Jemens Reichtum als Kriegsgrund? Zweiter Versuch
Fragen wir uns noch einmal: Was steckt hinter dem Saudi/Emirati/US/GB-Krieg gegen den Jemen wirklich?
Wer keine Fehler macht, lernt nichts. Ahmed, der Kairoer Taxifahrer und einer der klügsten unter meinen Bekannten, meint, das würde auch für das Nachdenken über Politik gelten. Stellen wir uns also die Frage aus meinem vorigen Jemen-Beitrag (vom 30. Okt 2018: Der wahre Grund des Jemen-Kriegs) noch einmal: Was steckt hinter dem Saudi/Emirati/US/GB-Krieg gegen den Jemen wirklich? Dass diese Frage weiterhin eine offene sein soll, quält mich immer noch - und vielleicht auch einige andere.
Elektrisiert hatte mich ein Bericht der ägyptischen Zeitung Al Ahram Weekly, wonach die im Jemen liegenden Ölvorräte größer seien als die der drei Golfstaaten Saudi-Arabien, Kuwait und der Vereinigten Emirate zusammengenommen. Meine durch diese Behauptung ausgelöste Kern-These: WENN diese Behauptung zutreffen würde, dann hieße das, dass es für den derzeitigen Völkermord im Jemen zumindest das gibt, was ihm bisher fehlt: eine einleuchtende Erklärung. Was nie und nimmer mit einer moralischen Rechtfertigung verwechselt werden sollte. Man beachte: Es geht mir erst mal nur darum, diesen Krieg zu verstehen. Die Moral eines Völkermordes ist eine andere Sache.
Diese Wenn-Dann-Verbindung unterschreibe ich weiterhin. Dass mir selber die für eine Überprüfung der Tatsachenbehauptung (im Wenn-Satz) nötigen Mittel fehlen, hatte ich von Anfang an ganz dick betont. Und bei den meisten Lesern ist das auch angekommen. Alhamdulillah! (= Gottseidank!)
Trotzdem: Die an meinem Artikel vorgebrachte Kritik ist zum Teil berechtigt. Durch die zahlreichen Reaktionen hoffentlich etwas gewiefter geworden, stelle ich in diesem neuen Beitrag mein Untersuchungsmikroskop nunmehr entsprechend schärfer ein. Wohl wissend, dass allein schon auf diese Ankündigung hin viele Leser abschalten werden. Doch für die schreibe ich eh nicht.
Mit Recht getadelt wurde mein Beitrag aus mehreren Gründen: (1) wegen meiner zu simplen Rede von "dem" Kriegs-Grund; (2) wegen meiner zu einseitigen Beschränkung auf den Öl-Faktor; (3) wegen meines Schweigens über die Rolle des Iran.
Klärendes zum Grund des Kriegs
Ad (1): Tadelnswert war in der Tat meine simple Rede von "dem" Grund des Jemenkrieges. Denn diese Rede präsupponiert, wie insbesondere meine analytischen Kollegen natürlich sofort moniert haben, eine zu starke Einzigkeits-Annahme. So als hätte dieser Krieg nur einen einzigen Grund. Klar, dem ist nicht so. Alles hat multiple Ursachen und Gründe. Auch jeder Krieg.
Allerdings hatte ich - schon im Titel - nicht blanko von dem Kriegsgrund gesprochen, vielmehr nur von dem wahren Grund, im Unterschied z.B. zu lediglich vorgeschobenen Gründen. Trotzdem: Ich hätte von dem (angeblichen) Reichtum des Jemen gleich klarer als dem ausschlaggebenden wahren Grund des Krieges gegen ihn sprechen sollen. Im Unterschied zu den und den weiteren Kriegsgründen, die zwar auch zutreffende sein mögen, für sich genommen aber wohl keine hinreichenden gewesen wären.
Neben Öl ist der Jemen wegen seiner strategischen Lage bedeutsam
Ad (2): Dass in einem kurzen Artikel nicht alles Platz hat, versteht sich von selbst. Aber meine Kritiker haben Recht, wenn sie darauf aufmerksam machen, dass ich den Gas- und Öl-Faktor zu stark betont habe. Freilich: Es war und ist nun mal exakt dieser Aspekt, der die ganze Kriegsszenerie - wirklich nur mir? - auf einen Schlag in einem völlig anderen Lichte erscheinen lässt. (Zu diesem "Schlag" unten mehr.)
