Japan - Zwang zur Freizeit

Einige lächelnde Gesichter am Eingang des Büros oder des Geschäfts, die scheinbar nur den Gästen überschwängliche Aufmerksamkeit schenken, sind in Japan oft wichtiger als Effizienz und Sachlichkeit in unserem Sinne. Ohne dieses "Service" wäre in Japan ohnehin kein Geschäft zu machen. Bild: Marcin Pietraszkiewicz

Die Regierung versucht, die starre Arbeitskultur aufzubrechen. Der Arbeit wird alles untergeordnet: Familie, Freizeit, eigene Wünsche und Interessen, sogar das Leben selbst

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Vor drei Jahren war der 51-jährige Toru Sato noch ein gut bezahlter Filialleiter eines bekannten Tokioter Unternehmens. Er lebte mit seiner Frau und einem Sohn in einem der endlosen Vororte der japanischen Hauptstadt. Wie einst sein Vater verbrachte auch Herr Sato ganze Tage im Büro. Nach dem obligaten allabendlichen Trinkgelage mit Arbeitskollegen kehrte er mit der letzten S-Bahn kurz vor Mitternacht torkelnd nach Hause. Am Wochenende stand das reguläre Golfspiel mit Großkunden auf dem Programm. Dabei, so wünschte es sich sein Vorgesetzter, sollte er stets verlieren. An den seltenen freien Sonntagen wollte die chronische Erschöpfung nicht von ihm weichen und er schlief vor dem Fernseher. Der Haushalt, die Schulerziehung des Kindes interessierten ihn kaum.

Nicht ganz ohne Stolz erzählte er, dass er nicht einmal wusste, wo seine Socken lagen. All das erledigte seine Frau. Ihre gesamte Energie galt dem Haushalt, der Schulbildung und der Erfüllung jeglicher Wünsche des Sohnes. Der Familienvater wusste nur so viel, dass sein Sprössling, wie alle Satos, auf eine gute Uni musste, koste es, was es wolle. Er bekam nicht mit, als sich der Teenager dem steigenden Druck verweigerte und immer häufiger der Schule fernblieb. Offenes Gespräch ist ohnehin nicht gerade eine Stärke der japanischen Paare, also tat man einfach weiterhin so, als wäre nichts geschehen.

Heute steht Herr Sato vor den Trümmern seiner Existenz. Eines Tages war die Tür seines Hauses verschlossen. Die Frau tauschte das Schloss, der Sohn wollte vom Vater nichts mehr wissen, weil dieser nicht da war, als er ihn gebraucht hätte. Ob er bereits hikikomori, das heißt soziopathologisch gestört ist oder noch futoko, also bloß Schulverweigerer, darüber sind sich die herbeigezogenen Ärzte und Psychologen nicht einig. Worüber sie aber übereinstimmen, ist die Mitschuld des Vaters an der Misere.

Doch hätte sich Herr Sato dem beruflichen und sozialen Druck, der auf ihm lastete, überhaupt entziehen können? Als er schließlich Engagement für seine Familie zeigte, kam das in der Firma nicht gut an. Die wenigen freigenommenen Tage, die er für Gespräche mit Familientherapeuten beanspruchte, genügten, um ihn finanziell und im Rang zu degradieren und in eine entlegene Filiale hinter die Verkaufstheke zu versetzen. Da kennen japanische Bosse kein Mitleid.

Der nationalkonservative Premierminister Shinzō Abe kündigt seit seinem Amtsantritt vor über fünf Jahren regelmäßig Arbeitsmarktreformen an, die die starre Arbeitskultur aufbrechen sollen. Die Regierung versucht, in einer Gesellschaft von traditionellen Workoholikern die Work-Life-Balance per Gesetz auszugleichen. Der Hintergedanke dieser Maßnahmen gilt weniger der Sorge um das Wohl der Beschäftigten oder der Verpflichtung zur japanischen Variante eines genüsslichen dolce far niente, sondern wohl eher der gebetsmühlenartig herbeigesehnten Ankurbelung des privaten Konsums. Man wünscht und erhofft sich, dass die Salarymen nach getaner Arbeit oder an ihren freien Tagen in die Einkaufszentren und Restaurants ausströmen und dort zusätzliche Milliarden Yen ausgeben. Man hofft auch, die Tourismusindustrie, die sich abseits der bekannten Destinationen in einer dramatischen Abwärtsspirale befindet, wieder zu beleben.

