Jahrhunderte nacheinander oder nebeneinander

Veränderungen des historischen Vorstellungsraums durch das Internet

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Eine Veränderung ist zu konstatieren im Umgang mit Geschichte. Was als Marginalie der Quellenkunde begann, weitet sich zu einer grundlegenden Diversifizierung des gesamten Geschichtsbildes und damit der Bewertung historischer Daten aus. Schleichend verschieben sich Skalen der zeitlichen Zuordnung, räumlichen Abhängigkeit und des Umgangs mit Befunden aus Dokumenten, Archiven und Beständen.

An dieser Umwertung wiederum lässt sich die Veränderung der Lebenssituation durch neue technische Medien beschreiben, und hier deuten sich erhebliche Bewegungen an. Davon ist nicht allein das individuelle Zeitempfinden betroffen, wie es Gundolf Freyermuth beschrieben hat , sondern damit wird ein bestehendes Ordnungsschema historischen Denkens über den Haufen geworfen. Möglicherweise kann diese Verschiebung der historischen Perspektive oder des Raums von Geschichte das wissenschaftliche Arbeiten insgesamt ebenso stark verändern wie die Versetzung von Referenzen in der Sprache um 1800, die Michel Foucault als Basis seiner Diskurstheorien nahm.

Die Ökonomie wissenschaftlicher Informationsbeschaffung

Die Vergabe von Referaten, Hausarbeiten, Seminaren und anderen akademischen Übungen zog und zieht relativ automatisch eine Ökonomie der Informationsbeschaffung durch Studentinnen und Studenten, Schülerinnen und Schüler nach sich. Zwei Drittel des 20. Jahrhunderts folgten noch einer spätmittelalterlichen Praxis, bei der Exzerpte und Skripte prinzipiell selbst zu erstellen waren oder gegen Dienstleistungen und Geld zwischen den Lernenden flottierten - wer arm war, konnte sich durch die Anfertigung solcher Skripte, vor allem wenn sie für erfolgreiches Bestehen von Klausuren von Bedeutung waren, sowohl Geld verdienen als auch das eigene Studium beschleunigen.

In den 1970er Jahren wurden derlei Skripte mittels Hektographie multipliziert, also auf weiche Matritzen getippt und über Apparate vom Design einer Wäschemangel in kleineren Auflagen gedruckt. Dieses Medium hatte eine mittlere Haltbarkeit von zwei Jahren, dann waren die Exzerpte ausgeblichen und mussten erneuert werden - eine Beschleunigung der Handarbeit, aber kein Ersatz. Exzerpte und Skripte waren weiterhin mit Handschrift und Schreibmaschine zu erstellen.

Dasselbe Jahrzehnt sah den Höhepunkt des Raubdrucks von Büchern, weil wissenschaftliche Verlage sich eher als Hort rechter Gesinnung denn als Geschäftsunternehmen wähnten. Dass derlei Raubdrucke notwendig waren, ergab sich aus den Themen seminaristischen Fleißes, nicht aus den Anforderungen möglicher Berufsarbeit nach dem Studium. In den 1960er Jahren verschob sich die Aufmerksamkeit der Lernenden gegenüber dem formalisierten Anspruch der Lehrenden: Der einfache Wissenserwerb wurde als stillschweigendes Einverständnis mit historischen Defiziten der jüngsten Zeit gedeutet - vor allem also der mangelnden Aufarbeitung des deutschen Nationalsozialismus und seiner Folgen in Holocaust, Exil und Wissenschaftstheorie. Daraus ergab sich fast zwingend die Suche nach akademischen Vorbildern, vorzugsweise unter Emigranten und Kommunisten. Die Raubdrucke entstanden in monatelanger Fleißarbeit der untersten Chargen des Wissenschaftsbetriebs: Hilfskräfte und Jungesemester tippten eifrig die alten Werke der Emigrantenverlage ab und ließen sie als Billigoffset seitenweise nachdrucken. Im Prinzip war dies dasselbe Verfahren, das heute Projekte wie Gutenberg auszeichnet.

