Jedwabne und der Mantel des Vergessens
Pogrom in Jedwabne war kein Einzelfall
Im Mai 2000 löste der Historiker und Soziologe Jan Tomasz Gross mit dem Buch Nachbarn eine Geschichtsdebatte in Polen aus, die manche Legenden über die guten Polen auflöste, die nur Opfer und selten Täter an der Seite der deutschen Invasoren waren. In dem Buch schilderte Gross, wie gut katholische bäuerliche Einwohner Jedwabnes am 10. Juni 1941 etwa 1.600 ihrer jüdischen Nachbarn bei lebendigem Leibe in einer Scheune verbrannten.
Jahrzehnte lang befand sich an der Stelle des Massakers eine Gedenktafel, die die Untat den deutschen Besatzern zuschrieb. Die später angebrachte neue Gedenktafel allerdings sagt noch immer nicht, wer die Tat beging. Plakatives Schuldeingeständnis mit großem Mea Culpa Ritual fällt eben leichter, als konkret Schuldige aus den eigenen Reihen zu benennen. Es gibt allerdings Hinweise, dass SS- oder Wehrmachtsangehörige wie an anderen Orten Polens zur Tat ermuntert oder aufgefordert hatten, mehr jedoch nicht (siehe auch Tief verborgene Wahrheit). Chefermittler Radoslaw Ignatiew:
Es waren Polen, die die entscheidende Rolle bei der Ermordung der Juden von Jedwabne spielten.
Für viele Polen war allein das Eingeständnis der aktiven Beteiligung polnischer Einwohner an diesem Massaker ein Schock, hatte doch die polnische Geschichtsschreibung aus der Richtung der staatstragenden Kräfte des Realsozialismus ebenso wie aus dem katholisch-nationalistischen Umfeld über Jahrzehnte hinweg immer wieder an dem Mythos gestrickt, dass Polen nicht mit den Nazis kollaboriert hätten. Dass sie gar an Pogromen beteiligt gewesen sein könnten, zu denen die deutsche Besatzer die örtliche Bevölkerung in ganz Osteuropa ermunterten, wurde mit Ausnahme kleiner Einzelfälle im offiziellen Polen bis dahin nie eingestanden.
Doch das Pogrom im nordostpolnischen Jedwabne war kein Einzelfall. Im Sommer 1941, kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Ostpolen und der Sowjetunion, oft noch im Machtvakuum, bevor die Deutschen überhaupt das Gebiet kontrollierten, ermordeten polnische Einwohner in mindestens weiteren 30 Städten rings um Bialystok ihre jüdischen Nachbarn. Dieses für viele Polen schockierende Ergebnis dokumentierte das Institut für Nationales Gedenken (IPN) Ende 2002 in seinem Weißbuch "Rund um Jedwabne". Danach wurden die Juden von Jedwabne - ihre genaue Zahl sei nicht mehr festzustellen - von ihren polnischen Mitbürgern auf den Marktplatz getrieben, in eine Scheune gezwängt, die Türen verschlossen und die Scheune angesteckt.
Man könne der Studie nach entsprechend den Ermittlungen nicht die ganze Kleinstadt des Verbrechens beschuldigen, die Gruppe der unmittelbaren Täter wäre begrenzt gewesen auf "nicht weniger als 40 Männer". Allerdings nicht weniger entscheidend wäre "das passive Verhalten des Großteils der Bevölkerung der Stadt gegenüber dem Verbrechen". Das Institut stellt fest, dass jenes Verbrechen ohne die Gleichgültigkeit der Bürger von Jedwabne in dieser Weise nicht geschehen wäre. Schonend wird in den Ermittlungen weniger Augenmerk auf die Bereicherung durch Plünderung und Aneignung jüdischen Eigentums durch weit mehr Einwohner als dem genannten aktiven Täterkreis gelegt.
Mit Pawel Machcewicz als Herausgeber der 1.500 Seiten umfassenden Studie bemühten sich 30 Historiker und Staatsanwälte des IPN, der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Universität in Bialystok zwei Jahre lang in der Studie die Ermittlungen im Fall Jedwabne und Pogromen in anderen Orten rund um Bialystok zusammenzufassen. Aus den aufgearbeiteten Akten von 61 Nachkriegsprozessen, in denen gegen 93 Polen verhandelt wurde, die sich des gemeinschaftlichen Mordes oder der Beihilfe zum Mord an Juden schuldig gemacht hatten, wurden am Ende nur 17 Personen verurteilt, darunter eine zum Tode.
Polnischer Antisemitismus
Bei genauerer Betrachtung der Quellen und Zeitzeugenberichte ist festzustellen: Die Pogrome fanden alle unter ähnlichem Vorwand statt. Traditionelle antijüdische, theologisch verbrämte Feindbilder wurden mit dem des fiktiven "jüdischen Kommunisten" kombiniert. Juden wurde pauschal unterstellt, sie hätten mit den Sowjets bzw. "dem Russen" kollaboriert und seien gegen die polnische Nation ablehnend oder aggressiv eingestellt. Auch in Jedwabne waren derartige Feindbilder eine entscheidende Ursache des Pogroms. Die "Judenkommune" (Zydokomuna) zeigt sich nicht als Ergebnis der Paranoia weniger, sondern als die Kehrseite des in den späten dreißiger Jahren propagierten polnisch-nationalen, nicht etwa nur antikommunistischen, sondern auch antidemokratischen ständestaatlichen Staatsprojekts.
