Junge deutsche Muslime: Die wirtschaftliche Situation macht den Unterschied

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Wissenschaftliche Studie zur Akzeptanz politischer Gewalt: Nicht die Zuwendung zur Religion ist entscheidend für die Einstellung, sondern die Lage und Mentalität im kapitalistischen Konkurrenzkampf

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Wenn es in einer wissenschaftlichen Arbeit um deutsche Muslime und die Akzeptanz von politischer Gewalt geht, dann lässt das aufhorchen. Subjektive Eindrücke, Klischees, Mondscheinurteile und Generalisierungen liest man ja jeden Tag samt anekdotischer Bestätigungen für die ein oder andere Sichtweise.

Von einer Gemeinschaftsarbeit deutschsprachiger Wissenschaftler über den Zusammenhang zwischen der Zuwendung zum Islam und der Einstellung zur politischen Gewalt erwartet man demgegenüber besser abgesicherte und gut begründete, nachvollziehbar gültigere Antworten auf ein Politikum, das mit Pegida seit Jahren Wellen in Deutschland und darüber hinaus schlägt: Inwiefern spielt die Religion Islam und die Einstellung der Muslime dazu eine Rolle bei der Einstellung zur politischen Gewalt?

Die Studie, um die es geht, grenzt die Fragestellung auf die Akzeptanz von politischer Gewalt ein - der Gegenstand ist also nicht die Bereitschaft zur politischen Gewalt. Zugrunde liegen ihr Interviews mit 350 jungen deutschen Muslimen, türkischen und arabischen, das ist keine besonders hohe Fallzahl, was bei einer Vorgängerarbeit mit der gleichen Grundlage schon mal bemängelt wurde, ist aber eine Repräsentativerhebung mit geringen Schätzfehlern, wie von einem der Verfasser hingewiesen wird.

Frömmigkeit und Akzeptanz von politischer Gewalt

Die Studie wurde vergangenen Freitag veröffentlicht, ist online ohne Zahlschranke zugänglich und trotz der deutschsprachigen Wissenschaftler in englischer Sprache verfasst. Ihr Originaltitel ist nicht leicht in gutes Deutsch zu übersetzen; "Devoutness to Islam and the Attitudinal Acceptance of Political Violence Among Young Muslims in Germany".

"Devoutness" wird wörtlich mit Frömmigkeit übersetzt, liest man die Studie, so ist eher der Grad der Zuwendung gemeint, den die Muslime für ihre Religion aufbringen. Ob das mit Frömmigkeit deckungsgleich ist, dazu gibt es wohl keine eindeutigen Antworten. Es geht der Studie darum herauszufinden, inwiefern eine intensive Beziehung zum Islam Auswirkungen auf die Einstellungen der befragten deutschen Muslime hinsichtlich ihrer Akzeptanz von politischer Gewalt hat.

Um es vorwegzunehmen: Die Antwort ist "nein" und zwar in einem zweifachen Sinn. Auch die Studie von Andreas Hadjar, David Schiefer, Klaus Boehnke, Wolfgang Frindte und Daniel Geschke berücksichtigt die zwei Aspekte, die im Zusammenhang mit Islam und Gewalt fast schon zwangsläufig in Diskussionen auftauchen: einmal das Stichwort "Islam als Religion des Friedens" und zum anderen der Fundamentalismus, der im politischen Islam Gewaltanwendung legitimiert. Besonders sichtbar ist bei den gewaltbereiten Salafisten, die sich für den äußeren, martialischen Dschihad entscheiden.

Nicht bestätigt wurde die Annahme, dass ein höherer Grad an "Frömmigkeit" mit einer weniger ausgeprägten Akzeptanz von Gewalt einhergeht. Die Hinwendung zur Region des Friedens fabriziert also kein Kokon der Sanftmütigkeit. Das überrascht nicht besonders, da doch auch die christliche Botschaft, die Nächstenliebe predigt, über Jahrhunderte auch die Frömmsten nicht davor geschützt hat, sogenannte "gerechte Gewalt", angefangen von Gewalt gegen Kindern bis hin zu Kriegen akzeptabel zu finden.

