Ist Solidarität unter rationalen Egoisten möglich?

Eine Computersimulation

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Computersimulationen kollektiven Verhaltens werden auch zu einem Teil einer neuen praktischen Philosophie im digitalen Zeitalter. Rainer Hegselmann, der Philosophie an der Universität Bayreuth lehrt, ist in Deutschland Vorreiter dieser digitalen Philosophie. Hier stellt er das Ergebnis einer Computersimulation vor, die das Verhalten von Individuen, die auf ihren Vorteil bedacht sind, untersucht. Wie entsteht unter Marktbedingungen der Konkurrenz Solidarität? Eine Frage, die gerade auch politisch in einer Zeit der Globalisierung und der neoliberalen Ideologie interessant ist, in der den Staaten die Regulierungsmacht zu entgleiten droht.

Würden Solidarnetzwerke in einer Welt entstehen, die ausschließlich von rationalen Egoisten bevölkert ist, deren natürliche Ausstattungen ungleich sind, die dabei ihre Partner selber suchen müssen und dies vorteilsorientiert tun?

Eine Frage wie diese ist von grundlegender sozialtheoretischer Bedeutung, denn ihre Beantwortung gibt z.B. Hinweise auf die Tragfähigkeit, Grenzen und Schwierigkeiten ordnungspolitischer Paradigmen. Viele werden bestimmte Intuitionen darüber haben, wie die Frage zu beantworten sei. Wer allerdings an einer genauren, transparenten und kontrollierbaren Antwort auf die Frage interessiert ist, der kann es nicht bei seinen Intuitionen belassen. Er (oder sie) wird das Problem präzisieren, modellieren und bestimmte Dynamiken simulieren müssen. Ich möchte im folgenden zeigen, daß genau dies mit Blick auf die Frage nach den Chancen der Solidarität in einer egoistischen Welt durchaus möglich ist und zu überraschenden Einsichten führt.

Um die eingangs aufgeworfene Frage zu beantworten, müssen zunächst zwei Gruppen von Modellierungsproblemen gelöst werden: (1) Wie kann man überhaupt Solidarbeziehungen modellieren? (2) Wie kann vorteilsorientierte Partnersuche modelliert werden?

Solidarbeziehungen werde ich durch ein bestimmtes Spiel, das Solidaritätsspiel, charakterisieren.

a. Das einfache Solidaritätsspiel

Das Solidaritätsspiel ist ein 2-Personen-Spiel, in dem beide Spieler jeweils mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit p1 bzw. p2 hilfsbedürftig werden. Den ersten Zug des Spiels macht Spieler 0, die Natur. Entsprechend den Wahrscheinlichkeiten p1 und p2 entscheidet sie darüber, ob keiner, beide, nur Spieler 1 oder nur Spieler 2 hilfsbedürftig werden. Es kann also sein, daß niemand hilfsbedürftig wird oder auch beide zugleich hilfsbedürftig werden. Im ersten Fall braucht niemand Hilfe, im zweiten Fall kann niemand helfen. Wer selbst hilfsbedürftig ist, kann dem anderen prinzipiell nicht helfen. Wer hingegen selbst nicht hilfsbedürftig ist, muß sich entscheiden, ob er einem hilfsbedürftigen Mitspieler hilft oder nicht. Je nachdem, wie der Zug des Spielers 0 ausgeht ist, ist daher im Anschluß entweder keiner, Spieler 1 oder aber Spieler 2 am Zuge.

Hinsichtlich der Auszahlungen sei angenommen, daß Hilfe zu erhalten für den Bedürftigen mit dem Nutzen G ("Gerettet werden"), keine Hilfe zu erhalten hingegen mit dem Nutzen E ("Ertrinken") verbunden sei. Naheliegenderweise gelte G > E. Für einen in der jeweiligen Periode selber nicht Bedürftigen, der seinem bedürftigen Mitspieler nicht hilft, sei die Auszahlung W ("Weitergehen"). Wer hingegen helfen kann und dies auch tut, der erhalte die Auszahlung H ("Helfen"). Angesichts der Aufwendigkeit von Hilfeleistungen sei angenommen, daß W > H.

Wird dieses Solidaritätsspiel genau einmal zwischen den Spielern gespielt, dann sieht man sofort, daß ein Spieler, der dem anderen helfen könnte, dies niemals täte: An dem Entscheidungsknoten, an dem Spieler 2 entscheiden muß, ob er dem anderen hilft oder nicht, kann er durch Helfen den Nutzenwert H, durch Nicht-Helfen hingegen den Nutzenwert W erreichen. Nach Voraussetzung gilt W > H. Ein rationaler Spieler 2 wird daher dem anderen nicht helfen.