Polens Diktator Jozef Pilsudski konnte sich bis zu seinem Tod 1935 gegen den rechten Nationaldemokraten und Verehrer Mussolinis, Roman Dmowski, durchsetzen und erneut weitgehend Pogrome an der jüdischen Bevölkerung verhindern, wie sie unmittelbar nach dem Krieg von 1918/19 stattfanden, von Politologen als Teil der "Nationwerdung nach innen" gesehen. Nach Pilsudskis Militärputsch im Jahr 1926 konnten sogar Verbesserungen der rechtlichen Lage aller Minderheiten durchgesetzt werden, auch wurde z.B. 600.000 Juden aus dem ehemals zaristischen Teilungsgebiet die bis dato verwehrte Staatsbürgerschaft zuerkannt. Nur zwei Drittel der Bürger dieser "Zweiten Republik" waren polnische Muttersprachler, 15 Prozent Ukrainer, neun Prozent Juden, fünf Prozent Weißrussen und zwei Prozent Deutsche.
In wesentlichen Teilen des polnischen Katholizismus vermischten sich Gottesmörder-, Ritualmord- und Wuchervorwürfe mit modernem nationalistischen Antisemitismus. Gerade die Kirche verbreitete auch den Mythos der unauflöslichen Verbindung von Religion und Nation, von Polentum und Katholizismus. Noch weitergehender denunzierte die nationaldemokratische Partei von Dmowski, die Endecja, die jüdische Bevölkerung als anti-polnisch, links sowie internationalistisch und legte so die Lunte, die später in Jedwabne und anderswo gegen jüdische Mitbürger angesteckt wurde.
So betrachtet handelte es bei den Verbrechen im Raum Bialystok weniger um klassische Kollaboration, sondern vielmehr um ausgeprägt polnische antisemitische Taten. Nazi-Deutschland und seine Vernichtungsindustrie hat die so genannte Judenfrage auf andere, auf eigene Weise "gelöst".
Die "Operation Letzte Chance" des Simon-Wiesenthal-Zentrums sorgt für Aufregung in Polen
Nach dem Erscheinen des Buchs von Gross war es besonders ein Verdienst der Medien, dass wohl, abgehen von notorischen Leugnern des Verbrechens auf der extremen Rechten, keine relevante gesellschaftliche Gruppe in Polen nicht deutliche Schuldgeständnisse und -eingeständnisse publizierte. Keine Geschichtsdebatte Nachkriegspolens wurde so breit und ausführlich geführt wie die Jedwabne-Debatte. Doch zeigt auch die Entwicklung bis heute, wie offenbar die neue Rolle Polens in Europa und der Welt gerne dieses unangenehme Kapitel in der polnischen Geschichte nun in den Hintergrund drängt. Aufklärer der ersten Stunde wie Ex-Bürgerrechtler Adam Michnik, Chefredakteur der liberalen großen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, formulierten damals:
Dies (das Buch) bringt den Teil der Wahrheit an den Tag, den wir bis jetzt nicht hören wollten. Die Wahrheit ist bitter, bitter wie ein Medikament, schmeckt nicht, schmerzhaft, aber nötig.
Liest man den selben Publizisten nun einige Zeit später, wird ein Wandel deutlich. Im Zuge der Boulevardisierung seiner Zeitung Gazeta Wyborcza stellt er gleichzeitig die Zuverlässigkeit der Mechanik seines Erinnerungsapparates in Frage und redet wie einst Helmut Kohl von den Schwierigkeiten, die die vermeintliche Gnade der späten Geburt mit sich bringt - die nämlich, sich eine Geschichte erarbeiten zu müssen. Forderte er noch 2001 schonungslose Aufklärung und Verfolgung der Täter, so gilt dies heute nicht mehr, da "auf diese Weise gegen Menschen (vorzugehen), die heute Greise sind, mehr Schaden als Nutzen für die moralische Ordnung bringt" (16. 06. 2004).
Wir kennen auch schon seine Begründung aus diesem Land, die er zur selben Gelegenheit äußert:
Holocaust war ein besonderes Verbrechen. Aber ich habe wesentliche Zweifel daran, dass es sinnvoll ist, diesem Verbrechen nach 60 Jahren eine so merkwürdige Sonderstellung einzuräumen.
