Japogames & Japanimation
Elektronische Spiele in Japan
Techno-Orientalismus
Mario und Sonic the Hedgehog sind Weltenbürger, und zugleich sind sie unverkennbar japanische Staatsangehörige. Ist die US-amerikanische Nationalidentität auf Mikroprozessoren, Hollywood-Filme und Software gebaut, so die japanische auf Memory-Chips, Games und Japanimation. Für die These, das Projekt Technologie als identitätsstiftender Kern der Moderne sei von Europa über Amerika nach Japan abgewandert, haben Moreley und Robins den Begriff des Techno-Orientalismus eingeführt.
Japan ist synonym geworden mit den Technologien der Zukunft - mit Bildschirmen, Netzwerken, Kybernetik, Robotik, künstlicher Intelligenz, Simulation... Wenn die Zukunft technologisch ist, und wenn Technologie 'japanisiert' wurde, dann suggerierte der Syllogismus, daß auch die Zukunft jetzt japanisch sei.
Morely und Robins
Das Motiv findet sich in wirtschaftlichen und politischen Diskursen ebenso wie im Science-Fiction von Ridley Scotts "Blade Runner" (1982) oder William Gibsons Cyberpunk-Romanen. Der Westen bilde sich eine Techno-Mythologie, derzufolge Japan die Welt in eine Art "postmoderne Mutation der menschlichen Erfahrung" führen werde, ein Reich gänzlich anderer elektronischer Zeichen, Bilder und Klänge, wie sie uns im technologischen Format von Karaoke, Computer-Games und Virtual Reality entgegentreten.
Die westliche Konstruktion einer techno-orientalistischen Differenz zu sich selbst hat ihr komplizenhaftes Pendant in der japanischen Selbst- und Fremdreflexion. Japans staatstragende Denkelite heftet sich einerseits den Erfolg von Anime und Games im asiatischen und westlichen Ausland an die Brust. Anderseits sorgt sie sich um die geistige und moralische Gesundheit der Jugend von heute.
Anerkennung erteilte der Westen dem Nachkriegs-Japan zunächst für Fleiß, Sparsamkeit, technologische Präzision und schließlich für die gesamtwirtschaftliche Leistung, die Ezra Vogel 1979 mit olympischem Gold prämiert. Japan ist Number One. 1980 läutete dann Ministerpräsident Ôhira das Ende von Ökonomismus und Materialismus und den Beginn des "Zeitalters der Kultur" ein. Miyazawa stellte die Neunziger unter das Motto "Lifestyle Superpower" (Seikatsu Taikoku). Diese Lebensqualität wird zwar weiterhin technologisch operationalisiert als mehr Kommunikation und mehr Medien. Die Rede von der sozialen Infrastruktur übersetzt sich reibungslos in die Pläne fürs Internet und für ein Breitband-ISDN in jeden Haushalt bis 2010. Doch fehlt dabei etwas schwer zu Planendes, etwas das mit 'Kreativität' und 'Originalität' benannt wird, um die neuen Schläuche mit neuem Wein zu füllen.
Obgleich die Vision der Informationsgesellschaft seit den sechziger Jahren die Umwandlung Japans in eine "Soft Society" (Hayashi Yûjirô) vorsah, wird ihm eine anhaltende Schwäche im Bereich von Computer-Software attestiert. Japan leidet darunter, keine Programmiersprache und kein Betriebssystem hervorgebracht zu haben, die sich international durchsetzen konnten. Nur eingebettete Software in Konsum- und Industrieprodukten hat eine Präsenz auf den Exportmärkten, und eben Videogames. Imai Kenichi sieht heute eine Verschiebung der industriellen Struktur Japans von Hardware zu Software und von der herstellenden Industrie zu Dienstleistungen.
Die Freizeit- und Unterhaltungsaktivitäten eines jeden Landes spiegeln die technologischen Bedingungen der Zeit wieder, in der sie sich entwickelt haben. Im Falle Japans ist es daher natürlich, daß elektronische Formen der Unterhaltung - Pachinko, Karaoke und Videogames - die Führung übernommen haben.
Imai Kenichi, Toward a New Japanese Industrial System
Im westlichen Eingeständnis der komparativen Stärken seines Landes in diesem Bereich erkennt Imai einen ersten Schritt zu einem neuen nationalen Selbst-Bewußtsein. "Die Informationstechnologien werden von den jüngeren Japanern dominiert werden, die bereits demonstriert haben, daß sie in solchen Bereichen wie Videogames und Animationsfilmen in die Weltspitze aufsteigen können." (Imai Kenichi, Rethinking the Japanese-Style System) Nintendo ist Japans Microsoft. Japanimation wie "Akira" und "Mononoke-hime", das im Wettbewerb der Berlinale 1998 lief, zeigen, daß kultureller Content aus der aktuellen japanischen Jugendkultur global anschlußfähig ist. Japan ist stolz auf seine Otaku.
Andererseits häufen sich kritische Töne. Sozialwissenschaftler und Kulturkritiker sagen das, was sie bei jeder neuen Mediengeneration sagen: Games seien ein gefährlicher, mindestens jedoch ein nutzloser Zeitvertreib, der Jugendliche von der höherwertigen Kulturtechnik des Bücherlesens abhalte. Bedenklich sind die Fälle von Videogame- und Anime-induzierter Epilepsie wie der jüngste, bei dem 800 Kinder durch Stroboskop-Effekte in der Fernsehserie "Pocket Monster" geschädigt ins Krankenhaus gebracht werden mußten.
