Istanbul: Millionen demonstrieren für Gerechtigkeit
Nach 24 Tagen und 450 Kilometern kommt der Protestmarsch der Opposition zum Abschluss - und könnte einen Wendepunkt für die Türkei markieren
450 Kilometer von Ankara bis Istanbul. 24 Tage lang, erst bei Kälte und Dauerregen, dann bei 40 Grad in der Sonne, sind Zehntausende Menschen marschiert, um unter dem Motto "Adalet" (Gerechtigkeit) ihren Protest gegen die Politik des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan auszudrücken. Initiiert und angeführt wurde die Demonstration von Kemal Kilicdaroglu, dem Chef der CHP, der größten türkischen Oppositionspartei.
Auslöser war die Verhaftung und Verurteilung zu 25 Jahren Haft des CHP-Politikers Enis Berberoglu Anfang Juni gewesen. Berberoglu soll der Redaktion der Cumhuriyet Videomaterial über Waffenlieferungen der Türkei an syrische Extremisten zugespielt haben. Als Kilicdaroglu auf die Straße ging, rief das Staunen und Überraschung hervor. Denn so wirklich hatte niemand mehr damit gerechnet, dass der blasse Oppositionsführer es noch einmal ernsthaft mit der AKP aufnehmen würde. Die letzten Jahre hat er mit einem erratischen Schlingerkurs verbracht, mal die Regierung kritisiert, mal die Nähe zu ihr gesucht, während seine eigene Partei in Streit und Profillosigkeit versank.
Vom ersten Schritt an stellte Kilicdaroglu klar, dass dieser Protest nicht parteipolitisch verstanden werden soll und dass er unter den Teilnehmern keine Parteisymbole sehen will. Es solle ein überparteilicher Protest all jener sein, die in Opposition zur Regierung stehen, in Opposition zum unseligen Zweckbündnis der regierenden AKP mit der rechtsnationalistischen MHP, in Opposition zu Erdogans Präsidialsystem, zu seiner "Neuen Türkei". Seine Begleiter hielten sich daran, kleideten sich in weiße T-Shirts mit der Aufschrift "Adalet".
Nach anfänglichem Zögern erklärte sich auch die HDP solidarisch, Abgeordnete der Partei marschierten Seite an Seite mit Kilicdaroglu. Und auch wenn dieser noch unlängst nachschob, dass das keine Aussage über zukünftige Bündnisse ist, so ist es doch ein Novum in der türkischen Geschichte, dass Kemalisten und kurdische Politiker für dieselbe Sache eintreten. Zivilgesellschaftliche Bündnisse und NGOs schlossen sich ebenso an wie die Familien von Menschen, die während des Gezi-Aufstands im Jahr 2013 von der Polizei getötet wurden. Und damit wiederholt sich etwas, das es seit 2013 nicht mehr gegeben hat: Die sonst so gespaltene türkische Zivilgesellschaft vereint sich, um für eine gemeinsame Sache einzutreten.
Erdogan hat sich überschätzt
Der Protest wurde von Rechtsradikalen bedroht, die auf der Strecke Gülle auskippten. Erdogan, Ministerpräsident Binali Yildirim und MHP-Chef Devlet Bahceli versuchten vergeblich, die Aktion zu diskreditieren und in die Nähe von Terroristen zu rücken, was auch in den eigenen Reihen nicht gut ankam.
Erdogan hat sich schlicht überschätzt. Jahrelang war er es gewohnt, überragende Wahlergebnisse einzufahren, eine große Mehrheit der Türken hinter sich zu wissen. Doch diese Zeiten sind vorbei, wie das Verfassungsreferendum im April deutlich gezeigt hat. Nur mit Manipulationen konnte er es knapp für sich entscheiden. Auch frühere Weggefährten und Mitgründer der AKP haben sich längst von dem Despoten abgewandt. Seine Pläne, zum neuen Hegemon in der islamischen Welt zu werden, sind krachend gescheitert. Er klammert sich an seinen letzten Verbündeten Katar und versucht, die zunehmende Isolierung seines Landes schönzureden, während er brachial gegen die Opposition vorgeht und zehntausende Menschen unter meist absurden Vorwürfen verhaften lässt.
Erdogan hat wohl darauf gehofft, dass der fast einen Monat währende Protest von selbst versandet. Stattdessen wuchs er von Tag zu Tag an und zog immer mehr Aufmerksamkeit auf sich. Es gab nicht einen einzigen gewalttätigen Zwischenfall. Die Polizei hielt sich zurück. Sie begleitete die Demonstranten und räumte ihnen die Straßen frei. Erdogan war klar, dass er unmöglich mit Gewalt reagieren konnte. Nicht gegen ein demonstrativ friedlichen Bündnis, das von einer Partei angeführt wird, die mindestens ein Viertel der Wähler hinter sich hat.
