Jean-Luc Mélenchon: "Die Republik bin ich!"

Seite 2: "Linksautoritär"

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Antiautoritärer Revolutionär ist der sozialdemokratische Etatist Jean-Luc Mélenchon gewiss keiner; er ist eher als linksautoritär einzustufen. Und auch die Polizei als solche lehnt er gar nicht ab, vielmehr forderte er sie im gleichen Atemzug, wie im Video zu sehen, dazu auf, doch bitte gegen Kriminelle und Ganoven vorzugehen, nur eben bitte gegen die echten, und gefälligst ihren Job zu verrichten.

Allerdings sorgte es für böses Blut in den Reihen der Polizei und der Justiz, dass Mélenchon seinen berühmt gewordenen Satz einem Beamten förmlich ins Gesicht brüllte, welcher ihm zu dem Zeitpunkt gerade den Weg verstellte.

Als dieser dem früheren Präsidentschaftskandidaten kurz darauf erwiderte, er habe soeben einen Staatsanwalt geschubst, entgegnete Mélenchon, sein Gegenüber in Polizeiuniform sei aber kein Staatsanwalt. Die fragliche Amtsperson stand allerdings hinter dem Polizisten und hatte von Mélenchons Körpereinsatz durchaus auch etwas abbekommen.

Deswegen wurde inzwischen ein neues Vorermittlungsverfahren gegen Mélenchon unter den Vorwürfen der Vereitelung der Tätigkeit von Staatsorganen sowie von Tätlichkeiten gegen deren Mitglieder eingeleitet.

Chance vertan

Generell hat der Wortführer und die Leitfigur des "unbeugsamen Frankreich" damit wohl auch die ernsthafte Chance vertan, eine Kampagne in der öffentlichen Meinung zu initiieren, um die soeben erfolgte Durchsuchungswelle zu kritisieren - die tatsächlich fragwürdige Züge trug.

Selbst der bürgerlich-konservative Senatspräsident Gérard Larcher vertritt etwa die Auffassung, Mélenchons persönliche Reaktion sei unterirdisch ("nulle"), die Durchsuchung selbst jedoch kritikwürdig gewesen. Die eingesetzten Polizeimittel schienen ihm zufolge mindestens überproportioniert.

Trifft zu, was La France insoumise (LFI) kritisiert, dann durfte der gesetzliche Vertreter der Wahlplattform, Manuel Bompard, der Durchsuchung nicht beiwohnen; vor allem jedoch wurde eine unbekannte Anzahl von Dateien munter von den Rechnern herunterkopiert.

Dass es drei Wochen zuvor zu einer Debatte kam, weil Präsident Emmanuel Macron sich persönlich in die Ernennung der künftigen Pariser Oberstaatsanwältin eingemischt (und drei Bewerbungen für das Amt gedeckelt) hatte - woran Mélenchon nun erinnerte - macht die Sache gewiss nicht besser..

Dies alles hätte auf kritische Weise in der Öffentlichkeit thematisiert werden können. Was jedoch erfordert hätte, nach potenziellen Verbündeten zu suchen, unter anderen Linken und auch unter Journalistinnen und Journalisten; nicht polternd alle Türen zuzuschlagen (außer jener zu seiner Parteizentrale, die er umgekehrt unter Körpereinsatz gegen den Willen der Beamten zu öffnen versuchte). Und auch nicht, das vermeintliche persönliche Interesse über die Sache stellend, etwa den rechtslastigen Privatfernsehsender BFM TV gegenüber linken Medien zu favorisieren, siehe oben.

Beifall vom Front-National-Nachfolger

Es war im Übrigen unter anderem just der Sender BFM TV, welcher in seiner Berichterstattung den Fokus darauf legte, dass die Parlamentsfraktion des rechtsextremen Rassemblement National (RN, so lautet der Name des früheren Front National seit dem 1. Juni 2018) Mélenchon am Nachmittag nach den Hausdurchsuchungen in der Nationalversammlung applaudierte:

Was suggeriert, es gäbe ein Bündnis der bösen Außenseiter auf der Rechten wie auf der Linken gegen die tapfere Mitte. Allerdings ist das absoluter Nonsens: Erstens gibt es kein Bündnis zwischen diesen Parteien. Zum Zweiten ist diese vermeintliche Mitte so moderat nicht, betrachtet man die derzeitige soziale Kahlschlagspolitik unter Emmanuel Macron.

