Ist die Demokratie in der Corona-Krise nur in Ungarn und Polen bedroht?

Bild: Elekes Andor/CC BY-SA 4.0

Kommentar: Wer kein kritisches Wort zu Ausgangssperren in Deutschland sagt, ist unglaubwürdig, als Demokratielehrmeister aufzutreten

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"Verteidigt die Demokratie in der Coronakrise", fordert eine Online-Petition, die von linken, sozialdemokratischen, grünen und liberalen Politikern des EU-Parlaments initiiert wurde.

Dort wird moniert, dass die ungarische Regierung in Zeiten der Corona-Krise den Ausnahmezustand ausgerufen hat und Polen die Vorbereitungen zu den Präsidentenwahlen am 4. Mai fortsetzt.

Nun ist es nicht das erste Mal, dass Ungarn und Polen im Visier von Politikern stehen, die Parteien repräsentieren, die in diesen Ländern entweder gar nicht vorhanden sind oder nur einen kleinen Teil der Wähler repräsentieren. Die Rechtskonservativen in Polen und Ungarn haben aber aktuell noch Mehrheiten in ihren Ländern und sie können sie behalten, auch dank solcher Initiativen.

Dann können die Rechten nämlich immer auf die EU zeigen, die angeblich in die Länder reinregiert. Die oppositionellen Kräfte, zu der in Ungarn auch die von einer Nazipartei zu EU-freundlichen Konservativen mutierte Jobbik gehört, sind schon auf der Verliererstraße, wenn sie sich als verlängerter Arm der EU-Politik gerieren.

Damit kann man in Polen und Ungarn keine Wahlen gewinnen und das hat Gründe. Denn die vielstrapazierten europäischen Werte sind eine Phrase. Das zeigt sich so deutlich wie nie während des aktuellen Corona-Widerstands, wo nicht nur in Ungarn und Polen demokratische Grundrechte täglich in Gefahr sind.

Warum kein Wort über Freiheitseinschränkungen in Deutschland

Es gehört schon eine gehörige Menge Chuzpe dazu, wenn die mehrheitlich deutschen Erstunterzeichner der Petition nicht einmal mit einem kritischen Halbsatz auf die aktuellen Grundrechts- und Freiheitseinschränkungen in Deutschland hinweisen.

Man braucht nun wirklich nicht die Intention der Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen teilen, die beispielsweise am vergangenen Samstag in Berlin-Mitte Grundgesetze verteilen wollten und Opfer von Polizeimaßnahmen wurden.

Aber es muss im höchsten Maße bedenklich stimmen, wenn selbst in der linksliberalen Taz die Aktion pauschal in die Ecke von Verschwörungstheoretikern gestellt und nicht einmal kritisch nachgefragt wird, wenn Pressevertreter Opfer von Polizeimaßnahmen werden.

Dabei war es auch in der Vergangenheit nichts Neues, dass von der Polizei nicht zwischen Pressevertretern und Demonstranten unterschieden wurde. Da gab es aber in der Regel mit gutem Grund Solidarität und nicht etwa deshalb, weil einen die Journalisten persönlich oder politisch sympathisch waren. Es ging um die Pressefreiheit, die grundsätzlich zu verteidigen ist.

Solidarität statt Ausgangssperre

Wenn dieser Grundsatz in Zeiten des Corona-Notstands nicht mehr gilt, dann besteht in der Tat aller Grund, sich auch hierzulande für die Verteidigung der Demokratie in der Corona-Krise einzusetzen, wie es beispielsweise die linke Solidaritätsorganisation Rote Hilfe macht. In einer Erklärung des Bundesvorstandes wurde betont, dass es weder einen Grund gibt, den Corona-Virus zu verharmlosen, noch den Notstand zu verteidigen.

Die Ausbreitung des Corona-Virus ist absolut ernstzunehmen. An der Notwendigkeit, persönliche Kontakte einzuschränken und wo es möglich ist, zuhause zu bleiben, besteht kein Zweifel.
Nichtsdestotrotz wendet sich die Rote Hilfe e.V. gegen eine aktuell diskutierte bundesweite Ausgangssperre, denn diese ist bisher ein Mittel von Militärdiktaturen, um gegen die Opposition vorzugehen. Nicht umsonst hat eine ganze politische Generation 1968 leider erfolglos gegen die Beschließung der Notstandsgesetze gekämpft.
Die Diskussion um eine Ausgangssperre ist gefährlich, denn dieser massive Grundrechtseingriff ist weder zeitlich begrenzt noch genau definiert. Er kann den Herrschenden zusätzliche Repression ermöglichen, um auch später gegen die linke Opposition vorzugehen. Es stellt sich auch die Frage, wer eine solche Ausgangssperre durchsetzen soll, denn bereits jetzt sitzt die Bundeswehr in den Krisenstäben.

Anja Sommerfeld, Bundesvorstand Rote Hilfe

So wie die Rote Hilfe hinterfragen mittlerweile unterschiedliche zivilgesellschaftliche Gruppen und Einzelpersonen die Politik des Notstands. Dazu gehört auch eine Kreuzberger Ärztepraxis, die eine Sonderseite zur Corona-Debatte eingerichtet hat, die sich an mündige Menschen richtet:

Wir kritisieren die Kriegsrhetorik, die Überflutung von Laien mit epidemiolgischen Zahlen, die ohne Vergleichszahlen mit dem "Normalen" dann eben oft geradezu apokalyptische Visionen entstehen lassen und vor allem eines tun: Angst und Panik verbreiten.

Als Folge produzieren viele Medien Bilder, die ohne nüchterne Einordnung zu einer aufgeheizten und hochemotionalen Stimmung in der Bevölkerung führen.

Praxiskollektiv Kreuzberg

Auf dem von der Cilip-Redaktion eingerichteten und ständig aktualisierten Tagebuch der Inneren Sicherheit können wir erfahren, wie aktuell auch in Deutschland die Grundrechte eingeschränkt werden.

Wie in Ungarn sind die Notstandsmaßnahmen auch nicht zeitlich begrenzt, sondern können jederzeit verlängert werden. Wer hierauf nicht einmal mit einem Halbsatz eingeht, sollte auch zu Polen und Ungarn schweigen. Das hat der Europaexperte der Bertelsmann Stiftung Joachim Fritz Vannahme erkannt, der es in einem Deutschlandfunk-Interview als problematisch bezeichnete, wenn die EU gerade in einem Augenblick die ungarische Notstandspolitik kritisiert, wo in fast allen EU-Ländern Notstandsmaßnahmen ergriffen werden.

Besonders merkwürdig ist, dass in der Petition die polnische Regierung dafür kritisiert wird, dass sie an den Präsidentenwahlen festhält, wo doch erst am Wochenende die bayerischen Kommunalwahlen über die Bühne gegangen sind. Wie dort will die polnische Regierung jetzt auch bei der Präsidentenwahl von der Möglichkeit der Briefwahl Gebrauch machen, um die Ansteckungsgefahr zu reduzieren.