Bereits 2015 wurde mit yukatsu (Abendaktivität) eine Kampagne gestartet, die den Arbeitsbeginn vorversetzen sollte, damit die Beschäftigten früher nach Hause kommen können. Rezente Aktionen wie Premium Friday oder Kids Week (beides in die japanische Schrift transkribierte Originalbezeichnungen) sollten westliche Freizeitkultur und Lebensgefühl vermitteln, blieben allerdings von der breiten Masse der Angestellten und Arbeitern bzw. deren Chefs weitgehend ignoriert. Abes Regierung will die Arbeitnehmer dazu verpflichten, mindestens fünf Tage Urlaub im Jahr zu nehmen. Gewerkschaften fordern acht, Unternehmerverbände bestehen auf drei Pflicht-Urlaubstagen.

Beim Premium Friday sollten an jedem letzten Freitag des Monats die Angestellten bereits um 15 Uhr nach Hause geschickt werden. Nagano, ein beliebter Luftkurort nur wenige Stunden von Tokio entfernt, rechnete im Vorfeld der Einführung vor einem Jahr mit einem Ansturm von zusätzlichen Wochenendgästen aus der Hauptstadt. Laut Asahi Shinbun hätten ursprünglich gut 150 große Unternehmen die Idee gebilligt. Bei einer Umfrage unter 6.000 Arbeitern und Angestellten nach dem ersten Premium Friday gaben aber nur 2.5 Prozent an, dass sie tatsächlich früher Schluss machen konnten.

Baufirmen beklagten, dass diese Maßnahme zu unnötigen Verzögerungen am Bau führen würde, da die meisten Unternehmen ohnehin auch am Wochenende arbeiten würden. Angestellte, die an diesem Tag früher nach Hause geschickt werden, würden nach Feierabend nahe gelegene Cafés aufsuchen, um dort, gemeinsam mit anderen Arbeitskollegen ihre Arbeit außerhalb des Büros fortzuführen - so eine gängige Anekdote. Heute, rund ein Jahr nach der Einführung, ist Premium Friday wieder weg vom Tisch.

Eine weitere Maßnahme ist die gerade injizierte Kids Week. Diese Ferienwoche soll Eltern, allen voran Väter, dazu verpflichten, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Doch es sieht nicht danach aus, als würden diese die zusätzliche Freizeit tatsächlich gerade dafür nützen wollen. Aufgrund des sozialen Drucks in der derzeitigen Arbeitskultur ist es kaum möglich, Urlaub zu verlangen. Yahoo News Japan befragte zu dieser Idee 172.000 Japaner. Das Ergebnis: 66 Prozent der Beschäftigten waren dagegen, da es einfach unmöglich wäre, solange der Arbeit fernzubleiben.

Die Arbeit wurde in der buddhistisch-konfuzianischen Gesellschaft zu einer Art Religionsersatz

"Die japanische Arbeitsethik", sagt Shinzō Abe, ist "eine Kultur, die fälschlicherweise Überstunden seligspricht." Da hat der Ministerpräsident sicherlich Recht. Es sind nicht nur die unbezahlten Überstunden, die Arbeit an sich wurde in der buddhistisch-konfuzianischen Gesellschaft, die vor genau 150 Jahren auf den Manchester-Kapitalismus traf, zu einer Art Religionsersatz erhoben. In der Tradition des Zen-Buddhismus wird derjenige bei der Arbeit glücklich, der sich ganz in der eigenen Tätigkeit verliert.

