Ist Rassismus oder Ausländergewalt in Chemnitz das Problem?

Seite 2: Linke sollten nicht die Position des Staatsschutzes übernehmen

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Es ist natürlich völlig berechtigt, darauf hinzuweisen, mit welchem Polizeiaufgebot die Staatsmacht im letzten Jahr gegen eine Antifa-Demo in Wurzen vorgegangen ist. Doch das kann aus einer linken und eigentlich auch aus einer liberalen Perspektive nicht dazu führen, dass nun beklagt wird, dass nicht auch in Chemnitz SEK eingesetzt wird.

Auch die Titulierung der Chemnitzer Demonstrationen als "Aufmärsche" oder "Aufzüge" ist zu hinterfragen. Solche Begrifflichkeiten werden in der Regel bei Demonstrationen angewandt, die den liberalen Rahmen, den die Staatsmacht wünscht, überschreiten. Dabei nehmen erst einmal Menschen mit unterschiedlicher politischer Gesinnung ein Demonstrationsrecht wahr. Es ist für eine Linke klar, dass sie sich gegen rechte Positionen auf der Straße wendet, auch mit Gegendemonstrationen und Blockaden.

Es ist aber nicht sinnvoll, sich dabei auf die Position einer Polizeibehörde zu begeben, die solche Demonstrationen möglichst ganz verhindern will. Dabei sollte man auch die Taktik der Überskandalisierung hinterfragen. Die harten Polizeieinsätze gegen linke Demonstrationen werden dadurch vorbereitet, indem wochenlang vor Gewalt gewarnt wird wie im Vorfeld von Wurzen.

Es sind vor allem diese rechten Bürger, die jetzt in Chemnitz auf die Straße gehen, die dann harte Hand gegen die Linke fordern. Nun sollten diese nicht den Fehler machen, eine ebenso harte Hand gegen die Rechte zu fordern. Und es ist auch noch eine illusionäre Forderung, weil repressive Staatsorgane strukturell rechts sind, was sich auch an Polizeieinsätzen gegen Punks und Unangepasste in der DDR zeigte.

Jetzt also die Staatsmacht aufzufordern, sie solle doch jetzt mal genau so hart gegen Rechte wie gegen Linke vorgehen, zeugt von der Schwäche der Linken. Da hilft es auch nicht, wenn man dann besonders drastische Begriffe für die Zustände in Chemnitz benutzt und von "Pogromen" auf den Straßen der Stadt spricht.

Damit wird man auch den Opfern von tatsächlichen Pogromen in der Vergangenheit und Gegenwart nicht gerecht. Vor allem besteht die Gefahr, dass durch solche alarmistischen Meldungen die Sensibilität für reale Probleme sinkt. Denn manchen, die in den letzten Tagen in Chemnitz auf der Straße waren, sind solche Gedanken durchaus zuzutrauen.

Der geleakte Haftbefehl

Das Fehlen einer linken Position wurde auch bei dem geleakten Haftbefehl deutlich. Was auch immer das Motiv des verantwortlichen Justizangestellten gewesen ist, im Sinne der Transparenz von staatlichen Akten ist nicht einzusehen, warum solche Dokumente geheim bleiben sollen.

Es geht dabei nicht um den Schutz des Verdächtigten, sondern um Staatsschutz. Daran sollte sich eine Linke nicht beteiligen. Die Rechte kann daraus nur Vorteile ziehen, weil scheinbar alle Anhänger des weltoffenen Lagers hier die Staatsraison verteidigen. Dabei kann mit dem Haftbefehl, die in rechten Netzwerken verbreitete Story von den 25 Messerstichen widerlegt werden können, die zur Emotionalisierung der rechten Klientel diente.

Das aber bedeutet nicht, die tödlichen Stiche irgendwie zu relativieren oder unter den Tisch zu kehren. Auch hier konnte das rechte Lager von den Fehlern der anderen Seite profitieren. Anfangs schien der Tote fast nur eine Fußnote und die rechten Demonstrationen standen im Mittelpunkt für das weltoffene Lager. Die Rechte konnte dann noch damit punkten, dass das Opfer einen kubanischen Vater hatte und man so kein Rassist sein könne.

Warum konnte die Ablehnung der rechten Demonstrationen auf Seiten der Gegner nicht verbunden sein mit einer Kritik an den zuweilen toxischen Männergruppen, die dann auch Tote in Kauf nehmen?

Dabei sollten ausdrücklich keine ethnischen Zuschreibungen gemacht werden. Die Täter handelten nicht als Syrer, Iraker etc., sondern als Individuen in konkreten Lebenssituationen. Wieweit dabei Prägungen in ihren Heimatländern, auf der Flucht oder bei ihrem Leben in Deutschland eine Rolle spielen, muss Gegenstand von weiteren Ermittlungen sein.

Zwangshomogenisierung unterschiedlicher Wirklichkeiten

Doch schon jetzt ist klar, dass die Zwangsunterbringung von Migranten an Orten, wohin sie nie wollten, solche Taten eher fördern als verhindern, weil damit auch eine Zwangshomogenisierung völlig unterschiedlicher Individuen verbunden ist, die nur eines gemeinsam haben: Dass sie aus dem gleichen Land oder der gleichen Region geflohen sind.

Die Gründe dafür sind so unterschiedlich wie ihre Lebensrealitäten. Da können ehemalige syrische IS-Kämpfer und ihre Opfer im deutschen Flüchtlingsheim zwangsweise zusammen treffen. Der Kampf gegen diese Zwangshomogenisierung der Migranten müsste ebenso Teil einer linken Praxis "nach Chemnitz" sein wie die Abwehr der Romantisierung von Flucht und Migration, wie sie in Teilen der Refugees-Welcome-Bewegung anzutreffen war.

Jenseits von rassistischen Ressentiments und Verklärung

Der preisgekrönte Film Global Family, der noch bis 3.9. in der Arte-Mediathek abgerufen werden kann, bietet ein solches Bild jenseits von rassistischen Ressentiments und Verklärung. Am Beispiel einer somalischen Familie wird gezeigt, wie auch innerhalb der Familie selbst gegen eine 90-Jährige Gewalt ausgeübt wird. Man will den Wunsch der alten Frau unterstützen, in Deutschland, wo einer ihrer Söhne lebt, ihre letzten Jahre zu verbringen und bekommt Wut auf die Verhältnisse, die das verhindern.

Man bekommt aber auch einen Grimm auf ihren Sohn, der lieber sein ungebundenes Leben weiterführen will, als seiner Mutter ihren Herzenswunsch zu erfüllen. Denn die Übersiedlung der Mutter nach Deutschland scheitert im Film zumindest daran, dass er keine geregelte Arbeit und auch keine geeignete Wohnung für sie nachweisen konnte.

Nun hätte man annehmen können, dass so ein Nachweis mit etwas Anstrengung hätte beigebracht werden können. Es ist nur eins von vielen Beispielen, wo man sich einen differenzierten Blick wünscht. Das ist die Voraussetzung, dass eine Linke auch wieder Mehrheiten in der Bevölkerung gewinnen kann.

Momentan ist da in Chemnitz wenig Hoffnung. Die Teile der Bevölkerung, die für eine Orbanisierung Deutschlands eintreten, sind nicht offen für linke Themen und da kann sie sich auch alle Versuche sparen.

Doch die Linke soll sich vorbereiten auf Situationen, in denen die Zumutungen der kapitalistischen Gesellschaft auch durch die Ethnisierung des Sozialen und Politischen nicht zugekleistert werden können.