Zum Dritten applaudierte der RN aus durchsichtigen Gründen. Hat die rechtsextreme Partei doch selbst Justizprobleme an den Hacken. In ihrem Falle aus Gründen, die mittlerweile außer Frage stehen, während sie bei LFI bisher lediglich den Gegenstand von Vorermittlungen bilden. Der frühere FN hatte im Europaparlament Fraktionsmitarbeiter beschäftigt, die vom Europäischen Parlament bezahlt wurden, jedoch zu rein inländischen Zwecken für die Partei arbeiteten.

Das ist faktisch nachgewiesen, weil die Arbeitszeit in deren Zentrale in Nanterre (bei Paris) mittels einer Stechuhr erfasst wurde. Spendet der RN also anderen "Justizopfern" sein offizielles Beileid, so ist dies einseitig, und er selbst hat die gegen ihn laufenden Ermittlungen durchaus redlich verdient.

Ausgelöst hatte die Vorermittlungsverfahren gegen La France insoumise im Übrigen eine rechtsextreme Parlamentarierin. Im Frühjahr 2017 hatte die damals dem FN zugehörende - inzwischen ausgetretene - Europaparlamentsabgeordnete Sophie Montel Vorwürfe, ihre seinerzeitige Partei habe sich bei Fraktionskosten im Europaparlament für rein inländische Zwecke bedient, mit dem Hinweis gekontert, andere Parteien täten dies aber auch. Dabei verwies sie auf Mélenchons Mitarbeiter. Dies rief nun, mit einigem Abstand, die Ermittler auf den Plan.

Zu kritisieren an den Durchsuchungen bei Jean-Luc Mélenchon sowie am Sitz von La France insoumise hätte es also Einiges gegeben.

Mélenchons Gebrüll und Zorn

Aufgrund von Mélenchons Gebrüll rückten nun in den letzten vierzehn Tagen allerdings viel eher sein persönliches Profil, seine tatsächliche oder vermeintliche Psychologie und in Sendungen wiedergekäute Frage, ob er noch "die Statur" zum Präsidentschaftskandidaten habe, in den Mittelpunkt.

In Umfragen stürzte er ab und fiel etwa bei einem demoskopischen Institut von 29 auf 22 Prozent positiver Zustimmungswerte. Laut einer anderen jüngsten Umfrage billigt die öffentliche Meinung Mélenchons Auftritt - das innenpolitische Schlagzeilenthema Nummer Eins in der dritten Oktoberwoche - zu 18 Prozent und missbilligt ihn zu 76 Prozent.

Dabei ist das Bild, das die derzeitige Meinungskampagne von Jean-Luc Mélenchon zeichnet, durchaus konform zu einem anderen, berühmt gewordenen Ausspruch, den er in jüngerer Vergangenheit tätigte. Im Herbst 2010 hatte der Parteigründer, um sich von seinen vormaligen sozialdemokratischen Parteikollegen und ihrer behäbigen Einrichtung im System verbal abzugrenzen, verkündet: "Ich bin der Lärm und der Zorn, der Tumult und der Aufruhr". An die damalige Ankündigung - "Je suis le bruit et la fureur" fühlte sich ein Teil der Öffentlichkeit nun erinnert.

Wiederholt in den vergangenen Jahren hatte Mélenchon sich bereits als polternder Wüterich hervorgetan, etwa wenn ihm eine journalistische Frage nicht gefiel und er, höflich ausgedrückt, korrigierend nachhakte. Und dabei nicht versäumte, den Fragesteller als Blödmann hinzustellen.