Der Konfuzianismus fordert Loyalität und Gehorsam gegenüber einer strikten Hierarchie, sowohl im Staat, als auch in der Gesellschaft und eben auch gegenüber der Firma. Der Arbeit wird alles untergeordnet: Familie, Freizeit, eigene Wünsche und Interessen, sogar das Leben selbst: der Begriff Karoshi - "sich totarbeiten", ist in den internationalen Wortschatz eingegangen.

In den Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden die Firmen zu einem Familienersatz. Es hatte sich eingebürgert, dass der Mann das Geld verdiente und sich für seine Firma aufopferte, während die Frau sich um den Haushalt und die Kinder kümmerte. Im Familienalltag war der Vater seitdem kaum präsent.

Psychologen führen viele Probleme der heutigen japanischen Gesellschaft, etwa die psychischen Erkrankungen vieler junger Menschen, auf den Mangel der Vaterfigur zurück. Nach einem langen Arbeitstag war jener verpflichtet, den Abend in einer Kneipe mit Arbeitskollegen beim Alkohol und "informellen Gesprächen" ausklingen zu lassen. Auch am Wochenende traf man sich "zwanglos" zu gemeinsamen Aktivitäten, oder man erledigte noch Sachen im Büro.

Sich mit dem Argument einer zu Hause wartenden Familie zu verweigern, wäre bis vor kurzem undenkbar gewesen. Andererseits haben sich die Firmen die Loyalität mit einer in Europa unvorstellbaren Fürsorge für ihre Mitarbeiter erkauft: Gesundheitsvorsorge, eigene Pensionsfonds, firmeneigene Wohnungen, Sportanlagen, Schulen, Stipendien, Ferienheime und, in der Regel, eine gute Entlohnung.

Arbeit um jeden Preis

Kraft der Stellung der Arbeit an sich, aber auch der gängigen "Schamkultur", werden bei Jobverlust oder bei sozialer Bedürftigkeit Geld- oder Sachleistungen seltener als im Westen in Anspruch genommen. Vielmehr versucht man diese Menschen mit Arbeit zu versorgen. Unter weitgehendem Konsens seitens der Arbeitgeber und oftmals gegen gängiges westliches Effizienz- und gewinnorientiertes Denken, war es in der japanischen Spielart des Kapitalismus bisher Usus, Menschen in Überzahl zu beschäftigen und ihnen, aus westlicher Sicht, "sinnlose" Aufgaben aufzutragen. Bei den Arbeitgebern spielten Faktoren wie gesellschaftliches Ansehen, sozialer Druck, Pflichtbewusstsein gegenüber den eigenen Angestellten, aber vor allem die in Japan hoch gehaltene Dienstleistungsidee eine Rolle.

Mit zahlreichen Regelungen und Subventionen schaffte der Staat seinerseits die hierfür notwendigen Rahmenbedingungen. Einige lächelnde Gesichter am Eingang des Büros oder des Geschäfts, die scheinbar nur den Gästen überschwängliche Aufmerksamkeit schenken, sind in Japan oft wichtiger, als Effizienz und Sachlichkeit in unserem Sinne. Ohne dieses "Service" wäre in Japan ohnehin kein Geschäft zu machen.

Bei der Erfindung neuer Beschäftigungen ist das Land durchaus kreativ. Ausländischen Besuchern fallen überzählige Arbeitskräfte in Geschäften, Restaurants oder Büros auf. Ein wenig fühlt man sich dabei an den früheren Ostblock erinnert, mit dem Unterschied, dass die japanischen Angestellten ihre Aufgaben todernst nehmen und mit großer Hingabe erfüllen. In vielen Aufzügen drücken nach Stewardessenart gekleidete Frauen noch die Liftknöpfe. Lokale Gesetze verpflichten etwa Baufirmen, Sicherheitspersonal zwecks Baustellenabsicherung zu beschäftigen. Neben einer Überzahl an regulären Bauarbeitern, findet man auf jeder noch so kleinen Baustelle mehrere in Overalls, weiße Handschuhe und Helm gekleidete, mit blinkenden Leuchtstreifen und mit dem obligaten roten Leuchtstab bestückte zumeist ältere Männer, gelegentlich auch Frauen, die den vorbeiziehenden Passanten und Autolenkern freundlich den ohnehin einzigen Weg weisen.

