Ist Architektur umweltschädlich?

"Weder Hütten noch Paläste" ist der Titel einer Streitschrift. Der Autor warnt nicht nur vor falschen Wachstumserwartungen. Krampfhaftes Streben nach Individualität kann auch deren Ende sein.

Aristoteles hat die Beziehung zwischen Körper und Seele einmal mit einem Gleichnis erläutert. Für ihn ist demnach die Vorstellung entscheidend, dass ein Lebewesen nicht an seiner Erscheinung, sondern an seinem Tun und den Reaktionen auf seine Umwelt zu erkennen ist.

Analoges müsste, nach dem expliziten Anspruch Günther Moewes, auch für die Architektur gelten. Und für unsere Lebenswirklichkeit. Mit einem kämpferischen Buch versucht der Professor emeritus zu verdeutlichen, dass wir weder Hütten noch Paläste brauchen, sondern ein neues Bewusstsein. Schließlich geht es (längerfristig) um unser aller Überleben.

Wobei es zu bedenken gilt: "Bessere Architektur, intaktere Städte und Landschaften entstehen nicht durch Ästhetikstudium, Umweltverträglichkeitsprüfungen oder noch so intelligente Pilotprojekte, sondern erst, wenn die Wirtschaftsweise verändert worden ist, wenn wir die Existenzberechtigung von der Arbeit abgekoppelt haben." Ihm vorzuwerfen, nicht grundsätzlich genug zu argumentieren, ist nachgerade absurd. Stückwerk ist seine Sache nicht.

Kaum eine Branche hat die Irrtümer heutiger Ökonomie so sehr verinnerlicht wie das Bauwesen.

Günther Moewes

Mit diesem Satz beginnt der Autor sein Vorwort zur Neuausgabe – 27 Jahre nach der Erstveröffentlichung wurde. Lange war das Buch vergriffen. Die "Streitschrift" hat wenig an Aktualität eingebüßt – es ist also dringend notwendig, sie sich wieder zu Gemüte zu führen. Darin geht es um "Architektur und Ökologie in der Arbeitsgesellschaft".

Günther Moewes
Weder Hütten noch Paläste. Architektur und Ökologie in der Arbeitsgesellschaft – Eine Streitschrift
Nomen Verlag, Frankfurt a.M. 2021
264 S., 46 s/w Abb.
ISBN 978-3939816782
20,– Euro

Abgesehen vom Vorwort wurde die Originalfassung nicht überarbeitet, damit, wie es im Klappentext heißt, "deutlich wird, wie wenig von den Erkenntnissen bis heute tatsächlich umgesetzt wurde". Exemplarisch solle man sich bloß einmal das Wirtschaftswachstum Chinas für das Jahr 2021 mit 8,1 Prozent vorstellen. Diese Produktivität kann eigentlich nur mithilfe eines Energieaufwands realisiert werden, die unsere menschlichen Kräfte übersteigt: die fossile Energie.

Durch den Zugriff des Menschen auf die fossilen Energien gelang es in der Geschichte der Galaxie erstmalig einer Art, ihren Energieverbrauch und ihre Population über das Sonnenlimit hinaus auszudehnen.

Günther Moewes

Es sind zwei sehr unterschiedliche Aspekte, die die besondere Qualität des Buches ausmachen. Zum einen der pointierte, direkte, hin und wieder polemisierende Stil. Zum anderen wird die Frage der Architektur und des Städtebaus nicht als abgelöst von Wirtschaftssystem behandelt, sondern als eine von ihm abhängige Entwicklung verstanden.

Wir erhöhen unsere Produktion, Exportüberschuss, Umweltzerstörung letztendlich nur, um dadurch demokratisch weitgehend unkontrollierte internationale Finanzmacht zu erzeugen.

Günther Moewes

Moewes problematisiert sehr beredt unsere Art der Ökonomie, die das Wachstum als zentrale Prämisse gesetzt hat. Beispiel Bauwirtschaft:

Wenn eine Stadt 100.000 Wohnungen hat und jährlich 4.000 Wohnungen hinzukommen – wieviel Prozent Wachstum sind das? Es ist Nullwachstum. Zwar wächst die Stadt in dieser Zeit unaufhörlich weiter. Ihr Wohnungsbestand verdoppelt sich nach 25 Jahren. Aber die Wohnungsproduktion bleibt stets gleich. Um ein gleichbleibendes Wachstum von 4 Prozent zu erzielen, muss unsere Stadt im ersten Jahr 4.000, im zweiten schon 4.160 (4 Prozent von 104.000), im dritten 4.326, im zwanzigsten 8.426 und im dreißigsten Jahr 12.475 Wohnungen hinzubauen. Sie verdoppelt ihren Wohnungsbestand schon nach 18 Jahren und verdreifacht ihn nach 28.