Stattdessen weitete er seine Säuberungsaktion einmal mehr aus, erklärte kurzerhand tausende Menschen zu Gülen-Anhängern und Terroristen, ließ Hunderte pro Woche verhaften: Anwälte, Lehrer, Beamte, Politiker, darunter auch mehrere Frauen mit Kleinkindern. Am Tag vor seiner Abreise zum G20-Gipfel schlug die Polizei auf der zu Istanbul gehörenden Insel Büyükada in einem Hotel zu, in dem Menschenrechtler eine Tagung abhielten. Neun von ihnen sind nun in Untersuchungshaft, darunter die Direktorin von Amnesty International Turkey. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, in dem Hotel einen Putsch geplant zu haben. Jede dieser Aktionen verschaffte dem Protestmarsch weitere Legitimation und Unterstützung.
Ein Meer von Menschen gegen die Willkürherrschaft
Am Freitag erreichte der Adalet-Marsch die Stadtgrenze von Istanbul und wurde jubelnd empfangen, wuchs am Samstag auf den letzten Kilometern auf fast 45.000 Personen an. Das Ziel war das Gefängnis im Istanbuler Stadtteil Maltepe, in dem Enis Berberoglu einsitzt. Dorthin strömten die Menschen am frühen Sonntagmorgen, am Nachmittag vermeldeten die Veranstalter bereits mehr als eine Million Teilnehmer, gegen 17 Uhr war die Menge unterschiedlichen Quellen zufolge auf fast zwei Millionen angewachsen, während AFP von "hunderttausenden" sprach. Laut Hürriyet konnten weitere Zehntausende nicht auf das Veranstaltungsgelände, da es bereits zu voll gewesen sei.
Zülfü Livaneli eröffnete die Kundgebung. Und als Kemal Kilicdaroglu die Bühne betrat, hatte die Menge einen Mann vor sich, der sich binnen drei Wochen vom blassen Bürokraten zum feurigen Redner gewandelt hatte - zu einem, der mitreißen, der überzeugen kann. Es war ein Befreiungsschlag. Seine Rede wurde live übertragen von CNN Türk, DHA und Can Dündars Exilmedium Özgürüz via Facebook Live.
"Recht, Gesetz, Gerechtigkeit", skandierte das Meer aus Menschen, und Kilicdaroglu forderte die Freilassung inhaftierter Journalisten und Abgeordneter sowie Gerechtigkeit für jene, die in den letzten Monaten entlassen wurden. "Der 9. Juli ist eine Wiedergeburt", rief er, und er könnte Recht behalten. Er prangerte die Abschaffung der Gewaltenteilung ebenso an wie die Willkürherrschaft der AKP im erneut verlängerten Ausnahmezustand, dessen Ende der CHP-Chef forderte; die Rechtsstaatlichkeit müsse wieder hergestellt werden, ebenso die Meinungs- und Pressefreiheit. "Das Verfassungsgericht darf keine Anweisungen aus dem Präsidentenpalast entgegennehmen!"
Allein die schiere Größe der Demonstration setzt ein deutliches Zeichen: Die türkische Opposition rauft sich zusammen. Sie versucht, ihre Differenzen beizulegen. Und sie hat enormen Rückhalt in der Bevölkerung. Kilicdaroglu hat damit einen Kurswechsel eingeleitet, auf den Erdogan wird reagieren müssen. Seine Situation ist nun noch schwieriger geworden, als sie ohnehin schon war.
Natürlich kann er nun nach dem üblichen Schema vorgehen und Kilicdaroglu und seine Mitstreiter verhaften lassen. Doch damit würde er ihrer Sache nur noch weiteren Auftrieb verschaffen. Er würde alles, was Kilicdaroglu gesagt hat, damit bestätigen. Wenn er sich aber zurückhält, die CHP gewähren lässt und ihr erlaubt, neue Bündnisse einzugehen, könnte das seinen Abstieg rasant beschleunigen.
Die Frage ist aber auch, ob Kilicdaroglu jetzt Durchhaltevermögen beweist, oder ob er in ein, zwei Wochen wieder in alte Gewohnheiten zurückkehrt. Ab dem 15. Juli, dem Jahrestag des Putschversuches, will Erdogan wieder seine eigenen Anhänger auf die Straßen rufen - nur diesmal darf die CHP dabei nicht, wie noch im Vorjahr, mitmachen und sich instrumentalisieren lassen. Sonst wäre alles umsonst gewesen.