Vor Parkplatzausfahrten, vielen Zebrastreifen oder vor Ämtern versehen fantasievoll Uniformierte ähnliche Aufgaben. Diese "Sicherheitsindustrie" ist eine jener Systemlösungen, die als Auffangbecken für ältere Arbeitslose oder bedürftige Rentner fungiert. Aber auch in Ämtern, Banken oder in Postfilialen, für Kunden gut zu beobachten in offenen Großraumbüros, eilen überzählige Angestellte geschäftig durch den Raum. Sie sind äußert konzentriert, grüßen und verabschieden die Kunden überschwänglich, stets mit einem Lächeln. Effizienter als in Europa läuft die Arbeit deswegen keineswegs, die Amtswege dauern deutlich länger, da viele Tätigkeiten erst durch mehrere Vorgesetzte abgesegnet werden müssen.

Entscheidungen in Unternehmen ziehen sich aufgrund von Hintergrundverhandlungen und unzähligen Meetings, bei welchen ein genereller Konsens erzielt und alle Beteiligen ihr Gesicht wahren sollen, in die Länge. Ausländer in japanischen Unternehmen bemängeln archaische Hierarchiestrukturen und langwierige, einer eigenen Logik folgende Arbeitsabläufe. Die langen Arbeitszeiten, die unbezahlten Überstunden, in welchen schon mal geschlafen, gegessen oder ferngesehen wird, mögen nicht effizient erscheinen, bedeuten aber ein Zeichen der Verbundenheit mit der Firma und mit der Gemeinschaft.

Die Situation ändert sich langsam in jenen großen staatsnahen Unternehmen, wo Arbeiter manchmal auf Zwangsurlaub geschickt werden, doch im internationalen Vergleich rangiert Japan in diesem Bereich auf den hinteren Plätzen. Laut einer Umfrage des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt, würden nur 48 Prozent der Beschäftigten zumindest einen Teil ihres Urlaubs konsumieren. Bei Firmen bis 99 Angestellten sind es gerademal 43 Prozent. Das Reiseunternehmen Expedia Inc. publizierte eine Studie, wonach Japaner die wenigsten bezahlten Urlaubstage unter allen 28 untersuchten Ländern hätten.

Aber es ist nicht nur die Arbeitsethik, die Menschen auf ihre Freizeit verzichten lässt. Viele erklären, dass sie keinen Urlaub nehmen würden, weil dies ihre Beurteilung in der Firma negativ beeinflussen würde, außerdem würden sie bei dem Gedanken frei zu haben, während ihre Kollegen und Chefs arbeiten, ein Schuldgefühl entwickeln. Hinzu kommt der Mangel an Arbeitskräften, der viele Japaner zu Überstunden zwingt.

Auch wenn sich japanische Politiker von der Arbeitszeitverkürzung in erster Linie eine Konsumsteigerung erwarten, können sie ihre Augen vor den realen Folgen dieser Arbeitskultur nicht verschließen. Die dramatisch niedrige Geburtenrate, die eine direkte Folge von Überarbeitung, Zeitmangel und der damit einhergehenden Sexmüdigkeit der jungen Japanerinnen und Japaner ist, die hohe Selbstmordrate und Fälle von karoshi, das alles sind harte Tatsachen. Zahlreiche Studien zeigen eine Korrelation zwischen langen Arbeitszeiten von über 49 Wochenstunden und einem signifikanten Abfall sexueller Aktivität.

