Julia gegen den Energiecharta-Vertrag
Ein Abkommen sollte einst die Energiewirtschaft postsowjetischer Staaten schützen. Heute ist er eine Goldgrube für Konzerne und bedroht die Europäische Rechtsordnung. Aktivisten klagen nun.
Eine Handvoll junger Menschen aus Europa klagt gegen den Energiecharta-Vertrag. Sie wollen verhindern, dass multinationale Energiekonzerne zukünftig Staaten, die sich in der sozialökologischen Transformation befinden, vor internationalen Sondergerichten verklagen können.
Auch zahlreiche NGO und mehrere EU-Regierungen kritisieren den Ende des Jahres auf europäischer Ebene zur Abstimmung stehenden Vorschlag der EU-Kommission eines modernisierten ECT.
Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit unterzeichneten unter anderem die EU-Staaten rechtsverbindlich 1994 einen 1998 in Kraft getretenen internationalen Vertrag, der insbesondere dazu diente, Investitions- und Handelssicherheit für multinationale Energiekonzerne zu schaffen, die damals in den rechtlich unsicheren Verhältnissen in Osteuropa und Zentralasien investieren wollten.
Inzwischen sind dem Energy Charter Treaty (ECT) 51 Staaten aus Europa und Asien sowie die EU und die Agentur Euratom beigetreten.
Der Vertrag bezieht sich – entgegen seiner ursprünglichen Intention – nun auch maßgeblich auf die energiewirtschaftliche Investitionstätigkeit innerhalb der EU.
Der Vertrag, der das Risiko für eine Investitionstätigkeit im Bereich der Energiewirtschaft postsowjetischer Staaten vermindern sollte, führte vor allem zu Klagen gegen EU-Staaten in Milliardenhöhe.
Besonders strittig ist hierbei die im Vertrag verankerte Funktion internationaler Sondergerichte, die zum Teil in den USA sitzen und EU-Recht nicht anerkennen. Sie entscheiden in intransparenten Verfahren, wenn ein Konzern einen Staat verklagt, der ökologische Reformen vornimmt, von denen sich dieser Konzern benachteiligt fühlt. So verklagte RWE den niederländischen Staat, da dieser den Kohleausstieg auf das Jahr 2030 vorziehen wollte.
Auch die hohen Abfindungssummen des deutschen Staates für den schwedischen Konzern Vattenfall im Zuge des deutschen Ausstiegs aus den Kernkraftwerken sind vor dem Hintergrund des ECT zu sehen. So klagte beispielsweise auch der britische Ölkonzern Rockhopper Explorations den Staat Italien aufgrund verweigerter Bohrgenehmigungen vor der italienischen Küste (Region Abruzzen).
Slowenien wurde verklagt, da es von Konzernen ein Gutachten zur Umweltverträglichkeit von Fracking verlangte. Bis heute sind 150 Investorklagen vor dem Hintergrund des ECT bekannt.
Absatz 16 des Vertrags über die Energiecharta legt die Bestimmungen zu den Sondergerichten fest:
Ist ein Investor einer anderen Vertragspartei der Auffassung, daß eine Regierung ihren nach den Investitionsschutzbestimmungen zu erfüllenden Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, dann kann der Investor vorbehaltlich der bedingungslosen Zustimmung der Vertragspartei im Hinblick auf die Beilegung entweder das nationale Gericht befassen oder eine internationale Schiedsstelle (ICSID, die Zusatzeinrichtung des ICSID, das UNCITRAL oder die Stockholmer Handelskammer) einschalten.
Dies bedeutet, dass unter dem Vorwand des Investitionsschutzes Staaten mit Milliardenklagen multinationaler Energiekonzerne überzogen werden können, wenn sie konsequente Maßnahmen gegen die eintretende Klimakatastrophe ergreifen oder der Gefährlichkeit von AKW und der fehlenden Entsorgung radioaktiven Materials begegnen wollen.