Photokopien und Wissenserwerb: die 70er Jahre

Mitte der 1970er Jahre setzte ein technisch bedingter Paradigmenwechsel ein - die Photokopie trat ins schulische und Studentenleben. Die Einführung war vom Entwicklungsstand des Landes abhängig. Während die Studentenbewegung der USA schon als Kind der Photokopie beschrieben wurde - sicher etwas zu emphatisch -, kam diese Technologie in Deutschland erst zu Zeiten von Rote Armee Fraktion und Baader-Meinhof-Gruppe an. Diese Avantgarde der politischen Verwirrung war vom materiellen Ausrüstungsstand immer allererste Spitze; also wurden fortan die Bekennerbriefe nach dem Tippen erst einmal kopiert und mussten vor allem deshalb so schnell zugestellt oder an Tatorten hinterlassen werden, dass sie nicht vor ihrer politischen Wirksamkeit verblassten. Die undogmatische Linke in den Hochschulen blieb brav bei der Hektographie. Doch im Leben der einzelnen Studenten und vor allem im Wissenserwerb etablierte sich die Photokopie rasend schnell - 1980 war ein Studium ohne Unmengen von Kopiertem nicht mehr denkbar.

Was immer zu lesen war, wurde zunächst kopiert. Das bot sich an, weil man nun nach Herzenslust in Texten herumkritzeln, Unterstreichungen oder Markierungen anbringen und seinen Gefühlen wenigstens in Marginalien freien Lauf lassen konnte. Die Quelle, bis dahin allein durch ihre materielle Existenz weitgehend unantastbar - wiewohl die Unterstreichungen von Vornutzern störenden Einfluss auf das Gesehene und damit die Aufmerksamkeit nahmen -, wurde nun zur Grundlage des eigenen Denkens. Sie wurde es in weit höherem Maße, als es ihren Urhebern lieb sein konnte, denn sie wurde höchst selektiv gelesen. Mit einem dicken Bleistift, später einem Marker - die gelben Signalmarker waren die besten, denn die kopierten sich nicht selbst mit - wurden jene Textstellen hervorgehoben, deren Reizvokabeln beim ersten Überfliegen ohnehin als Kanon bereit standen. Erfolg: Verdoppelung des Denkens durch Unterstützung des bereits Bekannten.

Mit der Kopie kam eine technische Qualität, die seit Walter Benjamin den Verlust von Aura unabdingbar nach sich zieht: die große Zahl. Für frisch promovierende Geisteswissenschaftler wurden - allen ideologischen Überlegungen zum Trotz - kurzfristig manche Firmenarchive interessant, weil man dort freien Zugang zum Photokopierer hatte. Bei der Beantragung mittlerer Forschungsprojekte waren plötzlich die Kontingentierungen von Photokopiergeräten und -papier wichtig; und weil es so viel schneller ging, wurden sogar die ersten Ausdrucke von Computerpapieren mittels Photokopierer vervielfältigt.

Umgekehrt demonstrierte die gängige Kopierpraxis auf flacher Glasscheibe, dass man einen medialen Fortschritt nicht ohne Preis bei den alten Medien haben kann: Die Bibliotheken meldeten gigantische Verluste gerade bei alten Büchern durch gebrochene Rücken, aufgerissene Seiten und abgegriffene Einbände. Buchkopierer mit geknickter Glasplatte waren als Patente angemeldet, wurden aber in einem Showdown zwischen Industrie, Staat und Urheberrechtsverbänden zum Nichtgerät. Die Copyright-Abgabe nutzte den lebenden AutorInnen und den Nachfahren der frisch Verstorbenen, aber die alten Bücher hatten keine Lobby. Als dann wenigstens Geräte mit Glasplattenkante zum vernünftigen Kopieren einer Buchseite auf den Markt kamen - reine Nischenmodelle zu völlig überhöhten Preisen -, war es für die Bibliotheken eindeutig zu spät.

