Ist Bergkarabach gefallen?
Die aserbaidschanische Armee ist in die militärisch und symbolisch wichtige Stadt Schuschi vorgedrungen
Gestern feierten türkische Nationalisten im Ruhrgebiet mit Autokorsos. Anlass dafür war ihnen eine Rede von Ilham Alijew, in der der aserbaidschanische Langzeitpräsident den Eindruck erweckte, dass seine Armee die in Bergkarabach gelegene Stadt Şuşa (armenisch: Schuschi) einnahm. Von armenischer Seite wurde eine vollständige Einnahme bislang nicht bestätigt. Hier meldete das Verteidigungsministerium lediglich sehr schwere Gefechte. Russische Beobachter berichten aber, dass die aserbaidschanische Armee bereits am Samstag in die Stadt vorgedrungen ist.
Militärische und symbolische Bedeutung
Arajik Harutjunjan, der Präsident der abgespaltenen Region, hatte in einer Rede im Oktober gewarnt, wer Schuschi kontrolliere, der kontrolliere Bergkarabach. Die hoch gelegene Stadt ist nämlich von großer militärischer Bedeutung, weil sich von dort aus die tiefer gelegene Hauptstadt Stepanakert beschießen lässt. Außerdem führt durch sie die wichtigste Verbindungsstraße zwischen Stepanakert und dem armenischen Goris.
Schuschi ist aber auch von großer symbolischer Bedeutung für Armenier und Aserbaidschaner, weil es dort mehrere Massaker und Vertreibungen gab. 1916 waren 53,3 Prozent ihrer damals 43.869 Einwohner Armenier und nur 43,6 Prozent schiitische Türken (Azeris). Das änderte sich im März 1920, als türkische und aserbaidschanische Truppen fast alle Armenier ermordeten oder vertrieben.
Bei der nächsten Volkszählung 1926 stellten die Armenier dann nur noch eine Minderheit von 1.8 Prozent der jetzt nur mehr 5.104 Einwohner, von denen nun 96,4 Prozent Türkisch sprachen. Nach einer zeitweisen leichten Erholung des armenischen Bevölkerungsanteils stieg der Anteil der Türken zu Beginn des Unabhängigkeitskriegs Ende der 1980er Jahren durch erneute Vertreibungen sogar auf 98 Prozent von nun 15.039 Einwohnern.
Entsprechend lange hielt sich die aserbaidschanische Armee in Schuschi. Bei den Operationen, die sie von dort aus durchführte, wurde sie damals von einer Tschetschenenmiliz unterstützt, die der berüchtigte Massenmörders Schamil Bassajew befehligte1 (vgl. Tschetschenischer Terroristenführer Bassajew ist tot).
Als es den Armeniern 1992 schließlich gelang, Schuschi einzunehmen, flüchten fast alle seiner nun aserbaidschanischen Bewohner, weil sie Vergeltungsakte befürchteten. Einen Teil ihrer Häuser bezogen einige der etwa 250.000 Armenier, die 1989 und 1990 aus Baku, Xanlar, Schahumjan und Lənkəran und anderen aserbaidschanischen Städten vertrieben worden waren. Trotzdem lag die Einwohnerzahl von Schuschi 2015 mit 4.446 bei nur etwa einem Zehntel des Standes von 1916.
Der Großteil dieser 4.446 Einwohner dürfte bereits wieder geflohen sein. Ebenso wie insgesamt etwa die Hälfte der Einwohner von Bergkarabach, die sich unter anderem wegen der öffentlichen Äußerungen des aserbaidschanischen Präsidenten und wegen des Einsatzes von Dschihadisten aus Syrien anscheinend keine guten Chancen auf ein Überleben im Falle eines Verbleibs ausrechnet (vgl. Armenien vs. Aserbaidschan: Gestern Tschetschenen, heute Syrer?).
Auch die Griechen fürchten Erdoğan
Die syrischen Dschihadisten wurden den Aserbaidschanern französischen und russischen Geheimdiensterkenntnissen nach über die Türkei vermittelt. Sie belieferte Aserbaidschan (neben Israel) auch mit Drohnen, mit denen die Abwehr der Armenier in den letzten sechs Wochen ausgeschaltet werden konnte. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte Ende September getwittert, Armenien sei eine Bedrohung für die ganze Region und "die türkische Nation" stehe "mit all ihren Möglichkeiten an der Seite ihrer aserbaidschanischen Geschwister".
Damit weitet Erdoğan auch seinen eigenen Einflussbereich aus - ebenso wie er das in Syrien und im Mittelmeer macht, wo es deshalb zu Spannungen mit Zypern und Griechenland kam. In Griechenland beklagte der Außenminister in diesem Zusammenhang am Wochenende, man werde "durch deutsche Waffen in den Händen der Türkei bedroht". Dort weckt Erdoğans "neoosmanische" Politik unter anderem Erinnerungen an osmanische Gräuel wie das Massaker von Chios, dem man im April 2022 zum zweihundertsten Mal gedenken wird. Damals hatte der Sultan nicht nur alle männlichen Bewohner der Insel töten lassen, die älter als zwölf Jahre waren, sondern auch alle Frauen, die älter waren als Vierzig - und alle Kinder, die jünger waren als Zwei. Der Rest - etwa 45.000 Menschen - wurde in die Sklaverei verkauft.
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