Hierbei können nicht nur entstandene Kosten, sondern auch entgangene Gewinne eingeklagt werden. Derartige Vertragsdetails werden zu selten in der Medienöffentlichkeit thematisiert.
Der in Berlin erscheinende Tagesspiegel war eines der wenigen Medien, die ausführlich über die Problematik des Energiecharta-Vertrags und die laufenden Verhandlungen im Jahr 2022 berichteten.
EU-Regierungen fordern einschneidende Reformen des ECT
Die NGO "Investigate Europe" berechnete, dass es zukünftig um ein Klagevolumen von rund 345 Milliarden Euro gegen EU-Staaten gehen werde. Hierbei ist in diese Berechnung insbesondere der geschätzte Wert von erschließbaren Öl- und Gasfeldern im europäischen Raum eingeflossen.
Seit 2017 sind daher angesichts dieses Klagerisikos Forderungen europäischer Staaten nach einer einschneidenden Veränderung des Energiecharta-Vertrags erhoben worden. Die EU-Kommission verhandelte dann auch einen veränderten ECT und bezeichnete das neue Vertragswerk, das im Juni 2022 abgeschlossen wurde, als Verhandlungserfolg, da er nun den EU-Klimazielen angepasst sei.
Europäische Vertragsstaaten sahen dies anders. Zwar würden neue fossile Unternehmensinvestitionen zukünftig nicht mehr durch den Vertrag geschützt werden. Der Schutz gelte nun vor allem für Investitionen in Wasserstoff und erneuerbare Energien, aber bereits bestehende Investitionen in die Fossilwirtschaft würden noch weitere zehn bis 20 Jahre Investitionsschutz und damit verbunden die Klagemöglichkeit vor den fragwürdigen internationalen Sondergerichten besitzen.
Investitionen in die Förderung von Gasvorkommen würden sogar noch bis 2040 geschützt sein. Dies wäre ein erhebliches Hindernis für die gerade in der nächsten Dekade zu leistenden Energiewende und den wirkungsvollen Kampf gegen die Klimakrise.
Aber auch den bisherigen Energie-Charta-Vertrag unterstützende Staaten, wie Japan und Großbritannien sowie Erdöl exportierende Staaten wie Kasachstan und Turkmenistan, wenden sich gegen den reformierten ECT der EU-Kommission.
Derartige auf Fossilwirtschaft und auch auf Atomindustrie basierende Staaten möchten überhaupt keine Veränderungen des ursprünglichen ECT vornehmen. So kündigt Japan an, den modernisierten Vertragsvorschlag der EU-Kommission zu blockieren.
Forderungen nach dem Austritt aus dem Energiecharta-Vertrag
Dementsprechend überlegen derzeit europäische Staaten, aus dem internationalen Vertragswerk des ECT auszusteigen. Italien hat den ECT bereits 2016 aufgekündigt. Spanien will ebenfalls voraussichtlich den ECT verlassen, Deutschland und Frankreich prüfen die Möglichkeit, den Vertrag auch unter den reformierten Bedingungen zu kündigen.
In einem offenen Brief von 78 internationalen Klimawissenschaftler:innen kritisieren diese den Reformentwurf und fordern u.a. von der EU-Kommission und dem Rat der EU einen Austritt aus dem Energie-Charta-Vertrag, da ansonsten aufgrund der staatlichen Maßnahmen gegen die Klimakrise eine Vielzahl von Investor-State-Dispute-Settlements (ISDS, also Klagen von Investoren vor internationalen Sondergerichten) zu erwarten seien – so die Wissenschaftler:innen:
Durch die Beibehaltung des Schutzes ausländischer Investitionen in bestehende fossile Brennstoffe im modernisierten Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ECT) werden die EU-Länder vor die Wahl gestellt, entweder die bestehende Infrastruktur für fossile Brennstoffe bis zum Ende ihrer Lebensdauer in Betrieb zu halten oder sich neuen ISDS-Klagen zu stellen. Beide Optionen werden das EU-Klimaneutralitätsziel und den EU Green Deal gefährden.