Scannen und Samplen

Nur kurze Zeit kam das Abschreiben wieder in Mode: zu Beginn der PC-Ära. Die postmoderne Codierung trug ihre eigenen Früchte in Form von Zitatmontagen, die das eigene Denken als Sampling vorführten. Ob Nietzsche oder Baudrillard, ob Lacan oder Foucault, sie alle wurden gnadenlos montiert. Wer nicht so berühmt war wie jene, dessen Werke boten sich als Steinbruch an und konnten ohne Angabe des Ursprungs übernommen werden. Immerhin: Die Aneignung des Zitierten durch die Handarbeit des Abschreibens sicherte die Belesenheit des Skriptoriums und schaffte eine meditative Basis des späteren Gebrauchs. Genau hier finden sich jedoch erste Formen einer Aufweichung quellenkritischer Praxis: Was im montierten Text zusammenpasst, wird weniger von seiner einzelnen Qualität als wissenschaftliche Quelle bestimmt als von seiner Stimmigkeit für das mögliche Endprodukt.

Der nächste Schritt in der Ökonomie der Informationsbeschaffung wurde und wird vom Vorgang des Scanning bestimmt, der die Praxis der Photokopie mit dem PC-Sampling verband. Hier lohnt es schon, sich das Wort anzuschauen. Das lateinische 'scandere' wird zumeist mit 'sich erheben' oder 'emporsteigen' übersetzt. In Lyrik und Musik hat sich der Sprachgebrauch des späten Mittelalters fixiert, beim Vortrag metrische oder rhythmische Hervorhebungen italienisch mit scandere, englisch mit scan oder im Deutschen mit skandieren zu bezeichnen. Der technische Vorgang selbst hat jedoch zuerst im Deutschen eine sinnlich-mechanistische Verschiebung erfahren: Er wird meist mit Abtasten übersetzt. Das ist wohl der Druckersprache geschuldet, die diesen Begriff aus bildhauerischer Praxis übernahm; das etwas derbere Abgreifen bezeichnet dort ursprünglich alle Praktiken zur Herstellung nicht aus beweglichen Lettern gebildeter, also zumeist bildlicher Vorlagen - der Pentagraph ist die Verlängerung der Finger einer Hand. Zusätzlich entwickelte der Begriff eine ökonomische Metaphorik, aber die ist für das hier Gemeinte eher nachrangig.

Was mit dem Scan geleistet wird, ist die Trennung der Information von der Wahrnehmung. Nichts muss mehr gelesen werden, es muss nur noch vorhanden sein. Das Vorhandene wird nach funktionalen, interessanten Kriterien durchsucht, nach Kernworten, kurzen Begriffsketten und nahe bei einander liegenden Wortpaaren. Das so Gefundene wird auf seine Stimmigkeit im gegebenen Kontext eines Gedankens oder einer Herleitung hin überprüft und dann relativ bedenkenlos in einen anderen Text eingefügt. Das Ergebnis ist ein Pasticcio zufälliger Findungen, eben jener Auswahl vergleichbar, die ein DJ seit den frühen 1980er Jahren aus einer Anzahl Tonträgern für seine Soundcollagen trifft. In Texten dieser Art, die zu Beginn der 1990er Jahre die Seminare zu überschwemmen begannen, scheinen Zitate nur als Stichwortgeber auf, vermitteln den Anschein einer Belesenheit - und lassen sich an der meist fehlerhaften Orthographie schnell als Fake erkennen.

Nach dem Scannen: das Internet

Dem Scanning nachfolgend, aber es in der Wirkung exponentiell erhöhend, ist die Informationsbeschaffung aus dem Internet. Avancierte StudentInnen - etwa aus den um 1995 existierenden drei Medienhochschulen der Bundesrepublik in Frankfurt, Karlsruhe und Köln - montierten aus den wenigen schon ins Web gestellten Bibliotheken wahre Monsterlisten von Literaturangaben für kleine und kleinste Referate. Etwa zur selben Zeit wurden, gerade auch in Büchern mit wissenschaftlichem oder philosophischem Anspruch, die Angaben von URLs als Fuß- und Endnoten etabliert. Die klassische und sicher in den meisten Fällen zu Recht beklagte Vermutung, dass die wenigsten AutorInnen die von ihnen angemerkten Texte gelesen hätten, wurde nun um die Variante einer Fülle von Verweisen ins digitale Nirvana erweitert. Damals veralteten Domains schneller als die Trocknung der Druckerschwärze oder Kopiertinte, und obendrein konnte man als StudentIn davon ausgehen, dass die ProfessorInnen mit den elektronischen Netzen kaum umgehen könnten.

