Istanbul-Neuwahl: Opposition liegt in Umfragen deutlich vorn
Vor der Wahl zeichnet sich eine erneute Niederlage für die AKP ab, zugleich werden Oppositionelle vor Gericht gestellt
Am Sonntag wird in Istanbul gewählt. Wieder einmal. Nachdem vor zweieinhalb Monaten bei den landesweiten Kommunalwahlen zahlreiche Großstädte an die Opposition fielen, intervenierte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und ließ das Wahlergebnis in Istanbul trotz heftiger Proteste annullieren.
Doch dass beim erneuten Wahlgang ein anderes Ergebnis herauskommt als beim ersten Versuch, ist inzwischen unwahrscheinlicher denn je. Waren es Ende März nur wenige zehntausend Stimmen Vorsprung, mit denen CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu zum Bürgermeister gewählt wurde, liegt die CHP heute laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Konda 8,1 Prozent vor der AKP und käme auf einen Stimmenanteil von 49 Prozent. AKP-Kandidat Binali Yildirim müsste sich demnach mit knapp 40 Prozent der Stimmen begnügen.
Für Erdogan wäre ein solches Wahlergebnis eine schallende Ohrfeige. Imamoglus Kandidatur wird erneut von einem breiten Bündnis von Oppositionsparteien getragen. Auch HDP-Chef Selahattin Demirtas rief vom Gefängnis aus dazu auf, die CHP zu wählen. Ein TV-Duell zwischen Imamoglu und Yildirim wurde am vergangenen Sonntag mit Spannung verfolgt. Während Yildirim blass wirkte und einmal mehr versuchte, die Opposition zu diskreditieren, gab sich Imamoglu gelassen und thematisierte einmal mehr Verschwendung und Korruption der bisherigen AKP-Stadtverwaltung sowie die Plünderung der Steuerkassen zugunsten religiöser Stiftungen.
Damit erwirbt er sich offenbar auch Sympathien unter den einstigen AKP-Wählern, die Erdogans Partei lange Zeit für ihre Wirtschaftspolitik und den wachsenden Wohlstand im Land gewählt hatten. Heute liegt die Wirtschaft am Boden, die Inflation hat viele Dinge des täglichen Bedarfs massiv verteuert, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Verschwendung von Steuergeldern kommt in so einer Situation nicht gut an.
Bezeichnend war auch der Auftritt der beiden Politiker. Während Imamoglu in einem Van zusammen mit einer Handvoll Kollegen zum TV-Studio kam und sich volksnah und locker gab, wurde Yildirim von einer riesigen Autokolonne und schwer bewaffneten Polizisten eskortiert. Erdogan selbst hält sich seit Wochen aus dem Wahlkampf raus - was für ihn höchst ungewöhnlich ist und erahnen lässt, dass er sich keine Hoffnung mehr darauf macht, die Stimmung noch drehen zu können. Als er sich am Donnerstag äußerte, fiel ihm nicht mehr als die alten abgegriffenen Phrasen ein: Die Wahl werde aus dem Ausland manipuliert, die Opposition von Terroristen unterstützt.
Während Beobachter eine erneute Niederlage der AKP in Istanbul bereits als den Anfang vom Ende von Erdogans Macht betrachten, geht dieser mit unverminderter Härte gegen seine Gegner vor. Am 24. Juni, nur einen Tag nach der Wahl, beginnt der Prozess gegen 16 Personen, die angeklagt werden mit dem Vorwurf, im Sommer 2013 den Gezi-Aufstand organisiert zu haben. Unter ihnen ist auch der seit 2017 inhaftierte Kulturmäzen Osman Kavala.
Damals hatten Umweltschützer verhindern wollen, dass auf dem Gelände des Gezi-Parks im Herzen Istanbuls ein Einkaufszentrum errichtet wird. Als die Polizei mit großer Brutalität gegen die friedlichen Demonstranten vorging, wurde aus dem kleinen Protest ein landesweiter Aufstand, an dem sich Millionen beteiligten. Mindestens acht Menschen wurden getötet. Den Gezi-Aufstand hat Erdogan im Nachhinein zum Putschversuch umgedeutet. Den Angeklagten droht lebenslange Haft. Laut Human Rights Watch ist die Anklage nicht haltbar und richtet sich gegen legitimen zivilen Protest.