Diese Kritik an dem Entwurf eines modernisierten Energiecharta-Vertrags wird von zahlreichen NGO, wie z.B. dem Climate Action Network Europe (CAN) oder Attac geteilt. Bereits 2021 zählte die Süddeutsche Zeitung in ihrem Bericht über den ECT Hunderte Wissenschaftler und mehr als 250 Mitglieder des Europäischen Parlaments, die einen Austritt aus dem Vertrag fordern würden. Mehr als eine Million Menschen in Europa hatten im März 2021, bereits zwei Wochen nach deren Veröffentlichung, eine Petition gegen den ECT unterschrieben.
Der modernisierte Energie-Charta-Vertrag muss nun im November 2022 einstimmig von den ECT-Vertragsparteien angenommen werden. Dies ist sicherlich fraglich, ob eine derartige Annahme des Entwurfs der EU-Kommission gelingen wird. Auch müssen hiernach der EU-Rat und das EU-Parlament dem Vertragsentwurf zustimmen. Des Weiteren müssten die nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten dem Vertrag zustimmen. Dies wäre ein Prozess, der sich noch Jahre hinziehen könne.
Anfang September 2021 hatte übrigens bereits der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Urteil gefällt, dass die Anwendung von Bestimmungen des Energiecharta-Vertrags auf Rechtsansprüche von Investoren gegen einen EU-Staat nicht auf europäisches Recht anwendbar sei.
Die Klage vor internationalen Sondergerichten sei nicht mit den Befugnissen europäischer Gerichte vor dem Hintergrund europäischen Rechts vereinbar. Gegner des ECT würdigten daher das EuGH-Urteil als die Beerdigung des Vertragswerkes. Dennoch hielt dies Unternehmen und Sondergerichte nicht davon ab, weitere Klagen einzureichen bzw. zuzulassen.
17-jährige Klimaaktivistin klagt gegen ECT
Gemeinsam mit einigen anderen jungen europäischen Klimaaktivisten reicht die Schülerin Julia, die aus dem von der Klimakrise massiv betroffenen Ahrtal stammt, im Juli 2022 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage gegen zwölf europäische Staaten ein. Diese Klage hat das Ziel zu erreichen, dass diese Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag austreten. Eine französische Anwältin und mehrere NGO unterstützen diese Klage.
Julia, die die katastrophalen Folgen der Klimakrise im Ahrtal selbst erfahren hat, ist der Auffassung, dass der Energiecharta-Vertrag den Kampf gegen die Klimakrise erschweren bzw. behindern würde. Er sei im Interesse der Fossilwirtschaft verfasst, auch in seiner modernisierten Form, und sei mit der notwendigen Energiewende im Sinne der Pariser Klima-Verträge unvereinbar.
Die Klagemöglichkeit von Energie-Konzernen gegen Staaten in Milliardenhöhe stellt aus ihrer Sicht eine Verhinderung von staatlichen Maßnahmen zum Schutz des Klimas und damit auch eine massive Beeinträchtigung der Menschenrechte dar – so Julia:
Ich habe das erlebt. Ich weiß, was Klimakrise macht. Also wenn so etwas passiert und nicht ausreichend gehandelt wird, was muss dann noch passieren? (…) Ich fühle mich direkt in meinen Menschenrechten verletzt.
Fazit: Austritt oder einschneidende Reform des ECT?
Der Austritt von Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag, die mit der sozialökologischen Transformation angesichts der Klimakrise Ernst machen wollen, scheint auf den ersten Blick ein plausibles Anliegen zu sein. Italien hat bereits 2016 diesen Schritt gewagt. Fakt aber ist, dass Italien, laut Vertrag, von 2016 an noch 20 Jahre von Fossilunternehmen verklagt werden kann, wenn Italien deren Investitionen behindere bzw. beeinträchtige.