Die Lehrenden haben nolens volens dazugelernt, und die URLs sind heute wenigstens über mehrere Jahre einigermaßen stabil. Die Ökonomie der Informationsbeschaffung ist weitgehend konventionalisiert und kanonisiert: Aus Suchmaschinen sind Web-Angebote der Hochschulen, Homepages anerkannter WissenschaftlerInnen, Leseproben und Seminarauszüge samt tabellarischen Themenüberblicken in Minutenschnelle zusammengestellt, für die anmerkbaren Verweise klickt man sich noch eine Ebene tiefer auf die ins Netz gestellten Originaltexte, zur Bibliographie taugt der Karlsruher Virtuelle Katalog mit seinen guten Exportfunktionen. Insofern könnte wieder Ruhe einkehren an der Linie des Informationsbeschaffens. Selbst die Vorstellung einer höheren Quantität von Verweisen und Belegen hat einen qualitativen Wert, der man sich als WissenschaftlerIn nur schwerlich wird entziehen könne.

Doch wie in aller Thermodynamik - deren epistemologische Leitfunktion ebenfalls schon lange wieder vergessen sein könnte - ist auch im wissenschaftlichen Informationsmanagement kein positiver Effekt ohne grundsätzliche Wirkung auf unerwartetem Gebiet erzielbar. Die ebenso große wie chaotische Menge an verfügbarer Information beginnt sich - offensichtlich ohne Zutun der jeweiligen WissenschaftlerInnen, aber ebenso offensichtlich auch nicht gegen ihren Willen - neu zu ordnen, andere als bisherige Formen anzunehmen, die als Modelle des Denkens und Handelns dienten.

Die Topologie des historischen Raums

Alle geschriebenen Unterlagen mit ihrer spezifischen Form und Organisation als Quelle sind jeweils nach der Kenntnisnahme ihres Inhalts in der Art einer gegliederten Kette sortiert gewesen, wobei die jeweils neuere Quelle prinzipiell die ältere widerlegen und durch etwas Neues ergänzen oder erweitern sollte. Forschung gleich welchen Fachgebiets stellte sich in eine historische Entwicklungslinie und wurde an dieser auch gemessen: Erkenntniszuwachs war eine quantifizierbare Größe, deren Tertium Comparationis sich als geschichtlicher Vektor oder historisches Lineal darstellte. Seminaristische Arbeiten wie wichtige Schriften in einer jeden Wissenschaft begannen mit einer Kritik des Gegebenen und Vorhandenen, entwickelten ihre Gedanken auf der Basis anderer, durch ihr Vorhandensein nur als historisch beschreibbarer Werke.

Das daraus destillierbare Bild von Geschichte hatte die Form einer Höhle, Röhre oder Tüte, eines Tunnels in der Ansicht des Hindurchfahrenden - nahezu in der Tradition der grotesken Kurzgeschichte von Friedrich Dürrenmatt. Zu Beginn, in der jüngeren Vergangenheit, ist die Basis vergleichbaren Materials noch breit und ausgedehnt; je weiter in die Vergangenheit zurück geblickt wird, desto schmaler wird der Grund aus Quellen. Je rarer die historischen Quellen werden, desto wird höher die Interpretationsleistung: Aus einer kleinen Abrechnung des hohen Mittelalters wird eine Malertheorie extrahiert und kann ein Künstler mit Namen (oder Notnamen) dinghaft gemacht werden. Aus Randnotizen eines frühneuzeitlichen Mathematikers wird das Jahrhundertprojekt einer Wissenschaft und das Web-Projekt einer Gruppe jugendlicher Hochbegabter. Aus archäologischen Minimalfundstücken werden schließlich antike Städtebilder und Landschaftssichten zusammen getragen, auch und gerade mit Hilfe von Simulationsprogrammen und CAD.