Auch ansonsten hat die Studie keine bedeutende, sprich "signifikante" Verbindung gefunden zwischen der "Frömmigkeit" der jungen deutschen Muslime und ihrer Akzeptanz von Gewalt. Dafür spielten andere Rahmenbedingungen der Eigeneinschätzung, der Selbstverwirklichung und der Zufriedenheit eine bedeutungsvollere Rolle.

Werte und Ellenbogenmentalität

Was im Titel der Studie nicht vorkommt, ist in der Untersuchung wichtig: der Zusammenhang mit einer im Kapitalismus vorherrschenden Mentalität, der wirtschaftlichen Lage der Befragten, ihrer Bildung und der Akzeptanz von politischer Gewalt.

Das wird in der Studie ganz augenfällig mit den Kategorien sozioökonomische Situation (Einkommen und daraus gefolgerte Klasse) und Ausbildung erfasst und darüber hinaus mit einer Kategorie, die einem Studienverfasser besonders am Herzen zu liegen scheint: das Werthaltungskonstrukt "Hierarchisches Selbstinteresse" (englisch "hierarchic self-interest", HSI).

Die Funktion des "Hierarchisches Selbstinteresse" besteht einfach gesagt darin, dass sie den Rahmen setzt zur Bewertung und Einordnung der Lage und der Geschehnisse. Der Bildungssoziologe Andreas Hadjar hat dafür ein leicht verständliches Äquivalent aus der Alltagssprache "Ellenbogenmentalität". Es geht um die Einschätzung nach einer "Marktlogik", die verabsolutiert wird, dadurch als Maßgabe für alle möglichen Felder dient. Dabei gilt es, besser als andere zu sein.

Bei der Untersuchung zur Akzeptanz politischer Gewalt wird der Hinwendung zum Islam somit ein anderes "Wertfabrikations- und Bewertungsagentur" gegenübergestellt, die ihre Grundlage in den Erfolgs und Misserfolgsgeschichten des gegenwärtigen Kapitalismus hat - und man muss nicht lange raten, wo die Akzeptanz der Gewalt auf Verbindungen trifft, die ihr zugetan sind.

Prekariat und Ellenbogenmentalität

Die stärkste Verbindung sieht die Studie bei Personen, die am meisten gescheitert sind: Die jungen Muslime, die eine sehr gute Schulausbildung haben, aber ökonomisch im Prekariat gelandet sind - im Fachvokabular heißt das "negative status inconsistency".

Auch ansonsten fallen die Einsichten der Studie so aus, wie man sich das erwarten würde. Die wirtschaftliche und soziale Situation zusammen mit Ellenbogenmentalität und dem Grad der Bildung spielen bei der Akzeptanz von politischer Gewalt eine signifikante Rolle.

Die Ellenbogenmentalität ist bei Muslimen mit hoher Bildung und in guten wirtschaftlichen Verhältnissen am geringsten ausgeprägt und am höchsten bei jenen, die in prekären Verhältnissen leben und schlecht ausgebildet sind. Damit hängt dann die Bereitschaft zusammen, politische Gewalt zu akzeptieren.

Die geringste Akzeptanz dafür findet sich entsprechend bei den Muslimen, die in doppelter Hinsicht gut dastehen, sozioökonomisch und anhand der Ausbildung. Unter den zweifach benachteiligten Muslimen - prekäre Lebensverhältnisse, Einkommen unter dem Durchschnitt, und geringe Schulbildung - war der Zusammenhang zwischen Ellenbogenmentalität (HSI) und Einstellungen, die Gewalt akzeptieren, am stärksten.

Unter den Muslimen, die gut ausgebildet sind, bedeutet die wirtschaftliche Lage den Unterschied: "Personen, mit einem sozialen Status, der von Mängeln gekennzeichnet ist, haben eine stärkere Verbindung zwischen "Hierarchischem Selbstinteresse" und der Akzeptanz politischer Gewalt.