Gesellschaft im dramatischen Wandel

Die japanische Gesellschaft ist in einem dramatischen Wandel begriffen, der vermutlich schneller voranschreitet, als es nach außen den Anschein hat. Entlang einer ruhigen Seitenstraße sitzen Männer in geparkten Autos mit laufenden Motoren. Manche lesen Mangas oder spielen auf dem Smartphone, die meisten dösen vor sich hin - Außendienstangestellte in schicken Sakkos, Arbeiter in Firmenuniform, Handwerker. Sie sind mit ihrer Arbeit fertig, wollen oder können aber nicht in ihre Firma zurück. Sie würden als nicht eifrig genug gelten, würden sie früher als ihre Kollegen nach Hause gehen. Sie warten, schlafen, schlagen die Zeit tot.

Einer aktuellen Umfrage unter Angestellten der "Japan Times" zu Folge, sagten immerhin 50 Prozent der Respondenten, dass sie ihrer Arbeit in erster Linie nachgehen würden, um Geld zu verdienen und dass ihnen ausreichend Freizeit wichtiger wäre als die Arbeit. Junge Väter, die sonntags in Parks mit ihren Kindern spielen, sind, anders als noch vor zwanzig Jahren, mittlerweile ein gängiges Bild geworden.

Der korporatistische Kollektivismus mit der lebenslangen Anstellung, die Loyalität für und die Sozialleistungen von der Firma gelten heute für einen zunehmend schwindenden Teil der arbeitenden Japaner. Seit der Deregulierung des Arbeitsmarktes arbeiten mittlerweile mehr als 40 Prozent der Werktätigen mit Zeitverträgen, als Leih- und Teilzeitangestellte: unterbezahlt, ohne soziale Absicherung und ohne Aufstiegschancen. Bei den unter 35-Jährigen und vor allem bei Frauen liegt dieser Anteil bereits bei 50 Prozent. Arbeit gibt es für diese Menschen zur Genüge, doch bei einem Stundenlohn von umgerechnet 6-8 Euro, bei deutlich höheren Lebenshaltungskosten als in Europa, kann von einem würdigen Leben, wie es noch ihre Eltern kannten, keine Rede mehr sein.

Viele Jungen, auch Uni-Absolventen, verweigern sich bewusst dem ständigen Konkurrenz- und Leistungsdruck, lehnen die Arbeitskultur ihrer Väter ab. Sie sehen, wie ihre Familien darunter litten, aber auch wie Menschen andernorts leben. Manche versuchen bei ausländischen Firmen, wo die Hierarchien flacher sind, unterzukommen, gründen kreative Start-ups oder sie schlagen sich als sogenannte "freeter" (vom englischen "free" und deutschem "Arbeiter") mit diversen Gelegenheitsjobs, den arubaito (dem deutschen Begriff "Arbeit" entlehnt) durch. Sie werden wohl nie eine feste Anstellung bekommen, denn diese setzt einen makellosen Lebenslauf voraus.

Auch als potentielle Familiengründer scheiden sie zumeist aus. Das Geld würde für eine Wohnung nicht reichen und ohne feste Anstellung gibt es auch keine Kredite. Außerdem träumen die heiratswilligen Japanerinnen nach wie vor von der "guten alten Zeit" und von den überholten Familienstrukturen. Aus diesen Gründen gehen immer weniger junge Menschen feste Beziehungen ein, mit der Folge eines dramatischen Geburtenrückgangs.

Die jungen Japaner protestieren nicht, sie sind in höchstem Maße apolitisch, viel eher ziehen sie sich in die innere Immigration zurück, in die Welt der Computerspiele, der Mangas. Freundschaften, soziales Engagement und Auslandsaufenthalte sind rückläufig. Hinzu kommt, dass die Arbeitskultur eine Entkoppelung der Lebenswelten beider Geschlechter zur Folge hatte. Statistiken besagen, dass 36 Prozent der jungen Männer im Alter von 16 bis 19 Jahren und fast 60 Prozent der jungen Frauen in diesem Alter kein Interesse am Sex hätten oder gar eine Aversion dagegen hegen würden. Bei den 20- bis 24-Jährigen waren es 21 respektive 35 Prozent. Das bedeutet, dass zumindest einer von drei jungen Menschen kein Interesse am Sex hat.