Ein Austritt europäischer Staaten würde also in den nächsten beiden, für die Bekämpfung der Klimakrise entscheidenden, Dekaden wenig ändern. Daher müsste eher eine deutlichere Überarbeitung des Energy Charta Treaty mit dem Ziel erfolgen, vor allem Investitionssicherheit für Energieunternehmen zu schaffen, die in erneuerbare Energien und in die zukünftige Wasserstoffwirtschaft investieren. Eine weitere Klagefrist für Fossilunternehmen vor Sondergerichten ist im Einklang mit europäischem Recht auszuschließen.
Der bisherige Modernisierungsvorschlag der EU-Kommission ist daher kritisch zu betrachten, da er zudem noch zwischen 10 und 20 Jahren Investitionssicherheit und die entsprechende Klagemöglichkeit vor Sondergerichten für die Fossilwirtschaft (Öl, Gas, Kohle) gewährleistet. Auch müsste das intransparente Klageverfahren zugunsten einer Klagemöglichkeit vor europäischen Gerichten beseitigt werden, die den Rechtsansprüchen des EuGH entsprechen. Eine weiterhin geltende Paralleljustiz widerspricht europäischem Recht.
Es verwundert, dass über die genannten Aktivitäten im Widerstand gegen die Modernisierung des ECT kein größeres Protestpotenzial in der europäischen Bevölkerung ausgelöst wird – so wie es vor ein paar Jahren bei den weltweiten Protesten gegen die internationalen Investitionsschutz- und Handelsabkommen TTIP und Ceta noch der Fall war.
Eine weitere Information der internationalen Journalisten-NGO "Investigate Europe" könnte hier noch einmal als Weckruf wirken – nämlich,
• "dass an den Schiedsgerichten ein kleiner Zirkel von Anwälten tätig ist, die mitunter in den Verfahren mal als Schiedsrichter und mal als Anwalt fossiler Konzerne arbeiten. Im Gespräch mit ‚Investigate Europe‘ nennt ein Schiedsrichter dies unethisch. Die Gehälter der Schiedsrichter sind zudem nahezu unbegrenzt und werden auch aus Steuergeldern bezahlt.
• "dass selbst Juristen das System der Schiedsrichter und des Energiecharta-Vertrags längst kritisch sehen. In Gesprächen mit ‚Investigate Europe‘ bezeichneten sie dieses als ‚russisches Roulette‘ sowie als ‚historischen Fehler‘."
Die gegenwärtigen Ereignisse um den Krieg in der Ukraine scheinen die Öffentlichkeit sehr stark in ihrer Aufmerksamkeit zu fokussieren und von anderen drängenden Fragen abzulenken. Es ist zumindest zu hoffen, dass u.a. die Mitglieder des EU-Parlaments der Tragweite zukünftiger Beschlüsse hinsichtlich des Energiecharta-Vertrags weiterhin ihre kritische Aufmerksamkeit zuwenden.
Wenn das EU-Parlament seine kürzlich beschlossene Resolution zur Beendigung fossiler Energiewirtschaft und zur Stärkung erneuerbarer Energien ernst nimmt, dann kann es keine Klagemöglichkeit zwischen 10 und 20 Jahren hinnehmen, wenn Konzerne ihre an fossiler Energieproduktion orientierten Interessen beeinträchtigt sehen. Hier ist das EU-Parlament gefordert, sich nicht wieder – wie bei der Zustimmung zum Greenwashing der EU-Nachhaltigkeits-Taxonomie – den Vorgaben der EU-Kommission mehrheitlich zu beugen.
Prof. Dr. Klaus Moegling, Jg. 1952, habilitierter Politikwissenschaftler und Soziologe, Lehrtätigkeiten an den Universitäten Hamburg, Marburg und Kassel, u.a. Autor des Buches ‚Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich.‘ (Verlag Barbara Budrich, 3. erweiterte Auflage 2020). Englische Version (2022) im open access unter klaus-moegling.de/international-edition/
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