Der Jemen - von allen arabischen Ländern das ärmste? Von wegen: Von seinem Potential her eines der reichsten der Erde! Und schon verliert die bislang offene Frage nach den ausschlaggebenden wahren Gründen hinter dem saudi/emiratischen etc. Völkermord im Jemen ihre Bedeutung. Vor allem im Kontext der weiteren Annahmen über (a) das bevorstehende Ende der Ölvorräte am Golf und über (b) die Voraussetzungen für die Realisierung der saudischen VISION 30.
Was ich wirklich erst jetzt sehe: In dieser (gerafften) Argumentation zeigt sich genau dieselbe Fixiertheit auf das Öl, die man gewöhnlich den Öl-Magnaten und deren Potentaten anlastet: "It's the Oil, Stupid!" Ich hätte nicht "Reichtum" mit "Öl- und Gas" gleichsetzen dürfen. Öl und Gas sind nicht die einzigen Quellen des Reichtums; andere Bodenschätze sind mitunter nicht weniger gewinnbringend (Diamanten z.B.). Aber auch der Blick auf die weiteren Bodenschätze des Landes wäre bei der Einschätzung der Potentiale des Jemen ein viel zu enger.
Darauf hat - Schande über mich! - nun ausgerechnet der Artikel den allergrößten Wert gelegt, der mein neuerliches Nachdenken über den Jemenkrieg und dessen tiefere Gründe erst ausgelöst hat: Der schon mehrfach erwähnte Al Ahram-Artikel von Hanan al Hakry. Dieser Autor verwendet 13/15-tel seines Artikels darauf, "Yemen's Vast Potential" anhand der strategischen Lagevorteile und der potentiellen weltwirtschaftlichen Bedeutung der zahlreichen Häfen des Jemen auszubuchstabieren - von Aden über Hodeida und Saleef im Westen und über Balhaf, Mukkala, Nashtun bis zu Qana (Bir Ali) im Süden:
"Yemen … possesses vast stretches of maritime waters, numerous ports situated along a major international navigation route, and more than 150 islands and archipelagos." In summa: "Economists predict that Yemen will become one of the richest countries in the world because of its wealth in ports, islands and resources."(Hervorhebung von mir). Quellen enthält dieser Artikel nicht. (Bei Hanan Al Hakry , dem derzeitigen Jemen-Experten der Al Ahram, wird der Jemen-Krieg mit keinem Wort auch nur erwähnt. Warum wohl nicht?)
Die Basis des (potentiellen) Reichtums des Jemen ist also komplexer: Sie umfasst außer den Bodenschätzen (wie Öl) auch die ganze Palette der jemenitischen Häfen, den mit den größten Häfen Südasiens konkurrenzfähigen zukünftigen Schaltstellen des Welthandels.
Was bedeutet diese Reichtums-Differenzierung (zwei Säulen statt nur einer) für unsere Kriegsgrund-Verknüpfung? Mit Sicherheit keine Schwächung, vielmehr eine erhebliche Verstärkung. Wenn schon das vermutete Öl allein als ein nachvollziehbarer Kriegsgrund durchgehen würde, dann sicher erst recht das Öl plus einer weiteren nicht weniger vielversprechenden Einnahmequelle.
Für jeden, der den Jemen-Krieg verstehen will, eröffnet diese verstärkte (verdoppelte) Kriegs-Begründung ein weites Spektrum höchst relevanter Fragen. Und jeder selbst-denkende Leser (und nur an den sind diese Reflexionen gerichtet) sollte jetzt anfangen, sich dieses Spektrum selber weiter auszumalen.
NB: Ein offenes Wort direkt an unsere Mit-Denkerinnen und Denker: Haben Sie bei diesem Ausmalen ja keine Angst vor Spekulationen! Nur mit Hilfe von anfänglichen Spekulationen sprengen wir den engen Ideen-Rahmen, auf den die Macht unser Nachdenken begrenzt halten will. Und haben Sie um Gottes Willen auch ja keine Angst vor den üblichen billigen Reaktionen. Insbesondere nicht vor dem allein schon durch Ihr Betreten eines solchen Grenzbereichs quasi-automatisch ausgelösten Standard-Vorwurf, sie würden mit ihren Spekulationen einer Verschwörungstheorie folgen! Im Gegenteil: Freuen Sie sich über einen solchen Vorwurf! Er ist ein relativ zuverlässiges Indiz dafür, dass sie einer tieferen Wahrheit auf der Spur sein könnten. Zu diesem kleinen Grundsatzproblem hier demnächst etwas mehr.