Dieses Mal rief seinen Zorn hervor, dass staatsanwaltliche Ermittlungen über die Finanzierung seines Präsidentschaftswahlkampfs im Vorjahr 2017 sowie zum Finanzgebaren seiner Wahlbewegung La France insoumise im Europaparlament zu Hausdurchsuchungen bei ihm, neun weiteren Personen wie auch in der Zentrale seiner Wahlplattform LFI führten.

Eine weitere Durchsuchung fand am Sitz der 2009 durch Mélenchon gegründeten Linkspartei (PG) statt, einer erheblich kleineren, ideologisch weniger diffusen und weniger nationalistischen Organisation. Diese ging dem Aufbau von LFI (ab 2016) um sieben Jahre voraus und wurde seitdem durch deren Aufbau marginalisiert, auch durch Mélenchon selbst zunehmend an den Rand gedrängt.

Migranten: Der nationale Mélenchon geht auf Distanz zu linken Inhalten

Dessen jetzige Wahlplattform LFI ging zwar nicht zu dezidiert rechten Positionen über, distanziert sich jedoch immer stärker von vielen linken Inhalten etwa im Bereich der Migrationspolitik. Dies in einer taktischen Erwägung, dass man annimmt, so die Menschen besser abholen zu können.

Mélenchon, der noch 2012 einen dezidiert antirassistischen Wahlkampf betrieb, weigerte sich im September dieses Jahres zusammen mit anderen LFI-Führungsspitzen, einen Aufruf für die Seenotrettung des Schiffs Aquarius im Mittelmeer zu unterzeichnen, den die gesamte übrige Prominenz der etablierten Linken unterschrieb.

Seine Begründung lautete, er sei nicht für allgemeine Freizügigkeit der Menschen, denn Migration und Flucht seien auch für die Betroffenen eine schlimme Erfahrung - würden nur die Fluchtursachen bekämpft, blieben die Menschen auch gerne zu Hause. Jean-Luc Mélenchon scheint, mit der Abschwächung linken Profils in der Migrationsfrage, ein vergleichbares Kalkül zu verfolgen wie etwa Sarah Wagenknecht.

Zwar entbehrt es nicht den Heuchelei, wenn im System eingerichtete Linksliberale und hohe Parteifunktionäre der Französischen KP - die sich erst in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren wirklich für migrationsfreundliche Positionen öffnete - nun Mélenchon im Tonfall der Empörung angreifen, als wären sie selbst schon seit jeher für offene Grenzen aktiv.

Gesteigert wird das weiter, wenn ein Emmanuel Macron nahe stehender Politiker, aus durchsichtigen taktischen Gründen, Mélenchon nun gar in die Nähe des radikalen und autoritären Nationalisten Matteo Salvini rückt, in dessen Bemerkungen durchaus rassistische Töne anklingen - während es Macrons Regierung war, die den Sommer 2018 über die Seenotrettungs-Schiffe nicht in französische Häfen einlaufen ließ.

Die Europäische Union als "Völkergefängnis"

Mélenchon spricht sich immerhin dafür aus, dass die Aquarius unter französischer Flagge fahren dürfe, und rief zu einer Kundgebung Anfang Oktober nach der Attacke von rechtsextremen "Identitären" auf den Marseiller Sitz der Seenotretter auf.die Europäische Union als "Völkergefängnis"

Dennoch ist bei der sich verschärfenden Auseinandersetzung - unter anderem zwischen der bis vor einem Jahr mit ihm verbündeten französischen Kommunistischen Partei und Mélenchon - klar, dass die Gallionsfigur von LFI eine immer stärkere, offene rechte Flanke zeigt, auch in dem Bemühen, diffus EU-kritische Wähler von allen Seiten anzusprechen, wenn er etwa (in einer bislang Rechtsnationalisten vorbehaltenen Begrifflichkeit) die Europäische Union als "Völkergefängnis" - sic - bezeichnet.

Jean-Luc Mélenchon ist derzeit überzeugt davon, nach einem erfolgreichen Abschneiden bei den Europaparlamentswahlen im kommenden Mai eine Parlamentsauflösung in Frankreich erzwingen und die politische Landschaft umkrempeln zu können. Es fragt sich nur, mit wem und wofür.