Selbstverständlich ist auch dieses Modell von Geschichte nach erster Anschauung zu differenzieren; weder ist der Tunnel geradlinig noch an allen Stellen gleich breit. Dennoch scheint er über Jahrhunderte die Vorstellungskraft - und damit nach Arthur Schopenhauer das menschliche Dasein auf dieser Welt - bestimmt zu haben. Das Verfahren der Überlieferung jedoch bestimmte die Grundform des Verstehens und war für mancherlei ideologische Blindheit mitverantwortlich. Solange das christliche Europa Zentrum wissenschaftlichen Denkens schien, wurde dessen Geschichte zum Richtmaß aller Phänomene; selbst dort, wo Austausch mit anderen Kulturkreisen stattfand, konnte man diesen durch Adaption dem eigenen Modell unterwerfen und daraus einen weltumfassenden Herrschaftsanspruch ableiten, der seine historische Ableitung bis in heutige "Leitkultur"-Debatten quasi ontologisch aus der eigenen Methodik bezog.

Die Künstler der Jahrhundertwende um 1900 mögen die ersten gewesen sein, die diesem Modell eine deutliche Absage erteilten. Die Maler sammelten afrikanische Plastik, die Musiker fuhren in den fernen Osten, die Schriftsteller ließen sich in Nordafrika nieder oder besuchten den lateinamerikanischen Kontinent mit seinen Kulturmischungen. AnthropologInnen, EthnologInnen und SoziologInnen demontierten den Mythos von der eurozentrischen Überlegenheit und stellten dem christlich-profanen, historischen Kettenmodell wenigstens einige andere zur Seite, deren immanente Gleichberechtigung augenscheinlich sein sollte. Und das Aufkommen weltweiter Kommunikationstechniken sorgte am Ende des 20. Jahrhunderts dafür, dass dank Weltmusik und paralleler Erscheinungen in anderen Gattungen die europäische Avantgarde nur noch als Westkunst, eben einer unter vielen möglichen Formen, angesehen wird. Die nächste 'documenta' in Kassel wird von einem afrikanischen Kurator geleitet und dürfte für die bildende Kunst mit dem Eurozentrismus endgültig Schluss machen - auf deutschem Boden.

Vom Geschichtstunnel zum Nebeneinander von Zeiten und Kulturen

Die hier skizzierte Parallelisierung diverser Geschichten wurde noch unter den Auspizien einer Informationsbeschaffung voran getrieben, die der Quelle höchste Integrität und quasi transzendentale Objektivität zuschrieb. Nicht umsonst war und ist die Fälschung ein moralisch verwerfliches Tun, auch in allen Diskursen über die Referentialität sprachlicher Setzungen. Nicht ohne Grund hat das Internet unendliche Neuauflagen der Debatten um Sinn und Sein des Copyright als Schutz von Autorenschaft und Sicherung der Integrität von Quellen angeregt. Geholfen hat das alles nichts und wird es auch nicht mehr tun - Musik wie Bilder wie Texte werden kopiert, transponiert und in Samplings zusammengefasst, wie oben beschrieben. Was im Sampling quasi nebenbei geschah und geschieht, scheint auch wichtiger als alle Querelen um Rechtsschutz und geistiges Eigentum: Die Querverbindungen zwischen historischen und kulturellen Räumen haben sich zu einer einzigen, weitgehend amorph anmutenden Masse verbunden.

Die Menge verfügbarer und hierarchisch nicht bewerteter Informationen definiert den historischen Raum aller Kunst und Wissenschaft als epistemologische Bubble-Architektur aus rundlichen Konstruktionen mit Beulen und Dellen, mit Kurvaturen und Nebenschauplätzen, mit Brücken und Durchgängen aller Art. Wer im Internet nach historischen Daten sucht, der oder dem sind - den Suchmaschinen sei Dank - das 13. und das 18. Jahrhundert gleich nahe, liegen - mindestens in den mitgeteilten Referenzen - alle Kontinente gleich weit entfernt und haben alle Religionen den gleichen Stellenwert für die Findung individuellen Glücks. Das Bild vom Surfen für die Bewegung im Netz der Computer passt zum Bau des Raums; das weiche Gleiten durch Datenbanken und Netze mittels einer graphischen Benutzeroberfläche hat wenig mit der staubtrockenen Recherche in Karteikarten und Archivschränken zu tun.

