Italien: Wieder mehr Bootsflüchtlinge aus Libyen

Zentrale Mittelmeerroute: Von Januar bis Anfang Mai kamen mehr als doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der Toten hat sich mehr als verdreifacht

Mit den wärmeren Monaten macht ein ungelöster Konflikt erneut auf sich aufmerksam: die Frage, wie die EU human mit den Bootsflüchtlingen aus Libyen umgehen soll. Am Wochenende sollen "sieben Flüchtlingsboote mit mehr als 1.400 Menschen" Lampedusa erreicht haben. Bürgermeister Toto Martello fordert, dass die Diskussionen über die Einwanderungsfrage wieder neu aufgenommen wird.

Der frühere italienische Innenminister Salvini, bekannt für seinen harten Kurs gegenüber den Seenot-Rettungsschiffen der Nichtregierungsorganisationen, stellte, wie schon zuvor, die Nöte der Italiener der Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten gegenüber: "Angesichts von Millionen Italienern in Schwierigkeiten können wir nicht an Tausende illegale Einwanderer denken."

Dass Salvinis Aussagen mehr auf Plakativität und Emotionen zielen als auf sachliche Informationen, veranschaulicht die Grafik des Migrationsforschers Matteo Villa, auf der zu sehen ist, dass der Anteil der NGO-Seenotrettungen sich im Vergleich der Amtszeiten von Salvini und der gegenwärtigen Innenministerin Lamorgese kaum unterscheidet. Als Salvini Innenminister war, betrug er 14 Prozent, unter Lamorgese sind es 16 Prozent.

Laut offiziellen Zahlen sind dieses Jahr mehr als doppelt so viele Migranten in Italien angelandet als im Vergleichszeitraum 2020. Das italienische Innenministerium verzeichnet bis dato 10.700 Migranten, vor einem Jahr seines zum gleichen Zeitpunkt 4.100 gewesen. Auch die Internationale Organisation für Migration registriert in diesem Jahr 10.763 Flüchtlinge und Migranten, die über die zentrale Mittelmeerroute in Europa angekommen sind - und mit bislang 506 Toten eine weitaus höhere Zahl als im selben Zeitraum 2020. Im letzten Jahr zählte man zu dieser Zeit 149 Tote.

Im Unterschied zu Zeiten, als Salvini das Innenministerium in Rom führte, gab es in den letzten Wochen keine Berichterstattung über Dramen. Sie ergaben sich in der Vergangenheit regelmäßig daraus, dass die italienischen und die EU-Unterhändler die NGO-Schiffe mit Migranten aus Libyen an Bord lange Zeit warten ließ, bis man ihnen einen Hafen in Italien öffnete, bzw. über Boote der Küstenwachen die Migranten an Bord der Seenot-Rettungsschiffe übernahm.

Laut den NGOs ist das Vorgehen der italienischen Behörden jedoch weiterhin darauf ausgerichtet, ihre Rettungsaktionen zu behindern. So würden ihre Schiffe aus Sicht der NGOs unter "absurden Vorwürfen" ("zu viele Rettungswesten an Bord") in italienischen Häfen an der Ausfahrt gehindert.

Es gibt weiterhin keine Nachrichten von wesentlichen Verbesserungen der Bedingungen in den Flüchtlingslagern in Libyen, in die Migranten, die von der libyschen Küstenwache vor der Küste aufgegriffen oder gerettet werden, gebracht werden. Für die NGOs handelt es sich dabei im Grunde um unerlaubte Push-Backs, die seit einiger Zeit von Observierungsflugzeugen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex unterstützt werden. Auch die NGOs setzten Flugzeuge ein, um Flüchtlingsboote, die in Gefahr sind, möglichst schnell aufzuspüren.

Damit deutet sich an, dass der Konflikt über die menschlich und politisch angemessene Vorgehensweise gegenüber Flüchtlingen und Migranten vor der Küste Libyens diesen Sommer wieder mit harten Bandagen und vielen Disputen in den Medien ausgetragen werden wird.

Bislang stehen gerichtsfeste Beweise über den gängigen Vorwurf an die NGOs, wonach sie Boote mit Flüchtlingen und Migranten über abgesprochene Signale aufnehmen, noch aus. Dagegen gibt es zur unzumutbaren Behandlung der Migranten in Libyen sehr viele Berichte und Zeugenaussagen, die in ihrem Kern nicht zu widerlegen sind.

Dies bleibt ein Problem für die EU, die mit der Einhaltung von Menschenrechten ihr "normatives Projekt" hat (Heinrich August Winkler) und die anderseits mit einem Rechtsrutsch in vielen Ländern zu tun hat.