Der Anlass: 10.000 Euro Belohnung setzt jetzt das Simon-Wiesenthal-Zentrum für die Ergreifung von Nazi-Kollaborateuren in Polen aus. Die Operation Letzte Chance erregt, wie schon u. a. in den baltischen Staaten, Österreich und Ungarn, die Gemüter. Nicht nur Adam Michnik polemisiert gegen die Aktion, auch Bronislaw Geremek, ehemaliger Außenminister Polens, lehnt sie vehement ab. Michnik befürchtet in Polen ein Klima "gegenseitiger Aufrechnungen, Falschaussagen und demagogischer Verallgemeinerungen". Bronislaw Geremek argumentiert gar:
Zunächst sollte die ganze Welt erfahren, wie viel Gutes die einen Polen für die anderen getan haben, indem sie Juden retteten. Wenn nun plötzlich ein ausländisches Zentrum in Polen auf Verbrecherjagd geht, erfüllt mich dies mit Abscheu und tiefer Sorge.
Erstaunlich, wie sich inzwischen die Fronten verschoben haben. Dawid Warszawski verteidigt nun die "Operation letzte Chance" gegen seine eigenen Weggefährten Michnik und Geremek. Warszawski. Der Gründer der jüdischen Kulturzeitschrift Midrasz, wandte sich noch 2002 gegen eine Prozesslawine in Bezug auf überlebende polnische Täter:
Der Bericht nennt die Täter nicht beim Namen. Diese Entscheidung ist richtig. Nach 61 Jahren wäre ein Prozess der wenigen noch lebenden Täter eine Farce. Viel wichtiger ist, dass der Bericht frische Luft in den muffigen Raum der bisherigen Debatte bringt. Denn noch immer wird in Polen nicht genügend über die damaligen Ereignisse nachgedacht. Noch immer gibt es viele, die die dunklen Flecken der polnischen Geschichte nicht wahrhaben wollen.
Nun geht ihm der Mantel des Vergessens und der Vergebung, den Michnik und Geremek über die Vergangenheit decken wollen, doch zu weit. Er sowie Marek Edelman, Kardiologe und einer der Anführer des Warschauer Ghettoaufstandes, verteidigen die Aktion: "Wenn aufgrund der polnischen Hotline auch nur ein Verbrecher verurteilt wird, hat sich die Aktion schon gelohnt", so Dawid Warszawski heute. Mit Sicherheit hätten Warszawski und Edelman einen weiteren Weggefährten noch auf ihrer Seite, nämlich Jacek Kuron, der Mitte Juni verstarb.
Die Konkurrenz der Medien trägt zu den neuen Ängsten vor Fremden bei
Aber wer wie Michnik und Geremek seine Rolle in der neuen polnischen Gesellschaft gefunden hat, der frisst gleich mehrfach Kreide. Karlspreisträger Geremek ist von den Liberalen und Grünen wie Cohn-Bendit für das Präsidium des Europaparlaments auserkoren und muss nach allen Seiten offen bleiben. Denn dort bedarf es der Zustimmung auch konservativster Kräfte. Michnik hat seit längerer Zeit die Schere im Kopf: Wenig Kritik an den USA und noch weniger am Irak-Krieg in der Gazeta Wyborcza, Entlassung kritischer Redakteure, die der Boulevardisierung nicht folgen wollten und jetzt eben Setzen auf ein fiktives ideelles polnisches Gesamtinteresse.
Eine wesentliche Rolle spielt die Konkurrenz auf dem polnischen Medienmarkt. Weniger bedrohlich für die Gazeta Wyborcza ist Springers "Bild"-Ableger Fakt als tägliches Boulevard-Blatt. Doch Newsweek Polen aus dem Springer Verlag als Wochenzeitung schielt auf die gleiche Zielgruppe wie die Leserschaft der Gazeta Wyborcza und gibt sich nur noch stärker an der Seite der US-Regierung.
Doch der Verlag, der in Deutschland bereits die geringste Kritik am Staat Israel als antisemitisch brandmarkt und sich besonders philosemitisch gibt, lässt zu, dass in Newsweek Polen das antisemitische Süppchen mit Ängsten vor jüdischen Rückkehrern oder Nachfahren der Opfer der Pogrome gekocht wird. Ein Artikel von Karol Olecki in Newsweek Polen gab dem Verständnis für antisemitische Ressentiments unter anderem bei der Bevölkerung Jedwabnes kürzlich so breiten Raum, dass wiederum Michnik sich genötigt sah, gegen diesen Tendenzjournalismus von Springer Polen in der Gazeta Wyborcza anzuschreiben.
Polens Weg in die EU ist nicht nur aus der Bevölkerung von berechtigter ökonomischer Kritik an den Folgen begleitet, sondern es bricht auch wieder die Summe von Vorurteilen über das Kosmopolitische auf. Befürchtungen sind geprägt von Ängsten vor Fremden, nicht nur vor Juden, sondern auch vor Muslimen, Protestanten, Schwulen und Atheisten, die nun Polen überschwemmen und dem Land seine Identität nehmen könnten. Erste Folgen: Verbotsverfügungen von Demonstrationen zum "Christopher Street Day" in Warschau und Abschiebung eines Muslims, der in Poznan sich nur erdreistet hat, eine islamische Gebetsstätte einzurichten.