Günther Moewes

Schlüsselbegriff der Moewes'schen Theorie ist freilich die Entropie. Er entstammt der Physik, und basiert auf dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, demzufolge in einem geschlossenen System alle Vorgänge nur in einer Richtung ablaufen: von Zuständen höherer zu Zuständen niedriger Ordnung. Entropie ist der Grad dieser stets zunehmenden Vermischung und Zerstreuung; sie ist demnach ein Zustand und kein Vorgang.

Auch die Erde stellt sich als weitgehend geschlossenes System dar, da die einzig nennenswerte Größe, die eindringt, die Sonneneinstrahlung ist. In solchen Systemen aber entsteht eine Zielenergie oder Zielmaterie nur durch gleichzeitige Vermehrung der Entropie an anderer Stelle. Das gilt nicht nur für das Recycling, sondern auch für die primäre Produktion. Die Kraft einer Dampfmaschine z.B. kann nur durch eine ungleich höhere Produktion von sinnloser Abfallwärme erzeugt werden.

Energie kann niemals mit Neubauten eingespart werden

Der Autor reflektiert damit den Zusammenhang zwischen Bauen und Energieverbrauch – mit einer Erkenntnis, die zwar ein ums andere Mal bestätigt wurde, aber bislang ohne echte Konsequenzen blieb:

Energie kann niemals mit Neubauten, sondern nur mit Altbauten oder reinen Ersatzbauten eingespart werden. Auch Energiesparhäuser sparen keine Energie, sondern verringern nur den Mehrverbrauch.

Günther Moewes

Doch wir verbrauchen stetig mehr. Und da unser ganzes Wirtschaften so – und nur so – funktioniert, stehen wir offenkundig vor einem gravierenden, quasi naturgesetzlichen Problem. Genau das will Moewes drastisch vor Augen führen. Zugleich ruft er dazu auf, das Ruder endlich herumwerfen: was bemerkenswert schon deshalb ist, weil er in Dortmund für die Industrialisierung des Bauens zuständig war.

Mit seinen Forderungen sieht der Autor sich gleichsam historisch legitimiert. Er versteht Evolution als ständig gesteigerte Differenzierung, als Entfaltung von Unverwechselbarkeit. Doch diesem Prinzip wirke heute ein stetiger Prozess der Vermischung, Entdifferenzierung, Nivellierung, ein kontinuierlicher Verlust von Unverwechselbarkeit diametral entgegen. Beschäftigung ist dabei nach Moewes der Fetisch, an dem festgehalten wird, der als Existenzberechtigung verklärt wird, noch das Receycling basiere auf der unsinnigen Forderung, Natur möglichst beschäftigungsintensiv zu schonen.

Er benennt die Zentrifugalwirkung der Bodenpreise und "die unsichtbaren, globalen Konzentrationen von Wirtschafts- und Finanzmacht", denen kleine Idyllen – er nennt sie Schutzinselchen – gegenüberstehen: "Landschaft gerät zur Mickey-Maus-Natur."

Allgemeines Streben nach Individualität führt zum Ende der Individualität

Auch zum aktuellen Thema Kreislaufwirtschaft weiß er Kritisches beizutragen: Sie ist nur möglich, wenn wir den Altbestand nutzen, Füllstruktur und Hüllstruktur voneinander trennen und für die Wiederverwertbarkeit von Bauteilen auf umfassende Standardisierung, verbindliche Staffelung von Abmessungen, Größen und Spannweiten setzen.

Und mit Blick auf Architektur und Zivilisation heißt das für ihn:

Unverwechselbarkeit bedeutet eben nicht Einmaligkeit und Neuigkeit um jeden Preis, an jedem Tag und an jeder Ecke. Genau diese aus den public-relations-Mechanismen des Wirtschaftens geborene Novitätensucht führt in die Entropie, in den überall gleichen Brei aus punktuell Anderem.