61 Prozent der unverheirateten Männer unter 34 Jahren haben folglich keine Partnerin und 80 Prozent der Singles erachten es als Vorteil, alleine zu sein. Als parasite singles werden junge unverheiratete Menschen genannt, die im Haus und von der Rente ihrer Eltern leben, bei den 20-34-Jährigen soll es bereits jeder zweite sein. Manche von ihnen verlassen ihr Zimmer nicht mehr, ein Phänomen, das als hikikomori bezeichnet wird. Während die Selbstmordrate vieler Altersgruppen im Sinken begriffen ist, steigt sie bei den Jungen.

Wer nur die Touristenzentren Tokios oder Kyotos besucht, oder mit dem Shinkansen durch das Land saust und in hypermodernen Bahnhöfen aussteigt, staunt über die Sauberkeit und Effizienz des urbanen Alltags. Die unfassbare Freundlichkeit, Höflichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen sind für den westlichen Besucher überwältigend. Die Umgangsformen und die Etikette sind selbst in dicht bewohnten Großstädten von höchster Raffinesse. Dazu gesellt sich das Klischee der technikaffinen Japaner.

Doch wir haben es mit einer starren und konservativen Gesellschaft zu tun, die sich zwar gerne vor der Realität in diverse elektronische Gadgets flüchtet, aber im Grunde große Angst vor Veränderungen hat. Verlässt man die Glitzerwelt der Tokioter Hochhäuser und begibt man sich etwa in die nördliche Provinz Tohoku, entdeckt man eine Welt von gestern: verfallene, vernachlässigte Dörfer und Städtchen, in denen überwiegend alte Menschen leben, geschlossene Geschäfte und Betriebe.

Wer genau hinschaut, kann auch unter den Autobahnüberführungen Tokios Obdachlosenzelte aus blauen Planen erspähen. Die Männer fallen kaum auf, wenn sie sich in die Stadt begeben, um dort Müll zu sammeln. Die meisten haben ein gepflegtes Äußeres, sie beklagen sich nicht, meist sehen sie die Gründe für ihr gesellschaftliches "Versagen" bei sich selbst. Sie seien nicht arbeitsam genug gewesen, hätten sich nicht genug engagiert.

Wie in Japan üblich, redet man nicht gerne über das eigene Schicksal, man möchte andere nicht mit den eigenen Problemen belästigen. Die Medien und die Öffentlichkeit greifen soziale Themen selten auf - Japaner mögen keine Negativnachrichten, hört man oft als Erklärung.

Seit jeher galt Japan als ein soziales Zukunftslaboratorium. Zu den globalen Krisensymptomen, die allen OECD-Ländern mehr oder weniger immanent sind, fügen sich in Japan einige spezifische, hausgemachte Probleme hinzu. Die Versuchsanordnung, bestehend aus einem exportgetriebenen Wirtschaftswachstum bei gleichzeitigem gesellschaftlichem Isolationismus, sowie die von Bürokraten vor 50 Jahren ersonnene Idee der "Japan Inc.", einem Staat als Firma, in der jeder Bürger aufopferungsvoll und unreflektiert seine zugewiesene Funktion zu erfüllen hat, um Japan an die Weltspitze zu katapultieren, sind Geschichte. Die politischen Entscheidungsträger haben diese Tatsache spät, vielleicht zu spät erkannt.

Die Zukunft wird weisen, ob Japans Erbeliten genug Innovationskraft aufbringen werden, um das Land der neuen Realität anzupassen, oder ob die traditionsbehaftete Politikerkaste mit more of the same, mehr Geld, mehr in Beton gegossene Megalomanie und Slogans wie Ganbare Nippon ("Japan, gib dein Bestes") ihren angestammten Weg fortsetzen wird.