Eine ganz analoge Überlegung gilt für Spieler 1 an dem ihn betreffenden Entscheidungsknoten. Im einmal gespielten Solidaritätsspiel ist daher für rationale Spieler Solidarität nicht möglich. Das Fatale daran ist, daß dies auch dann gilt, wenn beide Spieler durch wechselseitige Solidarität in einem bestimmten Sinne gewinnen könnten. Beidseitig vorteilhaft wäre wechselseitige Solidarität genau dann, wenn für jeden der beiden Spieler die zu erwartenden Solidaritätsgewinne größer sind als die zu erwartenden Solidaritätskosten. Etwas genauer: Wechselseitige Solidarität ist beidseitig vorteilhaft genau dann, wenn für alle Spieler i,j (i(j) gilt:

(1) pi (1-pj)(G -E) > pj (1-pi) (W-H)

Ich möchte dies die Vorteilhaftigkeitsbedingung nennen. Daß rationale Spieler trotz erfüllter Vorteilhaftigkeitsbedingung das einfache Solidaritätsspiel nicht solidarisch lösen können, liegt dann daran, daß sich die beidseitige Vorteilhaftigkeit nur solange zeigt, wie Spieler 0, also die Natur, noch nicht entschieden hat, wer der Hilfsbedürftige sein wird. Ist durch die "Lotterie des Lebens" später entschieden, wer hilfsbedürftig ist, dann hat ein nicht hilfsbedürftiger Spieler keinerlei Anreiz mehr, dem anderen zu helfen - mögen sich beide Spieler vor Beginn des Spiels auch noch so innig die zu diesem Zeitpunkt noch beidseitig vorteilhafte, wechselseitige Hilfe versprochen haben.

b. Das Gefangenen-Dilemma

Das Solidaritätsspiel gehört damit in die große Klasse sozialer Dilemma-Situationen, die insgesamt dadurch gekennzeichnet sind, daß rationale Spieler zufolge einer desasterträchtigen Anreizstruktur Vorteile wechselseitigen Kooperierens verspielen. Das einfachste und zugleich bekannteste Beispiel einer solchen fallenartigen Situationsstruktur ist das sog. Gefangenen-Dilemma (Prisoner's dilemma).

In einem einfachen 2-Personen-Gefangenen-Dilemma stehen sich zwei Spieler gegenüber, die jeweils zwischen einer kooperativen und einer unkooperativen Strategie zu wählen haben. In einer Matrix kann man das Spiel wie folgt charakterisieren.

Die linken [rechten] Einträge in den Zellen sind die Auszahlungen für den Zeilenspieler [Spaltenspielter]. In einem Gefangenen-Dilemma muß für die Auszahlungen gelten
Ti > Ri > Pi > Si, i =1,2.

Für jeden Spieler ist also einseitige Unkooperativität die beste, beidseitige Kooperativität die zweitbeste, beidseitige Unkooperativität drittbeste und einseitige Kooperativität die schlechteste Lösung. Nach Voraussetzung dürfen die Spieler sogar untereinander kommunizieren. Wichtig ist allerdings, daß kein Zwangsmechanismus zur Verfügung steht, der die Einhaltung von Vereinbarungen garantiert.

Eine Analyse des Spiels ergibt, daß für beide Spieler Unkooperativität einzige beste Antwort auf beliebige Strategiewahlen des jeweils anderen, also eine dominante Strategie ist. Beidseitige Unkooperativität ist darüber hinaus Maximinpunkt und einziges Nash-Gleichgewicht. Die Wahl der unkooperative Strategie ist vor diesem Hintergrund einzige plausible Lösung des Spiels. Jeder andere Lösungskandidat würde der elementaren Anforderung, daß eine Lösung selbsttragend und selbststabilisierend sein muß, nicht gerecht. Genau dadurch aber verschenken die Spieler den möglichen Gewinn beidseitiger Kooperativität und führen ein Desaster herbei: Sie verspielen eine Alternative, die beide besser gestellt hätte (Suboptimalität, Pareto-Ineffizienz). Die individuell rationale Verfolgung von Interesse kann also eine soziale Falle sein.