Ein vollständiger Wirklichkeitsverlust durch exzessiven Gebrauch von Medien wird unterstellt, wenn Jugendliche morden. Als 1989 die Leichen von vier Mädchen gefunden wurden, war mit der Formel, der Täter sei ein "Video-Otaku", vermeintlich alles erklärt. Als im Mai 1997 der Kopf eines Grundschülers vor dem Tor einer Schule in Kobe gefunden wurde, schlossen alle Beobachter aus anonymen Briefen des Täters auf einen kaltblütigen Killer, der Vergnügen daran findet mit dem Leben von Menschen zu spielen. Der Schock war groß als sich zwei Monate später herausstellte, daß es ein 14-Jähriger war. Schuld wurde den trostlosen Wohnblocks des Vororts gegeben, in dem er wohnte, der Schule, an der er Rache üben wollte, und der mediengesättigten Umwelt. In der folgenden Nabelschau stellte die japanische Gesellschaft eine tiefgreifende moralische Verunsicherung an sich fest.
Wir haben eine Generation herangezogen, die sich nichts dabei denkt zu töten. Jetzt sehen wir die schockierenden Folgen.
Politikwissenschaftler Masuzoe Yôichi, Violence in Virtual Reality
Zwar halte die Untersuchung noch an, doch ein Schuldiger steht für Masuzoe bereits fest: Virtual Reality. Zum Beleg führt er Stellen aus den Briefen des Täters an, die ihn als "charakteristisch für die Generation, die mit elektronischen Spielen aufgewachsen ist," erkennbar machen. Mit Kriegsspielen, in denen es Blut, Schmerz, Leiden und Tod nicht gibt und die die Erfahrung einer magischen Omnipotenz erzeugen. Als einziges Gegengift gegen die zersetzende Wirkung der Virtualität empfiehlt er 'Aktualität'. Eltern und Schule sollten dafür sorgen, daß die Zeit für Fernsehen und Games beschränkt und das Lesen der Weltliteratur, Sport, der Umgang mit der Natur und vor allem mit Menschen aus Fleisch und Blut ermuntert wird. Doi Takeo ist der Ansicht, daß der Junge durch die Erziehung zu emotionaler Unabhängigkeit sein amae nur auf perverse Weise ausleben konnte und empfiehlt harte Strafen. Auch Forderungen nach Zensur der Game- und der Medien-Inhalte allgemein werden laut.
Während auf diese Weise das offizielle Japan die Früchte des internationale Erfolgs zu ernten und die 'Nebenwirkungen' zu kontrollieren sucht, stellt sich das Phänomen aus dem Blick der Jugendszenen, die es hervorbringen, naturgemäß etwas anders dar. Die visuelle und soziale Kultur der Games ist eng verwandt mit der der Manga und Anime. Sie verfügen über einen kommerziellen Mainstream und über einen Underground, aus dem sich jener immer wieder auffrischt und nährt, und sie feiern sich in ihren Helden und Königen. In einer Businesskultur wie der japanischen, in der individueller Ausdruck, Risikobereitschaft, Verspieltheit und Exzentrik verpönt sind, nehmen die "Creators" einen besonderen Freiraum für sich in Anspruch. In den Siebzigern waren solche medialen Stars vor allem Mode- und Grafik-Designer. In den Achtzigern waren es die Werbetexter und Event-Planer. In den Neunzigern stehen die Game-Designer und Anime-ka im Rampenlicht.
Einer der größten Medienkultur-Stars der 80er Jahre, Itoi Shigesato, verkörperte den Idealtyp des Shinjinrui ("Neue Menschheit" oder "Neue Generation"), ein Image von Jetset, Yuppietum und Kreativität. Er wurde mit seiner Werbung für die Kaufhauskette Seibu berühmt. Slogans wie fushigi daisuki ("Ich liebe das Mysteriöse") oder oishii seikatsu ("köstliches Leben") brachten ihm Vergleiche mit den Meistern des Haiku ein. Er betätigte sich außerdem als Event-Planer, hatte seine eigene TV-Show und gab gar eine Tageszeitung heraus. Auch mit seinem Adventure-Game "Mother" für den Famicon traf er die Meta-Massen-Sensibilität der Zeit. Die Figur des Spielers heißt Ninten und ist zusammen mit drei Freunden unterwegs in ein geheimnisvolles Land, das erkennbar nach den USA modelliert ist. Hintergrund ist eine New Age-Philosophie von Mutter Erde und der Herausforderung, die Probleme in einem selbst zu lösen. In der von Itoi herausgegebenen "Mother Encyclopedia" (1989) schrieben andere Media-Creators wie Itô Seiko und akademische Intellektuelle wie Nakazawa Shinichi über ihre Erfahrungen und Gefühlsregungen beim Spielen von "Mother". Das Buch hob das Genre der Game-Kritik auf ein neues Niveau und verlieh der Spielerei ein weiteres Stück Glanz der Hochkultur (vgl. TGM1).