Der Gebrauch von Internet und Datenbanken zur wissenschaftlichen Informationsbeschaffung ist noch kein Jahrzehnt alt, aber er hat bereits Spuren im akademischen oder seminaristischen Alltag hinterlassen - auf den ersten Blick nicht nur gute. Die verfügbare Datenmenge ist explodiert, das Interesse am Finden von Materialien jedoch implodiert, die Kritikfähigkeit zur Bewertung von Themen und Texten hat sich asymptotisch dem Nullpunkt genähert. Die Differenz zwischen gefundenen, wahrgenommenen und verstandenen Quellen - uralte Basis einer jeden Kulturkritik etablierter WissenschaftlerInnen gegenüber ihren potenziellen und tatsächlichen Nachfolgern - hat sich weiter vergrößert und vor allem qualitativ verselbständigt. Sie ist Bestand einer Technik geworden, darin der Klage des Sokrates ähnlich, dass mit der Schrift die Gedächtnisleistung verschwinden würde; doch hätten wir Platons Niederschrift nicht, wüssten wir wiederum nichts von Sokrates.

Die Veränderung des historischen Raums zieht eine ganz andere Verschiebung im Denken nach sich, und die wird an kleinen und kleinsten Beispielen im heutigen universitären Alltag sichtbar. Eine Quelle wird nicht mehr wichtiger dadurch, dass sie älter ist als eine andere, sondern eher dadurch, dass ihre Erreichbarkeit schwieriger scheint. Vulgo: Was nicht im Netz steht, gilt zukünftig als so "entlegen" wie die Kleinmeister einer Epoche in der Malerei oder wie DichterInnen, auf deren Neuauflage bereits seit mehreren Jahrhunderten gewartet wird. Gerade für Letztere gilt dann eine besondere Umkehrung: Wenn ihre Werke, aus welchem Grund auch immer, ihren Weg auf eine CD-ROM oder ins Internet gefunden haben, können sie schnell bedeutsamer werden als die hochgerühmten Arbeiten der Weimarer Klassiker. Die elektronische Ordnung in Bibliotheken hat zur Abschaffung des 'guten Nachbarn' in der Präsenz auf dem Regal geführt, aber neue Nachbarn in den jeweiligen Datenbanken generiert. Die Zufälligkeit solcher Begegnungen zwischen Büchern und Literaturen sollte in ihrer Wirksamkeit für wissenschaftliche Forschung nicht unterschätzt werden; sie gilt mutatis mutandis auch in den Naturwissenschaften.

Soweit ließe sich, wenn man es denn wollte, beredte Klage über Verluste an kultureller Identität führen, da die nachfolgenden Generationen im historischen Bestand jenseits von Sprach-, Epochen- und anderen Schwellen nach Lust und Laune herumstöbern, ohne sich an zuvor als überzeitlich angenommene Absprache des Wissenschaftsbetriebs zu halten. Gern wurde und wird übersehen, dass Thomas S. Kuhn in seinem wissenschaftstheoretischen Buch die "Paradigmenwechsel" am Ende der Moderne mit großer ironischer Distanz kommentierte. Auch ihm waren die Änderungen im Denken, die sich durch technologisch-mediale Neuerungen ankündigten, keineswegs angenehm. Der bedeutendste Shift im Gebrauch historischer Daten zur Konstitution individueller Vorstellungen und sozialer Zusammenhänge scheint jedoch wenig bedacht worden zu sein - die Aufgabe einer zeitabhängigen Entwicklungslehre aus Fortschritt und Evolution.