Epistemische Asymmetrie
Auffällig ist: Zwischen den nunmehr zwei potentiell ausschlaggebenden wahren Gründen hinter dem seit 3 Jahren anhaltenden Morden im Jemen gibt es eine deutliche Asymmetrie: Die Öl-Hypothese ist - vor allem in Verbindung mit den (schon im letzten Artikel) berichteten Geheimabkommen zwischen den USA und Saudi-Arabien - eine derzeit nur sehr schwer verifizierbare; und soll das vermutlich auch weiterhin bleiben. Hingegen ist die Strategische Positions-Hypothese, wonach der Jemen von seiner Lage her leicht in der Liga von Schanghai mitspielen könnte, eine im Prinzip leicht überprüfbare; nach den von Hanan Al Hakry (nicht explizit) angeführten Ökonomen ist sie ein Fakt.
Auch diese epistemische Asymmetrie schreit nach einer Erklärung. Wie kommt es, dass WIR (und so im vorigen Artikel auch ich) auf die hoch-spekulative Öl-Hypothese, sei diese nun wahr oder nicht, gleich derart stark "abfahren", während die so gut wie keiner weiteren Verifikation bedürfende Strategische-Positions-Hypothese uns nahezu absolut kalt lässt?
In einer wirklich kritischen öffentlichen Kriegs-Gründe-Debatte müsste über zwei mögliche Erklärungen für diese Asymmetrie zumindest nachgedacht werden dürfen: (i) Wir wollen die Wahrheit gar nicht wissen. Oder/und (ii): Wir sollen die Wahrheit nicht wirklich wissen. Gewisse Fakten sollen von uns gar nicht als solche registriert werden.
Bei (i) geht es darum, dass die saudi/emiratischen Interessen hinter dem Jemen-Krieg eben nicht nur die Interessen von ein paar abgelegenen arabischen Staaten sind, vielmehr auch unsere eigenen, dieser Krieg also auch uns - trotz gelegentlicher wohlfeiler verbal-moralischer Empörung - letztlich gar nicht so unrecht ist. Zuerst kommen die Interessen, dann kommt die Moral.
Und bei (ii) könnte ein selber denkender Zeitgenosse vielleicht auf den (gewiss zunächst wieder rein spekulativen, aber ja trotzdem wahrheitsfähigen) Gedanken kommen, dass hinter der allgemeinen Ignoranz gegenüber der Positions-Hypothese (im Jemen-Kriegs-Kontext) vielleicht sogar Methode steckt. Konkret: Es könnte sein, dass die Öl-Hypothese (dank der erwähnten epistemischen Asymmetrie) genau diese allgemeine Ignoranz untermauern - von dem nahezu evidenten jemenitischen Positionsfaktor also weiterhin ablenken - soll.
Mit anderen Worten: Es könnte sein, dass die Öl-Hypthese nicht nur, wie am Ende meines vorigen Jemen-Artikels vermerkt, "eine raffinierte Finte der Huthis, der Iraner, der Russen oder von sonst jemandem" darstellt, hinter diesem "sonst jemandem" vielmehr sogar eine (noch höherstufige) Täuschungsstrategie der saudisch/emiratischen/CIA&M6-Zentralen selbst steckt. Nun: Wie sehen Sie das?
Klar ist jedenfalls, wie ein wirklich systematisches - und nicht mehr nur spekulatives - Nachdenken über "die" Gründe des Jemen-Kriegs auszusehen hätte: Es wäre jetzt der Reihe nach zu untersuchen, was dafür bzw. dagegen spricht, dass hinter diesem Krieg die Saudi/Emirati/US/GB-etc. (m.a.W.: unsere) Interessen (i) an den jemenitischen Bodenschätzen, (ii) an der Beherrschung der Strategischen Positionen des Jemen oder eben (iii) an beidem stehen. Auch eine Operationalisierung dieser Fragen wäre nicht allzu schwierig.