Parallel dazu betritt mit den otaku ein neuer Stamm (zoku) das Spielfeld. Diese Generation amaeru-t nicht mehr mit Mutter Gaia sondern mit Mutter Computer. Die Medien-Monade schließt sich. Aus dem Rückkopplungskreis von Game-Konsole und Fernseher ist der exklusive Terminal zur Welt geworden. Asada Akira diagnostiziert eine Verschiebung in der Imagination des Science Fiction von der paternalistischen Dystopie eines Big Brother, z.B. in Orwells "1984", hin zur maternalen umhegenden Figur eins 'Mutter-Computers', der ein 'Mutter-Schiff' oder eine 'Mutter-Stadt' kontrolliert. An den Videogames zeige sich eine Infantilisierung durch eine Art von elektronischem Mutterschoß2.
Daß daraus die Otaku geboren werden, entdeckte als erster 1984 Nakamori Akio. Die Otaku sind bis heute wesentlich eine 'Subkultur', die ihre Infrastruktur in den Zirkeln der dôjinshi, der Manga von Fans für Fans im Eigenverlag, den regelmäßigen komike (Comic-Markt) und anderen Events, und schließlich in den elektronischen Mailboxen hat (vgl. Grassmuck3).
Das Problem mit den Otaku ist nicht, daß sie ein Underground wären, vielmehr sind sie ein weitverbreitetes Phänomen und gleichzeitig vollständig geschlossen, 'anti-sozial' und isoliert. Ihre Zahl ist sehr groß...
Azuma in Woznicki
Während die Shinjinrui die Warenästhetik der herrschenden Konsumkultur zum Kult erhoben hatten, sind die Otaku im wesentlichen anti-professionell. Sie stehen außerhalb der gewöhnlichen Szene der Lohnarbeit, auch wenn durch ihre Hobbyaktivitäten erhebliche Beträge in ihren Schwarzmarktnetzen zirkulieren. Doch auch hier gibt es Helden und Könige, die aus dem Underground heraus zur Berühmtheit aufgestiegen sind. Zum Beispiel Taku Hachirô, der als selbsternanntes Sprachrohr der Otaku in der Illustrierten Spâ! und in Fernsehshows einer breiteren Öffentlichkeit davon berichtete, was mit ihren Kindern vor sich geht. Er tat dies nicht als distanzierter Sozialpsychologe, sondern inszenierte ein 'authentisches' Otaku-tum auf massenmedien-gerechte Weise.
Zu den wichtigsten Stars der Szene gehören die Anime-Regisseure, allen voran Miyazaki Hayao. Sein erster abendfüllender Film "Lupin III.: Das Schloß von Cagliostro" (1979) etablierte den Otaku-Bildkanon von mechas ("mechanical gadgets": Roboter, Cyborgs, Fahrzeuge und Kampfmaschinen, hydraulische Schutzpanzer) und Mädchen (langbeinige, vollbusige, Bambi-äugige Girls mit kurzen Röcken, unter denen gelegentlich das Höschen sichtbar ist). Die Heldin aus "Lupin" war das erste Otaku-Idoru und eine beliebte Vorlage für die parodistischen Kopien in den dôjinshi-Manga. Mit Filmen wie "Nausikaa" (1984) und "Majo no Takkyûbin" (1989) verließ Miyazaki den geschlossenen Kreis der Otaku-Welt und errang sich den Namen eines "Walt Disney von Japan". Tatsächlich spielten Mimi o Sumaseba (1995) und Mononoke-hime (1997) in den japanischen Kinos mehr ein, als die jeweiligen Disney-Animationen der Saison.
Die Creators der Neunziger betätigen sich wie ihre Vorgänger als Brückenbauer zwischen den Otaku-Zirkeln und anderen Szenen. So schuf der Medienkünstler Iwai Toshio Game-inspirierte Installationen wie die "Music Insects" und erlangte mit der populärwissenschaftlichen Fernsehshow "Einstein TV" (1990-91) und der täglichen Kindersendung "UgoUgo Lhuga" (1992-94) Kultstatus. Für die Sendungen entwickelte er auf dem Amiga virtuelle Sets und Echtzeit-animierte Computergraphikfiguren, mit denen die Schauspieler wie in einem Game oder einem Live-Anime interagierten.
Ein Vermittler zwischen der DJ-Kultur und der von Videospielen ist Satô Dai, der nicht nur selbst auflegt und sich als Game-Journalist engagiert, sondern auch den "Super Mario Rap" mit der Londoner Gruppe Ambassadors of Funk produzierte und den "Game-Rave" erfand, eine neue Kategorie von Event, bei dem reichlich Video-Konsolen in einem Club aufgestellt werden.
Der Hypermedia-Creator Takashiro Tsuyoshi liebt es, sich als neuer Typ von kreativem, jungem und geschäftstüchtigem Geist zu inszenieren. Ein Paradiesvogel, wie in einem ständigen kosu purei (costume play), der medial zurückgebliebenen, krawattentragenden Geschäftsleuten erklärt, was Multimedia und Internet nun wirklich bedeuten. Takashiro hat Werbe- und Video-Clips, TV-Dramas und das techno-psychedelische "Video-Drug" produziert. Seine Bildästhetik wird weniger durch das heimische Otaku-Genre als durch die Kultur am zweiten Standort seiner Firma "Future Pirates", nämlich Los Angeles beeinflußt. Für sein CD-ROM-Game "Whacky Races" verwendet er die amerikanischen Cartoon-Figuren von Hanna-Barbera. 1995 eröffnete er eine Internet-Shopping-Mall namens Franky Online. Darin sieht das globale Datennetz aus wie ein interaktives Anime, wie ein dreidimensionales Computer-Game, bei dem man ganz spielerisch bei einer Pferdefigur in der "Einwanderungsbehörde" seine Kreditkartennummer hinterlegt.