Günther Moewes

Wenn alle auf dem Individualitätstrip seien, komme dies dem Verlust von Individualität gleich. Überall das unterschiedslose Gemisch extremer Unikate: Das wäre die Höchstform städtebaulicher Entropie.

Dabei geht es ihm nicht um die Architektur allein. Vielmehr will er eine fundamentale Weichenstellung. Zunächst skizziert er, alles andere als freundlich-distanziert, die heutigen Rahmenbedingungen: Er kritisiert das Wachstumsparadigma, räsoniert sowohl über die Korruption unserer Wahrnehmung als auch über Beschäftigungsstaat und Vermeidungsgesellschaft, bevor er das, was er summarisch das Jahrhundert der Vermischung nennt, rückbezieht auf die Architektur.

Einen kranken Zahn glaubt er dabei im Funktionalismus auszumachen, weil mit dessen Grundkonzept die öffentlichkeits- und identitätsbildende Kraft der Zwischenräume geleugnet wurde. Stadtplanung war plötzlich "wie das Ausstechen von Weihnachtsplätzchen: die Gebäude waren die gemeinten Sterne, Herzen und Monde, und der Zwischenraum war das Übriggebliebene, Zufällige, Gegensatzlose, quasi der Abfall. Die Ressource Raum wurde in nutzlosen Restmüll verwandelt. Raum-Entropie."

Mit rhetorischen Fragen wird der Leser geschickt in die Spur gesetzt. "Was nützt es, wenn wir immer schneller an jeden Punkt der Welt gelangen können, dort aber überall das gleiche Einheitsgemisch aus Konsum-, Schlaf-, Tourismus- und Fast-food-Architektur vorfinden?"

Dabei könne das Umlenken so schwierig nicht sein. Zumal die "rationalen, wissenschaftlich begründeten Erkenntnisse darüber, wie ökologische Architektur aussehen müsste", längst vorliegen.

Ihr Transfer in das Bauen bleibt allerdings weitgehend aus. Wo sollte er auch erfolgen? Hochschulen, Fachmedien, Wettbewerbe und Verbände haben hier eine weitgehend retardierende Funktion. Sie perpetuieren entweder die alte Ästhetik oder promovieren auf der Jagd nach neuen Reizen die Tagesmoden.

Günther Moewes

Wohingegen das, was als nachhaltige Architektur reüssiere, lediglich den Eindruck des Umweltgerechten zu erwecken versuche – durch Vermischung mit Grün und Natur.

Das wirkliche ökologische Bauen ist dem "konventionellen" Bauen des frühen 20. Jahrhunderts ähnlicher als der heutigen Meinungsarchitektur.

Günther Moewes

Beispielsweise seien Karl-Josef Schattners Umbauten in Eichstätt, der Wohnungsbau eines Otto Steidle oder die Bauten von Thomas Herzog "gewiss ökologischer als die vielen freistehenden, kurzlebigen, begrünten Holzhäuschen des vermeintlich ökologischen Bauens."

Dem Autor ist jedoch nicht daran gelegen, die Architektenschaft zum Sündenbock zu stempeln.

Die Koppelung der Existenzberechtigung an die Arbeit macht alle Tätigen aus Eigeninteresse zu Verbündeten von Verschwendung und Zerwirtschaftung. Die Beschäftigungsgesellschaft ist letztlich die Ursache aller vermeidbaren Entropie.

Günther Moewes

Was Moewes anspricht, ist zwar keineswegs neu, wird dafür jedoch in ungewohnten Zusammenhängen gesehen. Seine mitunter erfrischende Polemik verhilft so mancher Einsicht zu mehr Nachdruck. Dabei mag die ein oder andere Forderungen schon mal übers Ziel hinausschießen: Dass etwa die Ballungsräume aufzuteilen wären "in überschaubare Einheiten etwa von der Größe der alten Renaissancestädte, in denen die umgebende Landschaft von jedem Punkt aus fußläufig oder mit dem Rad zu erreichen wäre". Das widerspricht nicht nur allen Erfahrungen, sondern scheint einigermaßen nostalgisch.

Dennoch sei Moewes Buch dringend empfohlen. Mag es bei seiner Erstauflage im Jahr 1995 auch als Fundamentalopposition dahergekommen und von eher kulturpessimistischer Provenienz gewesen sein – heute liest es sich doch deutlich anders: Denn die Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts geben ihm auf drastische Art recht. Insofern ist es heute weniger ein streitbares Pamphlet, als vielmehr eine veritable Denkschrift.

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