Aber wer hat schon an Antworten auf solche Fragen auch nur das geringste Interesse? Sich über einen Völkermord im Jemen zu empören, ist billig und recht. Aber wer von uns will schon wirklich wissen, warum dieser Völkermord überhaupt stattfindet? Die eine oder andere Antwort könnte schließlich recht schnell unser eigenes (in der Regel ziemlich positives) Selbstverständnis in Frage stellen.
Meine hier formulierten Reflexionen sind, das bitte ich auch bei diesem Beitrag strikt zu beachten, natürlich kein auch nur ansatzweise ernstzunehmender Ersatz für ein solcherart systematisches Nachdenken, ein Nachdenken, das, wenn wirklich Abhilfe geschaffen werden soll, schließlich auch aus ethischen Gründen angezeigt wäre. Und dabei wäre dann mal wirklich eine konkrete Interdisziplinarität von Politikwissenschaften, Ökonomie, Geographie etc. gefragt. Ich selber artikuliere hier einfach erste Gedanken, sonst nichts.
Dafür, dass im Jemen-Krieg beide jemenitische Reichtum-Quellen zusammen eine Rolle spielen, spricht zum Beispiel die in diesem Krieg praktizierte Arbeitsteilung. Während sich die Saudis primär um den Norden (sprich: um die dortigen Öl-Felder) "kümmern", sind für den Süden und Südwesten (bzw. dessen Häfen von Bir Ali über Aden bis Hodeida - insbesondere also für die Öl-Verschiffung) eher die Emiratis "zuständig". Wobei diese Arbeitsteilung offenbar von den Saudis kontrolliert wird. Wie z.B. der konkrete Verlauf des saudi/emiratischen Konflikts um die jemenitische Insel Sokotra zeigt.
Wie gesagt: Die obige Verstärkung meiner Kriegsgrund-Hypothese eröffnet ein weites Feld zusätzlicher Fragen.
Was ist mit dem Faktor Iran?
Ad (3), d.h.: zum Einwand, ich hätte den Faktor Iran ignoriert. Nun, im letzten Artikel ganz offensichtlich. Aber nicht in meinem (dort über einen Link-Klick leicht zugänglich gemachten) allerersten Jemen-Beitrag aus den allerersten Tagen dieses Krieges im März/April 2015 (Warum Krieg gegen den Jemen jetzt?).
Meine damalige Position ist auch meine heutige: Eine angebliche größere Einmischung des Iran im Nordjemen ist pure saudi-israelische-US-Kriegspropaganda. Und: Dass auch im Jemen ein sunnitisch/schiitischer Religionskrieg stattfinde, ist nichts weiter als eine aus der saudischen Einkreisungs-Paranoia resultierende Deutungs- und Wahrnehmungs-Schablone, die mit den Realitäten wenig zu tun hat - von den westlichen Medien aber nichtdestotrotz zwecks vorauseilender Akzeptanz-Optimierung betreffs des geplanten Iran-Krieges tagein tagaus schon seit Jahren verbreitet wird. Nahezu unwidersprochen. Was kein Wunder ist: Hören wir doch - siehe oben - unserer ureigenen Interessen wegen solche Religions-Stories nur allzu gerne.
Wer den Jemen-Krieg und dessen weiteren - globalen - Kontext wirklich verstehen möchte, dem sei als der bislang klarste Einspruch gegen dieses vorherrschende Iran-Narrativ wie auch generell als das beste Werk zu unserem Thema hiermit mit dem größtmöglichen Nachdruck empfohlen: Michael Lüders, Armaggedon im Orient. Wie die Saudi-Connection den Iran ins Visier nimmt, C.H.Beck, 2018.
Nachtrag vom 13. Nov 2018: Erst soeben kommt mir der beste Beitrag exakt zu meiner Frage zur Kenntnis, der Blog aus der Freitag-Community von Angelika Gutsche: . Ich danke Siegfried Steinmann für diesen Hinweis.
Georg Meggle, Analytischer Philosoph. Zu seiner Iran-Position siehe auch seinen Telepolis-Beitrag Bomben auf den Iran?.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.