Günther Anders bemerkte 1956 in seinem ersten Buch von der "Antiquiertheit des Menschen", dass wir uns alle die jüdisch-christliche Vorstellung von der zeitlichen Unendlichkeit des in der Heilslehre versprochenen "ewigen Lebens" nicht vorstellen können. Einige Jahrhunderte vor und zurück gehen gewiss in unseren Kopf, aber eine echte Unendlichkeit entzieht sich der Vorstellungskraft. Hinter dieser Beobachtung steht eine feste Fixierung auf ein lineares Geschichtsbild, eben jenen langen Tunnel der Zeitgeschichte, aus dem sich unser derzeitiger Standort extrapolieren lässt. Das gleichzeitige und vor allem gleichberechtigte Nebeneinander von Kulturen und Zeitbegriffen ist konservativen Theoretikern mit der Metapher vom Krieg vorstellbar, oder aber sie flüchten sich in den sicheren Hafen der Allgemeingültigkeit falscher Vorstellungen, von medialen Fakes in Kunst und Wissenschaft bis zur humanen Selektion.

Von Anders bis zu den neueren Kohorten eines Elite-Bewusstseins hat die Ausrichtung auf ein sich selbst überholendes, weil letztlich doch nur linear fortschreitendes Geschichtsbild immer auch eine soziale Komponente: die hohe Wertschätzung einer jeden Innovation, welcher Art sie auch immer sei. Die elegante Bewegung im Zeit-, Daten-, Geschichtsraum ohne Ambition auf eigentliche Neufindung, sondern mit Lust und Geschick an neuer Verknüpfung von Gegebenem ist aller Kulturkritik suspekt. Die Gesellschaft ohne Sprachbindung, wie sie Mihai Nadin als schon vorhanden beschrieben hat, braucht keine Definition und keinen Begriff mehr davon, was als Fortschritt oder nur als seitliche Bewegung in die Büsche der Erkenntnismöglichkeiten zu werten sei. Mittelfristig mag die Verknüpfung von sozialem Aufstieg im Wissenschaftsbetrieb mit der Produktion von innovativem Material noch als Perspektive angehen, aber schon der derzeitige Zustand gerade deutscher Hochschulbürokratien zeugt von Erosionserscheinungen dieser fundamentalen Annahme.

Mit dem Geschichtsraum verändert sich ein Tertium Comparationis aller Wissenschaft, auch und gerade derer, die eine historische Abhängigkeit ihres Tuns immer geleugnet haben und sich daher das Präfix 'Natur-' gaben. Ökologische Fragenstellungen sind rein mathematisch ungleich komplexer als die Vorhersagen von Börsengeschehen und Währungskonvergenzen - dennoch erscheinen sie eher als Randnotizen gegenüber dem ökonomischen Primat aller Wissenschaftskonzeptionen. Beide, Ökonomie wie Ökologie, eint jedoch ein tiefes Misstrauen gegen jede Instabilität historischer Ableitungen, beruhen doch genau darauf alle prospektiven Erkenntnisse ihres Tuns. Ein historischer Raum, in dem man sich mehr in der Breite als in der Tiefe tummelt, bedeutet nicht mehr und nicht weniger als das Ende allen einfachen Vorhersagens - das Wetter macht es uns täglich vor, warum sollten andere Wissenschaften eigentlich simpler sein als dessen Prognose.

Zukünftiges Erinnern

Spannend werden Überlegungen zum veränderten Geschichtsraum unter der Maßgabe jener technologischen Visionen, wie sie etwa Raymond Kurzweil formulierte: Nanobots oder Knowbots werden den Menschen eingeimpft und versorgen sie beim Auftreten einer jeden Erinnerung mit den Internetanschlüssen, die die Referenz auf Originale, Inhalte oder Techniken bereithalten. Prinzipiell hätte dann jeder so ausgestattete Mensch Zugriff auf jede netzweit verfügbare Information, und zwar auf der Basis einer direkt ins Bewusstsein eingreifenden Schnittstelle.

