Johnson-Nachfolge: Eine Hand voller Nullen

In Downing Street 10 sind mal wieder Chaostage. Foto: Tristan Surtel / CC-BY-SA-4.0

Bei den britischen Tories ist der Kampf um die Nachfolge des Premiers entbrannt. Alle noch im Rennen befindlichen oder bereits ausgeschiedenen Kandidaten verheißen nichts Gutes für Land und Partei.

Die Londoner Feuerwehr wurde während des bisherigen Höhepunkts der Hitzewelle zu so vielen Einsätze gerufen, wie seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr. Sie rief dazu auf, keine Flaschen im Gras zu lassen. Die Infrastruktur, von Bahnschienen bis zu Rollbahnen auf den Flughäfen, ist den hohen Temperaturen nicht mehr gewachsen.

Einer Krisensitzung anlässlich der Hitzewelle blieb Noch-Premier Boris Johnson allerdings fern. Er hatte anderes im Sinn. Richtig geraten: Partys. In seinem Terminplan stehen und standen Einweihungen und eine schöne Abschiedsfeier auf dem Landsitz Chequers für die treuen Angestellten. "Boris, wir werden dich nie vermissen", ging als Stoßseufzer durch die konservative Partei.

Intrigen und Rachegelüste

Seine Arbeitskraft steckt Johnson lieber in Intrigen. Das ist nicht unüblich bei entmachteten Premierministern. Auch Theresa May dachte sich in den letzten Stunden der Macht Gemeinheiten für die eigene Partei aus, die teilweise allerdings zum Nutzen des Landes waren, wie etwa das Implementieren von Umweltauflagen, die bei den Konservativen traditionell verpönt sind.

Johnson ist von anderem Format. Zwecks Rache geht er die Listen der Parteimitglieder durch und sucht handverlesen die nachweislich inkompetentesten Kandidaten aus, um diese mit wichtigen Posten zu beschenken. Wer immer sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin werden wird, muss dann zunächst eine Entlassungswelle starten, die von Beginn an heftigen Gegenwind erzeugen wird.

Die Ausnutzung des Dunning-Kruger-Effekts ist ein beliebtes Mittel in Politik und Verwaltung. Weil unqualifizierte Mitarbeiter ihre mangelnde Qualifikation selbst nicht erkennen können, kämpfen sie mit Zähnen und Klauen um ihre Posten. Meist zum großen Schaden der betroffenen Organisationen, denen am Ende oft nichts anderes übrig bleibt, als kostspielige neue Posten zu erfinden, um die Situation zu befrieden.

Zu diesem Zeitpunkt der Tory-Rosenkriege wird Johnson bereits einen ungleich höher dotierten Posten als der neue Premier haben und sich den Streit genüsslich und sicherlich nicht unkommentiert anschauen. Seine wichtigste Intrige aber scheint zu scheitern. Johnsons Devise war "alle außer der Verräter Rishi Sunak". Das war bisher nicht sonderlich erfolgreich, denn Suni hat es bis ins letzte Duell geschafft.

Demokratie-Simulation

Zur Bestimmung des neuen Parteivorsitzenden wählen die Abgeordneten zunächst in der Eliminierungsrunde den Kandidaten, von dem sie am meisten überzeugt sind. Nach jedem Wahlgang fliegt der oder die am schlechtesten platzierte aus dem Rennen. Am Ende sind nur noch zwei übrig, die sich dann der Wahl der 200 000 Tory-Mitglieder stellen. Außerhalb der Partei gibt es selbstverständlich keine Mitsprache bei der Auswahl des neuen Premierministers.

Die Diskussionen über die Nachfolge verliefen ein bisschen ermüdend und sinnlos, weil das Duell Rishi Sunak vs. Liz Truss eigentlich von Beginn an festgestanden war und dann auch eintraf. Die Buchmacher hatten allerdings zeitweilig Penny Mordaunt die besten Chancen gegeben. Mordaunt kam aus dem Nichts und hatte einen ganz großen Sympathiebonus auf ihrer Seite: Sie war nicht prominenter Teil der Johnson-Regierung.

