei Dutzend amtierenden und ehemaligen israelischen Geheimdienstoffizieren und Regierungsbeamten, hochrangigen IStGH-Vertretern, Diplomaten und Anwälten, die mit dem Fall und Israels Bemühungen, ihn zu unterminieren, vertraut sind.
Seit Palästina dem Gerichtshof im Januar 2015 beitrat, soll der "Krieg" begonnen worden sein. Der Beitritt wurde von israelischen Regierungsvertretern als "diplomatischer Terrorismus" bezeichnet.
Die damalige Chefanklägerin des Gerichtshofs, Fatou Bensouda, leitete kurz nach dem Beitritt Voruntersuchungen zur Lage in Palästina ein. Daraufhin sollen laut Guardian-Quellen, die mit dem IStGH-Vorgang vertraut sind, zwei Männer bei ihr Zuhause in Den Haag erschienen sein.
Sie übergaben ihr einen Umschlag mit Hunderten US-Dollar und einer Notiz mit einer israelischen Telefonnummer. Der Brief soll im Namen einer nicht benannten deutschen Frau übergeben worden sein.
Damit habe Israel der Chefanklägerin deutlich machen wollen, so die Quellen, dass man wisse, wo sie lebe. Der IStGH meldete den Vorfall den niederländischen Behörden.
Gehackte E-Mails und abgehörte Anrufe
Als später eine umfassende IStGH-Untersuchung drohte, zwischen 2019 und 2021, verschärfte Israel seine Kampagne. Der damalige Direktor des Auslandsgeheimdienstes Mossad, Yossi Cohen, zu jener Zeit enger Netanjahu-Vertrauter, sollte den Druck auf den Gerichtshof und insbesondere auf Bensouda verstärken.
Man hatte bereits über die Jahre zuvor bei geheimen Treffen von hochrangigen israelischen Delegationen mit Vertretern des IStGH versucht, Einfluss zu nehmen, um zu erreichen, dass die Chefanklägerin den Fall nicht weiter verfolgt. Dabei konnte Israel auf gehackte E-Mails und abgehörte Anrufe zurückgreifen.
Fünf Quellen, die mit den Aktivitäten des israelischen Geheimdienstes vertraut sind, sagten den Journalisten vom Guardian und +972, dass dieser routinemäßig die Telefongespräche von Bensouda und ihren Mitarbeitern mit Palästinensern ausspioniert.
60 Personen unter verdeckter Überwachung
Insgesamt sollen 60 Personen überwacht worden sein, zur einen Hälfte Palästinenser, zur anderen Hälfte Vertreter aus anderen Ländern, darunter UN-Beamte und IStGH-Mitarbeiter.
Eine der Quellen erklärte, der israelische Inlandsgeheimdienst Shin Bet habe sogar Pegasus-Spähsoftware auf den Telefonen mehrerer palästinensischer Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen sowie zweier hoher Beamter der Palästinensischen Autonomiebehörde installiert.
Auf diese Weise wollte man herausfinden, um welche spezifischen Vorfälle es bei einer zukünftigen Strafverfolgung durch den IStGH gehen könnte, um den israelischen Ermittlungsbehörden die Möglichkeit zu geben, in diesen Fällen "rückwirkend Ermittlungen einzuleiten".
Der IStGH befasst sich im Unterschied zum Internationalen Gerichtshof, der ebenfalls in Den Haag sitzt, mit Verbrechen von Einzelpersonen, aber nur, wenn sie nicht bereits Gegenstand von ernsthaften Ermittlungen und Strafverfahren vor anderen Gerichten sind. An diesem Punkt setzte die israelische Führung an, um den IStGH zum Einlenken zu bewegen.
Der geheim gehaltene Selbstwiderspruch
Mit dem Ausspähen und den geheimen Treffen konnte sich Israel zwar einen Vorteil beim Internationalen Strafgerichtshof verschaffen. Das war aber insofern heikel, als man den Gerichtshof und seine Autorität gar nicht anerkannte, ihn aber jetzt mit hochrangigen Delegationen aufsuchte, um ihn zu beeinflussen. Es durfte also nicht öffentlich werden.
Diese Form der Lobbyarbeit endete jedoch im Dezember 2019, als Bensouda erklärte, dass es eine "vernünftige Grundlage" gebe dafür, dass sowohl Israel als auch bewaffnete palästinensische Gruppen in den besetzten Gebieten Kriegsverbrechen begangen haben.
Nun sollte es der Mossad-Chef Cohen richten, Bensouda von der Untersuchung abzubringen. Cohen hatte bereits seit Jahren immer wieder Kontakt zur Chefanklägerin gesucht, sie mit Überraschungsbesuchen "aus dem Hinterhalt" in Hotelzimmern und unerwünschten Anrufen in Beschlag genommen, so die Berichte von Guardian und +972.
Bedrohung der Chefanklägerin Bensouda
Als er spürte, dass die IStGH-Chefanklägerin sich nicht davon beeindrucken ließ, soll sein Verhalten laut den befragten Quellen immer bedrohlicher und einschüchternder geworden sein. Zu einem bestimmten Zeitpunkt soll Cohen Bemerkungen über Bensoudas Sicherheit gemacht und mit den Folgen für ihre Karriere gedroht haben, falls sie die Ermittlungen fortsetzt. Cohen und Bensouda haben sich auf Guardian-Nachfrage nicht dazu geäußert.
Als Chefanklägerin hat Bensouda ihre Begegnungen mit Cohen jedoch einer kleinen Gruppe innerhalb des IStGH offiziell mitgeteilt, um zu Protokoll zu geben, dass sie ihrer Meinung nach "persönlich bedroht" worden sei, so die von den Medien interviewten Personen, die mit den Vorgängen vertraut sind.