Ursprung und Kern der Otaku-Kultur bleiben Manga und Anime. Eine der wichtigsten Institutionen auf diesem Feld ist das Anime- und Game-Produktionsstudio Gainax. Es entstand Anfang der Achtziger aus einer Amateurgruppe, die die Eröffnungsfilme für die "Osaka Si-Fi Convention" schuf. Die Gruppe gründete dann zusammen mit dem Producer der "Convention", Okada Toshio, die Firma Gainax. Mit Anime wie "Honneamise" (1987) und Anno Hideakis "Evangelion" (1995), dem Entwicklungsspiel "Princess Maker" und dem Mockumetary "Otaku no Video" (1991) gelang es Gainax immer wieder, die Bewegungen innerhalb der Otaku-Szene zu erfassen und sie ihr zurückzuspiegeln.
Schließungen und Öffnungen
Über der Otaku-Welt hängt eine paranoische Grundstimmung von Isolation, Gehirnwäsche und einer marionettenhaften Existenz. In Ghost in the Shell (1996) von Oshii Mamoru, einem früheren Hardcore-Otaku Anime-ka und Fan von Shuji Terayama, wimmelt es nur so von Cyborgs, die nur noch zu einem Bruchteil aus menschlicher, biologischer Materie bestehen. Im Zentrum der Geschichte steht der "Puppen-Meister", eine Intelligenz, die aus dem Netz emergiert ist und jetzt als Hacker die "Geister" der Menschen manipuliert und ihre Erinnerungen umprogrammiert. Wer die Bilder von den Aum-Anhängern mit ihren Elektrodennetzen auf dem Kopf gesehen hat, wird unweigerlich daran denken.
Anno Hideakis "Evangelion" erschien ein halbes Jahr nach dem Sarin-Anschlag der Aum-Shinrikyô. Der Plot hatte so große Ähnlichkeit mit den Vorfällen um die Sekte, daß Anno ihn nach eigenem Bekunden ändern mußte, um nicht seinen fiktionalen Charakter zu verlieren. An Aum beobachteten Japans Kulturkritiker, was passiert, wenn eine Gruppe sich so weit in ihre Geschlossenheit und Exklusivität steigert, daß sie den Kontakt mit der Wirklichkeit verliert und nur noch in einer kollektiven paranoischen Fiktion lebt. Das gleiche Symptom von Abgeschlossenheit in einer medialen Selbstreferenz wird den Otaku-Mördern individuell attestiert. Noch weiter gesteckt benennt es auch die Selbst- und Außenbeobachtung Japans als geschlossenes Otaku-System gegenüber der Welt.
"Evangelion" bedient Otaku-Cliches mit Mechas und Mädchen, mit Parodien und Zitaten aus der Geschichte des Genres bis zu zurück zu "Space Battleship Yamato" (1974), bei dessen Uraufführung Gerüchten zufolge der Stamm der Otaku sein erstes Coming-Out hatte. Zugleich kritisiert Anno darin die Geschlossenheit der Otaku-Zirkel selbst. Immer kleinere Interessenbereiche differenzieren sich aus und grenzen sich gegeneinander ab. Mit den eigenständigen Distributionswegen für dôjinshi und dem OVA-System (Original Video Animation) gelang es, eine Parallelwelt zur offiziellen Kultur zu errichten, einen Massenmarkt, in dem die Otaku ohne Rücksichten auf Mainstream-Geschmäcker in ihrer Selbstbezüglichkeit weiterkreisen können. Mit seiner Figur der "Rei" (= Null) führt Anno eine neue Form der Einsamkeit jenseits von Otaku ein.
Es scheint, als gelänge es den Otaku dem Gefängnis namens Gesellschaft zu entkommen, nur um sich in der technologischer Medialität und Selbstreferenz ein neues Gehäuse zu bauen. Auch Okada Toshio sieht in der Schließung das Hauptproblem, wie er in seinem Buch "Unsere Gehirnwäsche-Gesellschaft" (Bokutachi no sennô shakai, Asahi Shimbunsha, Tokyo 1995) schreibt. Als Mitbegründer von Gainax war Okada ebenso wie Anno beteiligt an der Produktion von "Honneamise", an der NHK Anime-Serie "Fushigi no Umi no Nadia" (Nadia of the Mysterious Seas) (1990) und des PC-Games "Princess Maker". Nachdem er Gainax aufgrund von Meinungsverschiedenheiten verlassen hat, kehrte der selbsternannte "Otaking" an seine Alma Mater, die Tokyo Universität, zurück, um äußerst populäre Seminare über den 'Otakismus' zu halten. Er veröffentlichte eine "Einführung in die Otaku-Forschung" (otaku gaku nyumon, Ohta Verlag, Tokyo 1996), rief eine Internationale Otaku-Universität ins Leben, um online den Otakismus in aller Welt zu fördern, und plant, einen Otaku-Fernsehkanal zu starten. Damit hätte der Otakismus nicht nur aus den heiligsten akademischen Hallen Japans die Würde eines Ideengebäudes, eines -ismus, erlangt, sondern auch noch einen breitbandigen 24-Stunden-Rückkopplungskanal.