Viele in der Konservativen Partei haben eher ein klares Gefühl dafür, was sie sicher nicht wollen (d.h. alles was mit Boris Johnson zusammenhängt), als konkreten Erwartungen an die neue Führung. Das Nicht-Profil von Penny Mordaunt wirkte hier kurzfristig wie ein Joker. Warum man allerdings einer Abgeordneten die ganze 56 Tage Verteidigungsministerin war (sie trat zurück als Johnson Premier wurde), die nötige Erfahrung für das höchste politische Amt im Staate zutrauen sollte, war dann allerdings auch ein bisschen schwer zu argumentieren.

Mordaunt stand als einzige im Teilnehmerfeld explizit auf der anderen Seite im Culture War und setzt sich beispielsweise für LGBTQ+-Rechte ein. Auch trat sie für gewisse soziale Maßnahmen, wie Mehrwertsteuerverringerung auf Benzin und größere Freibeträge für die unteren und mittleren Steuerklassen. Genützt hat es nicht, sie wurde aussortiert.

Weiterer Zählkandidat war der in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Tom Tugendhat, der wohl schlicht Profil gewinnen wollte für mögliche zukünftige Ministerposten. Sein einziges und einigermaßen gut erfülltes Ziel schien in der Fernsehdebatte darin zu liegen, nicht komplett wahnsinnig zu wirken. Womit er durchaus in dem Starterfeld punkten konnte.

Die gestellten Fragen waren allerdings auch kurios: "Ist Boris Johnson ehrlich?" Tugendhat ließ sich immerhin zu einem Kopfschütteln hinreißen, während die anderen Kandidaten weite argumentative Wege zurücklegten, um dann nichts zu sagen. Alles spüren, sie haben einen schlecht gekämmten Klotz am Bein.

Erwähnenswert wäre noch die ebenso kaum bekannte Kemi Badenoch. Sie verkörpert am eindrucksvollsten die B-Seite der vermeintlichen Hit-Single, die von den Tories gerade aufgelegt wird. Auf der A-Seite läuft der von allen Kandidaten bis zur Selbstaufgabe heruntergeleierte Song "Ich bin die neue Maggie Thatcher". Das einzig nennenswerte zweite Wahlkampfthema lautet "Kampf dem Woke".

Badenoch hat wirklich ihren Narren am Wokeismus gefressen. Bei genderneutralen WC-Anlagen ließ sie medienwirksam "Ladies" und "Men"-Zettel aufkleben. Eine Politikerin also, die nie den Blick aufs Wesentliche verliert. Zuvor hatte sie versucht, sich einen Namen mit ihrer Ablehnung der Critical Race Theorie zu machen. Lehrer sollten mit ihren Schülern lieber nicht über weiße Privilegien und ererbte Schuld diskutieren.

Sehr kritisch ist sie hingegen bei der Absenkung des Emissionsausstoßes und hält nichts vom Net Zero-Ziel. Aufgewachsen in Nigeria, warnte sie in der Fernsehdebatte lieber eindringlich vor den Folgen von Energieknappheit, die sie aus eigener Anschauung kennt.

Und dann waren es nur mehr zwei

Das latent rechtsextreme Schüren der Angst vor der Wokeness zieht in Großbritannien (noch) nicht so gut, wie in den USA. Man hat es lieber noch ein bisschen traditioneller rechts. Die am längsten auf Ministerbänken verweilende jetzige Außenministerin Liz Truss scheint dieses Profil genau zu erfüllen. Auch bei ihr findet sich zwar eine leidenschaftlich ausbuchstabierte Anti-Woke-Einstellung, aber das eigentliche Ziel heißt Maggie-Imitat, das von Truss bis zum Anlegen einer Pussy bow-Schleife (wie sie Thatcher in den 80ern trug) umgesetzt wird.

Truss fordert augenblickliche Steuersenkung und alle erdenklichen Maßnahmen für das hehre Ziel des "kleinen Staates". Sie hat dabei eine auf magischen Überlegungen fußende Wirtschaftspolitik im Blick, die öffentlich nur mehr von dem Thatcher-Berater und eisenharten Brexit-Befürworter Patrick Minford vertreten wird.