Zugleich haben Quellen dem Guardian erklärt, dass der Mossad Material erhalten habe, wonach eine verdeckte Operation gegen Bensoudas Ehemann laufe. Teile dieser Informationen sollen von Israel an westliche Diplomaten weitergegeben worden sein, um die Chefanklägerin zu diskreditieren.
Auch die USA assistierten dabei, den Gerichtshof zu attackieren. Als Bensouda Ermittlung im Fall Afghanistan, u.a. gegen US-Militärpersonal, eröffnete, erließ die Trump-Regierung 2020 Sanktionen gegen sie und einer ihrer Spitzenbeamten. Das soll laut Guardian-Quellen auch mit den Palästina-Ermittlungen zu tun gehabt haben.
Doch all die Drohungen und Beeinflussungsversuche waren am Ende nicht erfolgreich. Bensouda kündigte kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit im März 2021 eine umfassende Untersuchung im Palästina-Fall an.
Nachfolger Khan: Als sich die Realität änderte
Ihr Nachfolger, Karim Khan, sah Palästina nicht als Priorität an. Von Israel wurde seine Ernennung als positives Zeichen angesehen.
Doch das änderte sich mit dem Überfall auf den Süden Israels durch militante Hamas-Mitglieder am 7. Oktober und dem anschließenden Krieg Israels gegen den Gazastreifen. Khan besuchte daraufhin den ägyptischen Rafah-Grenzübergang zu Gaza und warnte die israelische Regierung vor einem Angriff auf Rafah.
Lesen Sie auch:
UNRWA und Co: Netanjahus Krieg gegen die Wahrheit
"Diejenigen, die sich nicht an das Gesetz halten, sollten sich später nicht beschweren, wenn mein Büro Maßnahmen ergreift."
Aus vom israelischen Geheimdienst abgefangenen E-Mails und Textnachrichten von Khan und seinem Büro sowie ausspionierten Gesprächen zwischen palästinensische Politikern habe Israel dann entnehmen können, dass ein Antrag auf Haftbefehle gegen israelische Regierungsvertreter bevorstehe. Das erklärten mit den Informationen vertraute Quellen den recherchierenden Medien.
Drohmaschine auf Hochtouren
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu rief daraufhin in öffentlichen Erklärungen dazu auf, dass die "freie Welt" sich "entschieden gegen den Internationalen Strafgerichtshof" stellen müsse. Er müsse mit allen Mittel gestoppt werden.
"Israels Regierungsbeamte und Soldaten als Kriegsverbrecher zu brandmarken, gießt Öl ins Feuer des Antisemitismus", warnte Netanjahu. Eine Gruppe prominenter republikanischer US-Senatoren schickte einen Drohbrief an Khan: "Wenn Ihr Israel ins Visier nehmt, dann nehmen wir Euch ins Visier."
Ein Sprecher des IStGH erklärte, Khans Büro sei "verschiedenen Formen von Drohungen und Mitteilungen ausgesetzt gewesen, die als Versuche angesehen werden können, seine Aktivitäten unangemessen zu beeinflussen".
Doch die Einschüchterungsoffensiven führten nicht zum gewünschten Ziel. Khan kündigte letzte Woche an, gegen Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Joaw Galant sowie gegen drei Hamas-Mitglieder Haftbefehle wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu beantragen.
Einmischungen als Straftat
Dabei erklärte er:
Ich bestehe darauf, dass alle Versuche, die Beamten dieses Gerichts zu behindern, einzuschüchtern oder in unzulässiger Weise zu beeinflussen, sofort eingestellt werden müssen.
Er verwies auf eine Klausel im Gründungsvertrag des Gerichtshofs, die derartige Einmischungen als Straftat kennzeichnet. Khan machte deutlich, dass sein Büro nicht zögern werde, dementsprechend zu handeln.
Der Haftbefehl-Antrag Khans unterminiert sicherlich die Legitimität von Israels Krieg in Gaza weiter. Schon der Internationale Gerichtshof, der sich mit Verbrechen von Staaten beschäftigt, sprach in einem Beschluss von "plausiblem Genozid" und fordert in einem aktuellen Urteil Israel zu einem sofortigen Stopp der Rafah-Invasion, zur ungehinderten Öffnung des Grenzübergangs dort und zum Beenden jeglicher Handlungen auf, die das Überleben der Palästinenser in Gaza bedrohen.
Doch Israel hält sich nicht daran und setzt die Gaza-Angriffe auch auf Rafah fort. Nach einer Bombardierung dort in der Nacht zum Montag wurde ein Zeltlager mit Flüchtlingen getroffen und tötete 45 Menschen und verletzte 110 weitere in einem Flächenbrand. Die Bilder von verkohlten und zerstückelten Kindern erzeugten weltweit einen Aufschrei.
Die schützende Hand der Biden-Regierung
Die Vereinigten Staaten halten trotz der eskalierenden humanitären Katastrophe und den Kriegsverbrechen daran fest, Israel vor Konsequenzen zu beschützen. US-Präsident Joe Biden nannte Khans Vorgehen gegen die israelischen Beamten "empörend". Außenminister Antony Blinken deutete an, dass das Weiße Haus bereit sei, mit Mitgliedern des Kongresses an einer Gesetzgebung zur Bestrafung des internationalen Tribunals zu arbeiten.
Mehrere US-Abgeordnete haben Regierung und Parlament ebenfalls aufgefordert, Sanktionen gegen den IStGH zu verhängen, nachdem das Gericht die Haftbefehle beantragt hatte. Es wird befürchtet, dass Israel und die USA Druck auf die IStGH-Richter ausüben werden, damit sie Khans Anträge ablehnen.