c. Das iterierte Solidaritätsspiel

Nun ist seit langem bekannt, daß solche soziale Dilemma-Situationen bei Iteration des Basisspiels, also im Rahmen sog. Superspiele, Lösungen haben können, die vom Effekt her auf durchgängige Kooperation in allen Basisspielen hinauslaufen und in diesem Sinne kooperativ auflösbar sind - ein Resultat, das sich natürlich im Prinzip auch auf iterierte Solidaritätsspiele übertragen lassen muß. Solche kooperativen Lösungen existieren allerdings nur unter zwei Voraussetzungen:

  1. Erstens müssen die Spieler über bedingte Superspielstrategien verfügen, durch die sie ihr eigenes Verhalten vom Verhalten des anderen abhängig machen. Solche Strategien machen es möglich, für Unkooperativität bzw. Unsolidarität des anderen im Anschluß durch eigene Unkooperativität bzw. Unsolidarität Vergeltung zu üben. Zwei gut untersuchte Strategien, die diese Eigenschaft haben, sind die TIT-FOR-TAT- und die TRIGGER-Strategie. Angewandt auf das iterierte Solidaritätsspiel wäre TRIGGER eine Superspielstrategie, die dem anderen solange und falls möglich im Bedürftigkeitsfalle hilft, wie der andere nicht in einer Situation, in der seine Hilfe benötigt worden wäre und er sie hätte geben können, eine Hilfeleistung verweigert. Nach der ersten unterlassenen Hilfeleistung des anderen ist TRIGGER niemals wieder zu einer Hilfeleistung bereit. TIT-FOR-TAT beginnt solidarisch, ist aber nach einer verweigerten Hilfeleistung versöhnlicher als TRIGGER: TIT-FOR-TAT ist auch nach vielen verweigerten Hilfeleistungen des anderen wieder zu Solidarität bereit, sofern nur zuvor der andere in einer Situation, in der er helfen konnte und seine Hilfe benötigt wurde, wieder half.
  2. Für die Existenz solidarisch-kooperativer Lösungen ist die Existenz bedingter Superspielstrategien allein nicht hinreichend. Es muß zweitens eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit eines nächsten Spiels geben. Nimmt man naheliegender Weise nämlich an, daß Spieler die Auszahlungen zukünftiger Spielperioden mit den Wahrscheinlichkeiten, diese Perioden überhaupt zu erreichen, abdiskontieren, dann kann die Vergeltungsdrohung ihre solidaritätsstiftende Wirkung natürlich nur dann entfalten, wenn der zu erwartende zukünftige Schaden so stark ins Gewicht fällt, daß er den kurzfristigen Vorteil einer verweigerten Hilfeleistung aufwiegt. Solidarische Lösungen sind also nur dann möglich, wenn es für beide Spieler jeweils hinreichend wahrscheinlich ist, daß sie es auch in der nächsten Periode wieder miteinander zu tun haben.

Der Schwellenwert für diese Stabilitätswahrscheinlichkeit i hängt von den spielkonstitutiven Parametern ab und läßt sich berechnen. In einem iterierten Solidaritätsspiel sind Paare aus TIT-FOR -TAT- bzw. TRIGGER-Strategien jeweils Gleichgewichtslösungen gdw. für beide Spieler gilt:
(2) i 1/ ( 1 - pj(1-pi) + pi(1-pj) (G-E)/(W-H) ).

Während also durch (1) charakterisiert wird, wann wechselseitige Solidarität vorteilhaft ist, wird durch (2) angegebenen, bei welcher Stabilitätswahrscheinlichkeit das wechselseitig Vorteilhafte auch machbar wird. Die Bedingung (2) soll daher auch Machbarkeitsbedingung heißen.

Insgesamt soll es um Solidarbeziehungen unter Ungleichen gehen. Das Solidaritätsspiel bietet eine sehr naheliegende Möglichkeit, Ungleichheiten zu modellieren: Ungleich sollen die Individuen in dem Sinne sein, daß sie mit jeweils unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten hilfsbedürftig werden. Ich werde neun verschiedene Risikoklassen unterscheiden. Risikoklasse 1 wird mit der Wahrscheinlichkeit 0.1, Risikoklasse 2 mit der Wahrscheinlichkeit 0.2 hilfsbedürftig usw. Was die Solidaritätskosten- und gewinne betrifft, so seien diese für alle Individuen unabhängig von ihrer Risikoklasse gleich. Die Ungleichheit wird daher ausschließlich über die Existenz unterschiedlicher Risikoklassen modelliert.