Der Grundtendenz der Otaku - und Japans - zur Bildung von operativ geschlossenen Systemen korrespondiert also die Funktion einer grenzüberschreitenden Vermittlung. Leute wie Okada oder Anno operieren in mindestens zwei Systemen. Sie übersetzen und erzeugen Anschlußfähigkeiten. Sie sind mit einem neu-japanischen Wort Fikusâ, die als Grenzgänger ihr symbolisches Kapital aus den Differenzen beziehen, die geschlossene Systeme unaufhörlich reproduzieren. Ihre Wirkung besteht in einer Universalisierung der subkulturellen Ikonen.
Öffnung heißt Zirkulationsfähigkeit. Die Ikonen der Massenkultur wie King Kong oder Michael Jackson springen mit Leichtigkeit über vom Film auf Fernsehserien, Zeitschriften, Musik, Videogames, Stoffpuppen, Schlüsselanhänger und Corn Flakes und über Kulturgrenzen. Sie konvergieren auf globale Identität, aber bislang gibt es sehr wohl noch nationale Grenzen. Games mögen eine Weltkultur sein, vorerst müssen sie der jeweiligen Zielkultur angepaßt werden. So stärkt sich in der amerikanischen Fassung von "Mega Man" der Held nicht mit Sushi, sondern mit Hotdogs. Augenformen und Beinlängen werden im Interesse interkulturelle Anschlußfähigkeit variabel. Auch stereotype Klischees müssen übersetzt werden, etwa wenn ein japanisches Game, in dem die Bösewichte ausschließlich Schwarze, Hispanics und Transvestiten sind, in die USA exportiert werden soll.
Solche Stereotypen im Spiel der globalisierten Kulturindustrie sind auch das Produkt der Wechselwirkung von Otaku und Fikusâ. In der internationalen Verbreitung von Games und Japanimation erkennt Japan seine Abschließung und 'virtuelle Realität' an und wendet sie positiv im Sinne einer 'Internationalisierung aus Japan'. Otaku und Fikusâ sind komplementäre Bündel von Operativität, die aufeinander angewiesen sind.
Vom Animismus zur Animation
Etwas als ein 'Phänomen' identifizieren heißt, einen Erklärungsbedarf schaffen. Warum ausgerechnet Games und warum gerade aus Japan? Darauf gibt es verschiedene Strategien zu antworten. Eine Lesart, die man als romantische bezeichnen könnte, sieht eine Wesensverwandtschaft der neusten Technologien mit den ältesten Hüten des Nihonjinron.
Eine Antwort darauf ist es, Pachinko und Computer-Games einfach als die postmodernen Äquivalente von Zen und Kabuki zu betrachten. Ebenso wie 'traditionelle' Formen der japanischen Kultur verkörpern auch sie die exotische, enigmatische und mysteriöse Essenz des japanischen Partikularismus.
Morley/Robins
Japanimation mag demnach aus einer Wechselwirkung mit westlichen Bild- und Comic-Stilen hervorgegangen sein, seine einzigartige Qualität wurzelt irreduzibel in traditioneller japanischer bildender und darstellender Kunst wie den Rollbilder und dem Kabuki. Auch religiöse Erklärungen nach dem Muster von Webers protestantischer Ethik sind geeignet, Heutiges in der Vorzeit zu verwurzeln. So erklärt Medienforscherin und -Kuratorin Kusahara eine besondere Affinität der japanischen Kultur zum Sodate-geemu-Genre daraus, daß der Buddhismus keinen Schöpfungsmythos und damit keine Hierarchie des Seins kenne. Im Rad der Wiedergeburt ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier nur ein vorübergehender. Die Vorstellung eines virtuellen Lebens neben dem realen sei der japanischen Kultur vertraut. Auch die Grenze zwischen belebtem Körper und Maschinenkörpern sei fließend, wie es die Androiden in solchen Japanimation wie "Gundam" und "Evangelion" zeigen. Schließlich läßt sich auch eine animistische Tradition in einer Medienkunst namens 'Animation' ohne Schwierigkeiten nachweisen.
Gegen die Vermutung einer Kontinuität spricht allerdings schon die linguistische Markierung, die das Katakana-Wort geemu von den traditionellen Spielformen des tawamure, yûgi oder asobi abhebt. Ein so markierter Bruch bestätigt eher Ohmaes These einer globalen Konvergenz innerhalb der Nintendo-Generationen.
Eine andere Lesart stützt sich auf eine wechselseitige Zuweisung von Technik und Seele. Der westliche Techno-Orientalismus assoziiert die technologischen Erfolge Japans mit einer kalten, entmenschlichten, maschinenhaften Kultur, der es an emotionaler Verbindung mit dem Rest der Welt mangele. Nach Zizeks Analyse reagiert die amerikanische Ideologie auf die wachsende ökonomische Vorherrschaft der Japaner, indem sie ihnen nicht nur einfach ihre Unfähigkeit, sich zu vergnügen vorwirft.
Es ist, als ob sie in ihrem exzessiven Verzicht auf Vergnügungen, in ihrem Fleiß, in ihrer Unfähigkeit eines 'Take-it-easy', in ihrer Unfähigkeit zu Erholung und Freude ein Genießen finden würden - und gerade diese Eigenschaft wird als eine Bedrohung der amerikanischen Vormacht angesehen.