Es soll eine Steuersenkung im Umfang von 30 Milliarden Pfund geben, die Streichung von Umweltabgaben und dergleichen mehr. Daraus würde dann ein goldenes Wachstum entstehen, mit dem sich alle öffentlichen Aufgaben bezahlen werden lassen. Nicht einmal der überzeugte neoliberale Rishi Sunak glaubt an Zaubertricks dieser Art und meinte Steuersenkungen seien zunächst nicht möglich.

Sunak kann als Finanzminister hier eine gute Karte spielen: "Angst vor Überschuldung." Die von vielen Konservativen gern benutze Drohkulisse eines überschuldeten Staates wird auch von der Mehrheit der Parteimitgliedern geglaubt. Dass England seit der Regentschaft von Queen Anne dauerhaft hoch verschuldet ist, scheint ein wenig verbreitetes Spezialwissen zu sein. Sunak kann deshalb unwidersprochen vor der Inflation warnen, so als würden die Preise steigen, weil öffentliche Haushalte mehr ausgeben.

Der ehemalige Finanzminister Sunak, dessen Rückzug den Sturz von Johnson bedeutete, ist der einzige Kandidat der laut Umfragen in direkter Konfrontation mit Labour-Chef Keir Starmer knapp vorne liegt. Das sagt allerdings mehr über den übervorsichtig und zögerlich agierenden Starmer aus, denn Sunak zum Spitzenkandidaten zu machen wirkt ein wenig so, wie jemandem mit einem Mühlstein um den Hals zum Schwimmen zu schicken.

Sunaks Frau ist Millionenerbin und mag, ihre indische Herkunft nutzend, lieber nicht im Vereinigten Königreich Steuern zahlen. Ein Schachzug der dem Paar im Wahlkampf die Herzen zufliegen lassen wird. Die Eheleute Rishi Sunak und Akshata Murty werden auf ein gemeinsames Vermögen von 730 Millionen Pfund geschätzt und bescheren dem Land deshalb jetzt schon die Diskussion, ob es sein könnte, dass jemand schlicht zu reich ist, um Premier zu werden.

Auch Sunak wurde wegen Corona-Partys zu Geldstrafen verurteilt. Er wirkt nicht wie ein ausgesprochener Partylöwe, dass er sich aber von Johnson mitziehen ließ, spricht nicht für seine Unabhängigkeit.

Es kann böse enden

Den Tories könnte es wie England im "Hundertjährigen Krieg" ergehen. Man gewinnt mit Bravour eine Schlacht nach der anderen und hat am Ende den Krieg verloren. Die Konservativen wissen, dass sie nur deshalb so häufig Wahlen gewinnen, weil es ein auf sie zugeschnittenes Wahlsystem gibt. Sobald Labour, Liberale und Grüne eine genügend große parlamentarische Mehrheit haben, könnten sie das "Winner Takes All"-System abschaffen.

Mit herkömmlichen Mehrheitswahlen, wie in Kontinentaleuropa, hätten die Tories nahezu immer eine Mehrheit gegen sich, was ja auch der gesellschaftlichen Realität entspräche. Die Angst geht um, dass man nun, mit Boris Johnson, den Bogen endgültig überspannt hat und bei den nächsten Wahlen die Rechnung präsentiert bekommen wird.

In der Fernsehdebatte musste sich die Kandidaten die Frage gefallen lassen: "Warum sollte man den Tories noch etwas glauben?" Zerknirscht räumten die Anwärter auf den Chefposten ein, die Partei wirke zu sehr auf den eigenen Vorteil bedacht und einfach nicht mehr vertrauenswürdig. Niemand konnte allerdings auch nur einigermaßen glaubhaft erklären, wie das Vertrauen zurückzugewinnen sei.

Derweil steht das Land – zumindest Teile davon auch buchstäblich – in Flammen. Den Konservativen ist es aber aus ideologischen Gründen unmöglich, etwas gegen die sich immer deutlicher abzeichnende Klimakatastrophe zu tun. Sie streiten lieber darüber, wann der beste Zeitpunkt für Steuersenkungen sei.