Japans neue Hauptstadt des 21. Jahrhunderts
Nicht nur in Deutschland wird mit dem geteilten Regierungssitz Berlin-Bonn eine virtuelle Hauptstadt auf der Datenautobahn gegründet. Ein ähnlicher Plan existiert in Japan. Keisuke Oki, unser Korrespondent aus Tokyo, berichtet von den Umzugsplänen für die japanische Regierung.
Im Zeitalter der Netzwerke haben sich die Gesellschaftsstrukturen in der ganzen Welt in Richtung einer steigenden Dezentralisierung entwickelt. Die Menschen werden vom Netz abhängen und in ihm in dem Maße leben, in dem sie sich von der zentralisierten Kultur, Wirtschaft und Politik befreien.
In der Vergangenheit war Zentralisierung eine starke Kraft für die Formation einer Nation. Ohne Zentralisierung hätte sich die moderne Nation niemals entwickelt. Jetzt aber befinden wir uns mitten in einem Dezentralisierungsprozeß. Überall werden gegenwärtig Büros einer Welle des "Down-Sizing" von alten Unternehmenssystemen unterzogen, das vor allem auf Mainframe-Computern basierte. Dezentralisierung im Büro ersetzt diese Mainframes durch Netzwerke von Workstations und PCs. Lokale Netzwerke verbinden sich mit dem Internet, und das Internet dehnt sich jetzt über die nationalen Grenzen hinaus aus. Die nationalen und urbanen Strukturen werde sich im nächsten Jahrhundert verändern müssen. Ohne diesen Wandel werden Städte und Nationen nicht mehr funktionsfähig sein. Dieser Prozeß ist vielleicht schon am Werk
Wenn "Tokyo - die Megalopolis" in Filmen wie GODZILLA oder in "A-ni-me" (japanischen Zeichentrickfilmen) wie Akira in Erscheinung trat, wurde es stets durch Monster oder nukleare Kriege zerstört. Das Bild eines verwüsteten Tokyo zu sehen, kann erheiternd sein. Und es ist dies besonders, wenn ein Monster neue Gebäude zerstört, die Wahrzeichen darstellen. Immer wenn neue Gebäude im realen Tokyo fertiggestellt wurden, sind sie im Tokyo der Filme von Monstern gleich wieder zerstört worden. Das Betrachten dieser Szenen zusammenfallender Gebäude ist eine Form, den Streß nach der Büro- oder Schulzeit abzubauen. Einige Angestellte können ihre Büro zusammenfallen sehen. Sich an derartigem zu erfreuen, war jedoch nur ein kleiner Vandalismus, bevor das Erdbeben im Januar 1995 Kobe traf. Dieses Erdbeben holte die Ruinen einer modernen Stadt in die wirkliche Welt. Es veränderte das Szenario der künftigen Pläne für Japan. Es brachte die Regierung dazu, einen ernsthaften Plan für die Verlagerung der Hauptstadt anzugehen. Aber das Erdbeben war nicht der einzige Grund für das Verlagerungsprojekt.
Am 14.12.1995 schlug ein Regierungsausschuß angesichts des Verlagerungsprojekts vor, daß die neue Hauptstadt zwischen 60 und 300 Kilometern von Tokyo - oder ein bis zwei Fahrstunden mit dem Zug - liegen sollte. Es wurden noch einige zusätzliche Bedingungen aufgeführt. Ein internationaler Flughafen mit Direktflügen nach den USA und Europa sollte in einer Fahrzeit von höchstens 40 Minuten erreichbar sein, gleichzeitig sollte die neue Hauptstadt aber nicht zu nahe an anderen großen Städten liegen. Das Gutachten forderte, daß sie in einem Gebiet mit einer ausreichenden Wasserversorgung errichtet werden und ein starkes Erdbeben heil überstehen sollte. Die Empfehlung ging dahin, den Bau der neuen Hauptstadt vor dem Ende des Jahrhunderts zu beginnen, so daß man im Jahre 2010 die ersten Sitzungen im neuen Parlamentsgebäude abhalten kann. Da man die Kosten für den Bau auf 14 Billionen Yen ansetzte, sind einige Kommunen ganz gierig darauf, die Hauptstadt in ihrer Stadt anzusiedeln.
Der Umsiedlungsplan wird im Finanzsektor ganz allgemein begrüßt. Man glaubt, daß der Umzug der stagnierenden Ökonomie zum Aufschwung verhilft. Viele Menschen jedoch kritisieren den Plan aus unterschiedlichen Gründen, auch wenn die Kritik bislang nicht zu einem starken Konsens gelangt ist. Vornehmlich kommt die Kritik aber aus einem tiefen Mißtrauen an den Bürokratie. Die Mehrzahl der Menschen glaubt, daß die schlimmsten Entwicklungen aus der Bürokratie entstehen.
Die Japaner lernten die Bautechnik vom alten China. Die alte Städte Japans wie Kyoto und Nara wurden mit der fortschrittlichsten chinesischen Technik erbaut. Mit der Kultur und der Technik kehrte die Bürokratie über das Chinesische Meer in Japan ein. Der Bau dieser alten Städte stellte ein großes Symbol für Japan dar. Noch immer sind japanische Ministerien in Erinnerung an die alten Zeiten mit diesen verbunden. Daher kann zurecht geglaubt werden, daß die Bürokraten noch immer von einer zentralisierten Nation träumen. Die fortschrittlichsten Kräfte der oppositionellen Gruppen wollen die Regierung dezentralisieren. Weil jedoch Zentralisierung und Bürokratie in Japan eine vierzehnhundertjährige Geschichte hinter sich haben, hat die Dezentralisierung gerade erst begonnen.
Aus dem Englischen von Florian Rötzer