Slavoj Zizek
Aus den stereotypischen Barbaren sind Roboter geworden, denen ihr Robotersein auch noch Spaß macht. Den anderen wird technisch rationale Kälte unterstellt und Emotionalität abgesprochen. Morley und Robins4 zitieren Jeffrey Katzenberg, den Vorsitzenden der Disney-Studios: "Filmemachen beruht im wesentlichen auf der Übermittlung von Emotion. Die Japaner unterliegen durch ihre Zurückhaltung von Gefühlen einer kulturellen Abirrung. Wenn ich das sage, präsentiere ich nicht einfach eine amerikanische Perspektive. Die Japaner sind die ersten, die einem dies selbst erzählen. Dieses Gefühl von Disziplin und Selbstbeherrschung war fraglos ein wesentlicher Faktor im japanischen Wirtschaftswunder, das eine kleine Inselnation in eine der hervorragendsten Industrienationen der Welt verwandelt hat."
Aber, so Katzenbergs Suggestion, die Verrücktheit, der Spaß, die Unbekümmertheit - kurz, die Emotionalität, die es zum Filmemachen braucht, ist weiterhin in den USA ansässig. Japanische Hardware-Hersteller mögen die Hollywood-Studios besitzen, die Filme machen sie nicht.
Eine genaue Umkehrung der Zuordnung von Technizität und Emotionalität findet sich in einer Untersuchung der Bilderwelten von Videogames durch die Mediensoziologen Shirabe und Baba5. In einem Vergleich zwischen den neuesten Game-Generationen in den USA und in Japan, in dem sie kognitive und soziale Aspekte der Interaktion unterscheiden, kommen sie zu dem Schluß, daß das Gewicht der Gestaltung jeweils anders gesetzt werde. Hintergrund des Arguments ist der heutige technologische Übergang von zweidimensionaler Computergraphik in Games und Anime hin zu dreidimensionalen, sogenannten immersiven Environments. Bei Segas "Virtua Fighter" z.B. bestehen die Figuren der Kämpfer aus Polygonen und Texturen, die den Regeln einer realweltlichen Geometrie und Optik gehorchen, im Gegensatz zur flachen Graphik von z.B. Nintendos "Street Fighter". Auch im Internet ist dieser Trend hin zu navigierbaren VRML-Welten (Virtual Reality Modelling Language) sichtbar.
Nachdem die japanische Unterhaltungsindustrie feststellte, daß seit den Neunzigern fiktive Game-Figuren einen höheren Wiederekennungswert haben, als menschliche Idoru oder Tarento, sah sie sich zu einer Gegenoffensive gezwungen. Fernsehstationen wie Fuji TV gaben computer-animierte Schauspieler mit der Bezeichnung "virtual Idoru" in Auftrag. Die Idoru-Agentur Hori Pro erzielte mit Date Kyôko die größte Aufmerksamkeit. DK 96, wie ihr Codename lautet, ist ein dreidimensionaler Datensatz aus 40.000 Polygonen und stellt eine 16-jährige Popsängerin dar. Wie andere Idoru gibt sie Interviews, sie hat ihre eigene Radio-Show und die Presse plaudert aus ihrem virtuellen Privatleben. Ihre Tanzbewegungen und ihre Mimik wirken realistisch, da sie mit Hilfe des sogenannten Motion Capture von wirklichen Menschen abgetastet werden.
Nach Shirabes und Babas Unterscheidung legen amerikanische Game-Designer Wert auf Realismus und Immersion. Der Spieler tauche ganz in die Rolle der Figur eines Soldaten, Piloten oder F1-Rennfahrers ein. Dagegen zwinge das 'typische' japanische Game den Spieler nicht, in die virtuelle Welt einzutauchen. Als Beispiel führen sie "Super Mario" an, bei dem die Spielfigur von einem externen Blickpunkt aus gesteuert wird wie ein ferngelenktes Auto. Vielmehr liege der Schwerpunkt darauf, eine empathische Beziehung zwischen Spieler und Figur herzustellen, ein emotionales Beteiligtsein.
Natürlich vernachlässigen US-amerikanische Videogame-Unternehmen nicht die Empathie des Spielers, genauso wenig wie japanische die 'Realität' des Spiels auf die leichte Schulter nehmen. Die Tatsache, daß Videogames als Produkte der japanischen Gegenwartskultur weithin in der Welt akzeptiert werden, kann jedoch nicht irrelevant sein für die Haltung zur Empathie... Amerikanische Games verbinden die Spieler mit ihrer Welt durch ihre 'Realität', während japanische die Empathie der Spieler verwenden.
Shirabe/Baba 1997
Dafür werde großer Wert auf die Konstruktion der Figur, auf ihr "Alter, Persönlichkeit, sozialen Hintergrund, persönliche Geschichte" gelegt. Es handele sich um einen kinematischen Stil, weil er wie Filmregisseure den Figuren Aufmerksamkeit schenke, selbst wenn die Details für den Spielverlauf keine große Rolle spielen.
Auch für Kyôko wurde eine ganze Lebensgeschichte entworfen. Doch 3D-Games sind in Japan weniger beliebt und auch Kyôko wurde vom Fan-Markt nicht angenommen. Kusahara6 erklärt ihr Scheitern daraus, daß sie zu perfekt war und zugleich als überzeugender Menschenersatz nicht perfekt genug. Eine flache, nicht-perspektivische, manga-hafte Darstellung von Figuren erscheine dem japanischen Auge vertrauter und 'natürlicher' als realistische, dreidimensionale Modelle. Sie führt dies auf die an Ukiyoe und anderer schattenloser Bildsyntax geschulten Sehgewohnheiten zurück. In Kusaharas 'Lob des Schattens' hallt das von Tanizaki wieder. Ein Lob nicht der Schattierungen und des Schattenwurfs der Renaissance-Perspektive, sondern des Schattens als Figur, als Bild.