Was das für die Menschheit bedeutet, haben von Marvin Minsky über Joseph Weizenbaum bis Hans Moravec wohl alle wichtigen Theoretiker des Fachs zu bedenken versucht - daran will ich mich hier nicht beteiligen. Aber sicher wäre zunächst nur Eines: Geschichte als Prinzip ist mit dieser Konstruktion des Erinnerns obsolet. Jede Beziehung zu jeder Zeit im Leben ist bereits unter derzeitigen Verhältnissen weniger durch ihr diachronisches Hintereinander denn durch ihre topologische Platzierung organisiert, und die kann nicht nur, sondern muss meist in so kurzen zeitlichen Distanzen erfolgen, dass man von Synchronizität sprechen kann. Dieser Prozess, von Paul Virilio schon mit Endzeit-Attitude als unumkehrbar beschrieben, wird sich unter Bedingungen von Nanobot-Technologien noch exponentiell beschleunigen.

Allen genannten Denkern der letzten Jahre ist zu eigen, dass sie die Verkürzung zeitlicher Differenz mit der Ausdehnung der räumlichen Bezüge korrelieren. Offensichtlich aber scheint exakt das Umgekehrte stattzufinden: Die Räume implodieren bei der Erinnerung, die Sehnsucht wird zunehmend enger. An einfachsten Alltagsbeispielen lässt sich dies exemplifizieren und in Richtung zukünftigen Erinnerns hochrechnen: Das homerische Gelächter der Moderne über den Horror Vacui bürgerlicher Wohnräume zu Zeiten größter technischer Innovationen und wirtschaftlicher Veränderungen - also etwa 1880 bis 1914 - ist einer beredten Postmoderne gewichen, die dem ästhetischen Überschuss ähnlich das Wort redet wie einer Kritik an einer leeren Mitte weißer Häuser. Die wunderbaren Surf-Schlaf-Kombi-Möbel für dauerhafte Internet-NutzerInnen wirken denn auch eher wie aus Tomi Ungerers Fornicon-Zeichnungen entsprungen, geben sich als autoerotische Junggesellenmaschinen im banalsten Sinn des Wortes.

Das sind Anpassungsprobleme an eine neuerliche Rückverlagerung des Memorierens in den Körper - und damit deutliches Zeichen eines Wandels von relativ lange trainierten Vorstellungen oder Systemen. Vom Bleistift zum PC, von der Wachstafel zum tiefgekühlten Massenspeicher sind alle Formen der Wissensbewahrung aus dem als durch seine Sterblichkeit unzureichend angesehenen Körper heraus transportiert worden. Der Zugriff auf dieses ausgelagerte Wissen war und ist nur über das Training spezifischer Kulturtechniken zu haben, und daran werden die Nanobots ohnehin noch länger scheitern als an ihrer technischen Genese - in dieser Hinsicht ist Stanislaw Lem nur recht zu geben. Dennoch ist eine Bewegung auf die Rückverlagerung des Referenzsystems von Wissen in den menschlichen Körper, unabhängig von seinen sozial und kulturell erworbenen Fertigkeiten, unübersehbar.

Die topologische Struktur eines historischen Raums hat wissenschaftliches Denken mindestens zwei Jahrhunderte lang - nach der Abschaffung der vertikalen Wertstruktur wissenschaftlicher Fächer und Themen, wie sie in Goethes Faust nachlesbar ist - als Tertium Comparationis so festgelegt, dass es meist noch schwer fällt, sich von der Bequemlichkeit dieses Ordnungsprinzips zu lösen. Gerade im Verlauf seminaristischer Argumentation kann die Perlschnur einer historischen Ableitung so herrlich rhetorisch glänzen und sich dann doch als so platte Aneignung von Konventionen darstellen. Insofern ist es gut, dass das allzu einfache Modell geschichtlicher Konzeptionen durch den extensiven Gebrauch neuerer Recherche-Formen quasi technisch und funktional aufgelöst wird. Ob dann am Ende das Ende der Menschheit steht, ob die Maschinen intelligenter sind als wir, und ob diese dann ihre eigene Geschichte haben und schreiben, sollte vielleicht doch eine literarische Frage bleiben. Fundierte Aussagen darüber gibt es jedenfalls (jetzt) noch nicht.