Tanizaki7 breitet in seinem Essay von 1933 das ganze Spektrum einer Ästhetik des Halbdunkel aus, des Obskuren, Vagen, Trüben; des Pausierens und der Auslassung; der geisterhaften Schönheit der Frauen früherer Zeiten; der durch Einbildungskraft einzufüllenden Andeutung; eines verschwommenen Halblichts, in dem das, "was man sieht, zur Gedankenübertragung anregt auf das, was unsichtbar bleibt." Was wiederum an McLuhans Definition des kalten, low-definition Mediums erinnert. Tanizaki fragte, ob nicht, "wenn der Osten eine vom Westen völlig getrennte wissenschaftlich-technische Zivilisation hervorgebracht hätte," darauf basierende Apparate entstanden wären, "die besser mit unserem Volkscharakter übereinstimmten?" Er führt unter anderem das Beispiel des Films an, bei dem sich in Schattierung und Farbtönung, auf der Ebene der Aufnahmetechnik, von der Art der Spielweise und Verfilmung eines Stoffes ganz abgesehen, "irgendwie der unterschiedliche Volkscharakter" manifestiere.
Wenn das schon beim Gebrauch derselben Apparate und Chemikalien, desselben Filmmaterials der Fall ist, wie sehr müßte dann erst recht eine von uns selbständig entwickelte Photographie auf unsere Haut, unser ganzes Aussehen, unsere klimatischen und topographischen Verhältnisse zugeschnitten sein.
Tanizaki
Man muß wohl schließen, daß die Bilderwelt der Anime genau diese dem japanischen Volkcharakter angemessene Darstellungsform ist.
Der Streit zwischen Realismus und ästhetischer Form wird auch zwischen den Otaku-Anime-ka und denen ausgetragen, die in den Mainstream abtrünnig geworden sind. Anno Hideaki lehnt Miyazakis und Oshiis Annäherung des Anime an den Echtfilm ab. Er will nicht realistischer werden, sondern gerade die durch die Beschränkung des Mediums bedingte Abstraktheit von Anime ausschöpfen. Seine Bilder tendieren zur Reduktion, werden immer einfacher und zugleich ausgefeilter.
Das Artifizielle, das Anti-Realistische, die ästhetische Form der Beschränkung und des Weglassens verbindet sich in diesem Diskurs mit dem Emotionalsten, der Empathie zwischen Personen. In dem Argument, Charaktertiefe sei wichtiger als Raumtiefe, klingt auch Virilios Beobachtung an, daß die Tiefe des Raumes hinter der der Zeit zurücktrete, hinter der Dimensionalität der Echtzeit. "Wir sind der Meinung, Schönheit sei nicht in den Objekten selber zu suchen, sondern im Helldunkel, im Schattenspiel, das sich zwischen Objekten entfaltet." (Tanizaki) Es scheint, als bestimme Kimura Bins "Zwischensein" auch in der Spielewelt die sozialen und ästhetischen Beziehungen. Wie in der Gesellschaft als ganzer dient es auch in Bezug auf die Games als Sonderstellungsmerkmal gegenüber dem individualistischen, kalten und realistischen Westen.
Ungeachtet man für Shirabes und Babas Zuweisung von nationaler 'Typizität' in den Games leicht Gegenbeispiele finden wird, ist die hierdurch konstruierte Differenz bedeutsam. 'Nur' Motion-Capture dort, Emotion-Capture hier. Der Westen überschreite die Grenze der medialen Schnittstelle durch Ein-Bildung, Japan durch Ein-Fühlung. Dort Realismus und Imitation, hier Imagination und Irrealismus.
Mag sein, daß es nur ein augenblickliches, aus Licht und Dunkel zusammengebrautes Blendwerk ist. Aber uns genügt es; wir können gar nicht auf mehr hoffen.
Tanizaki
Stellt man die geschilderten amerikanischen und japanischen Selbst- und Fremdzuweisungen nebeneinander - die des Disney-Chefs und die der japanischen Mediensoziologen -, so zeigt sich auf beiden Seiten der Differenz die gleiche Figur. In der eigenen Strategie gelingt die Animation, also die Beseelung der Maschinenwelt, in der anderen gelingt nur die Maschine. Das Eigene ist ganz, ein (technologischer) Leib und eine Seele, während der Andere als kalt, technokratisch, roboterhaft, lustfeindlich und amoralisch dasteht, nur halb, ohne Gleichgewicht zwischen Yin und Yang.
Das führt uns zu einem weiteren Topos im interkulturellen Diskurs über Games. Die japanische Game-Semantik kenne keine schwarz-weiß-malerische Trennung der Rollen, keine schlichte Binäropposition von Gut und Böse, in der das Spieler-Ich mit dem absolut Anderen, den Aliens konfrontiert ist, was den Einsatz der maximalen Mittel, den totalen Krieg rechtfertigt. Dem steht gegenüber, was man die Yin-Yang-Dialektik in Manga, Anime und Games nennen könnte, bei der es gilt, ein Gleichgewicht im Universum wiederherzustellen. Die Abwesenheit einer absoluten Gerechtigkeit, sagt Kusahara, sei ein weiteres wichtiges Merkmal der japanischen narrativen Strukturen. So sei in "Evangelion" und in "Mononoke-hime" keine der sich gegenüberstehenden Parteien vollständig im Recht oder im Unrecht. Es gehe zwar um Kämpfe auf Leben und Tod, aber beide Seiten haben ihre plausiblen Gründe.
Bei aller ausgleichenden Gerechtigkeit werden auch Yin und Yang als Waffen im Kampf um das nationale Superioritätsgefühl geführt. Oki Keisuke sagt über Games und Japanimation: "Das ist eine einzigartige Kultur, die aus Japan kommt. Sie ist aber dennoch weiterhin kulturell ein Schatten, Ying [sic], Hollywoods. Wenn Mickey Mouse Yang ist, dann ist Akira Ying.... Nachdem Yang die Welt vollständig durchdrungen hat, zeigt sich jetzt das Ying. Das Ying erhebt sich im Gefolge des Yang."
Grenzgänger
Was wir anhand der elektronischen Spiele erleben, ist die Emergenz einer vorgestellten Gemeinschaft (Benedict Anderson) von Mensch und Technologie. Sie bildet sich nicht zuletzt als Spielgemeinschaft. Der Computer, diese Spielmaschine schlechthin, ist Spielfeld und Gegenspieler. Er ist Regel und Zufall. Regeln dienen der Koordination eines außengelenkten, nicht-individuellen gemeinsamen Verhaltens, als ein Korsett für die Affirmation einer gegebenen Gruppenstruktur. Der Zufall öffnet den Möglichkeitsraum. Statt der Befolgung von Regeln erlaubt er ihre Erfindung, das Spiel mit möglichen Rollenoptionen und Identitäten. Die vermeintliche Folgenlosigkeit des Spiels reizt zu einem Experimentieren mit eingeschränktem Ernst in einem Reich der Zeichen. Sie befreit von der Grundtatsache unseres Lebens, daß wir nämlich nur eines haben. Gegen die Unausweichlichkeit des Zeitlaufs ist im Spiel immer eine neue Runde möglich.
Man kann das Internet insgesamt als ein Multi-User-Dungeon betrachten, in dem die Menschheitsfamilie unterwegs ist und sich selbst, also Monstren, begegnet. Dabei gilt es, die alten Regeln zu überprüfen und neue auszuspielen. Das betrifft auch die Meta-Regeln. Mit jedem Erziehungsspiel erziehen wir uns und unsere Kinder, die Welt der Artefakte als virtuell oder potentiell belebt zu denken.
Mit dem uns bevorstehenden Ubiquitous Computing, also subkutanen Mikroprozessoren, die überall in unsere Umwelt eingebettet sind, wird es offenbar umso dringlicher, neue Anschlüsse zu legen zwischen Technik und Seele, ein emotionales Interface zum interaktiven Gestell zu schaffen. Artificial Life und der Cyborg sind zwei Formen, unseren medialen Artefakten Autonomie zu verleihen und eine Grätsche zu vollführen vom Animismus in die kybernetische Animierung unserer Lebenswelt8. Es gilt mehr denn je, den Wirklichkeitssinn, mit einem Wort Musils, durch einen Möglichkeitssinn zu ergänzen.
Im Wechselspiel von Differenz und Konvergenz, von Schließung und Öffnung, in der mehrfachen Spiegelung zwischen dem 'Westen' und 'Japan' werden Bilder erzeugt, die die Aufgabe haben, eine solche Verbindung von Technik und Seele zu legen. Eine Ganzheit wird imaginiert, die der eigenen Kultur mehr oder weniger gelingt, zu der es der anderen Kultur aber an Emotionalität mangelt. Bei Nichtgelingen der Verbindung, bei einem fehlenden Äquilibrium von Yin und Yang, wird der 'Geist' wie in "Ghost in the Shell" der Manipulation durch die 'Puppenmeister' preisgegeben.
Außer der Schnittstelle zwischen Mensch und Technik geht es also - trotz allem Gerede von Globalisierung - weiterhin auch um die Schnittstellen zwischen den Nationen. McKenzie Wark9 hat recht, wenn er schreibt, "Nintendos kultureller wie ökonomischer Erfolg signalisiert das Ende der Ära, in der Globalisierung synonym war mit Amerikanisierung."
Doch ist fraglich, ob sich jetzt statt dessen der universelle Bilder-Pool mit animistischen Dämonen aus Japan bevölkern wird. Das Licht der Sonne - unter dem Namen Amaterasu die höchste Gottheit des Shintô-Animismus - wird, laut Virilio10, heute vom indirekten Licht der Signale in den Schatten gestellt. Dieses Licht, dieses Null-Zeichen vernichtet mit seiner Tiefe der Echtzeit nicht nur die Tiefe des realen Raums der Territorien. Es macht auch nicht nur die Grenzen zwischen Nationalstaaten und Ästhetiken hinfällig. "Museum der aufgehenden Sonne, Symbol jenes Landes des hellen Morgens, dieses fernen Ostens, der noch immer vom Aufgang des astronomischen Lichts lebt und der morgen, nicht anders als jedermann, verhüllt und begraben wird in der strahlenden Finsternis des Obskurantismus einer virtuellen Realität, wo der kybernetische Raum endgültig den Sieg über die Ausdehnung und geographische Tiefe der Welt davontragen wird."
Gekürzte Fassung des Beitrags von Volker Grassmuck, der in Stanca Scholz-Cionca (Hrsg.): "Japan, Reich der Spiele", Iudicium Verlag, München 1998, erscheinen wird.