Jungfrau in Not
Wie man durch Sexphantasien die Zensur überlistet
Jetzt zu Halloween haben sie wieder Konjunktur: Vampire, Monster, Werwölfe und sonstige Unholde, die uns das Gruseln lehren wollen. Die meisten von ihnen kennen wir aus alten Horrorfilmen mit Bela Lugosi oder Christopher Lee, und die meisten von uns kennen sie nur noch aus dem Fernsehen und nicht mehr aus dem Kino, wo sie hingehören. Früher, als sie das Licht der Leinwand erblickten, waren sie Teil eines Gesamtkunstwerks, das erst im Kopf des Zuschauers entstand. So paradox es klingt: Bei den Wolfsmenschen, Monstern und Mumien könnte viel eher der Eingang zum jetzt wieder beschworenen „Qualitätsfernsehen“ zu finden sein als bei der Verfilmung von Shakespeare-Stücken oder bei Kultursendungen, in denen Elke Heidenreich atemlos der Inhalt von Büchern referiert, damit man diese hinterher nur noch kaufen, aber nicht mehr lesen muss. Denn die Mumie und Graf Dracula sind nichts ohne die Phantasie des Zuschauers. Sie sind die Feinde jedweder Art von Publikumsbetäubung, die beim von Reich-Ranicki gewünschten Verlesen von Brecht-Gedichten genauso auftreten kann wie beim Deutschen Fernsehpreis. Und unter dem Cape haben sie sogar eine Alternative zum Nackt-Scanner der EU-Kommission versteckt, ganz ohne Apparat und Strahlenbelastung. Der Versuch einer Rekonstruktion.
Filmstar sein ist schwer. Niemand wusste das besser als Lon Chaney Jr. Eigentlich war er Klempner von Beruf. Er hieß auch nicht Lon, sondern Creighton. Aber er war der Sohn von Lon Chaney, dem größten Horrorstar des Stummfilms. Also musste er seinen Namen ändern, als er zum Film ging, weil da mehr Geld zu verdienen war als bei der Boilerfirma, für die er arbeitete. Der Durchbruch gelang Lon Jr. mit der Rolle des tumben Lennie Small in der Bühnenfassung von John Steinbecks Of Mice and Men. Lennie hatte einen Unfall mit einem Pferd, bei dem sein Hirn gelitten hat. Weil er seine Kraft nicht einschätzen kann, tötet er Tiere, die er nur streicheln will, und schließlich passiert das auch mit einer Frau. Big Lon, wie ihn die Presseagenten gern nannten, spielte die Rolle auf der Bühne und dann im Film. Das brachte ihm einen Vertrag bei der Universal ein.
In Universal City waren bereits Filme wie Dracula, Frankenstein und The Mummy entstanden. Für ein mittleres Studio wie die Universal, das mit den Großproduktionen der Konkurrenz nicht mithalten konnte, war das Horrorgenre ideal. Weil im Horrorfilm eine Welt der Schatten auf die Leinwand gebracht wurde, konnte man auf teure Kulissen verzichten; vieles, was Geld gekostet hätte, erübrigte sich, weil mit Andeutungen gearbeitet wurde statt mit protzigen Schauwerten. Im Horrorfilm war die Mitarbeit des Publikums gefragt, das dafür auch noch Geld bezahlte. Das Genre half der Firma Universal durch manche Krise.
Unaussprechliche Impulse: Schreie im Negligé
Chaney fühlte sich als romantischer Liebhaber und dazu berufen, der Konkurrent von Charles Boyer zu werden, der damals Frauenherzen dahinschmelzen ließ und der Filmpartner von Greta Garbo, Marlene Dietrich oder Hedy Lamarr war. Besetzt wurde er für die Titelrolle in Man-Made Monster (1941). Chaney spielt Dynamo Dan, einen gegen Elektrizität immunen Jahrmarktsartisten, der vom dämonischen Dr. Rigas (Lionel Atwill) mit einer immer höheren Stromdosis aufgeladen und zum Elektrizitätsjunkie gemacht wird. Weil Dr. Rigas, getrieben von unaussprechlichen Impulsen, die schöne June (Anne Nagel) auf seinen Operationstisch schnallt, findet sich für Dynamo Dan reichlich Gelegenheit, die Heldin durch die Kulissen zu tragen. Die Universal gab extra zu diesem Zweck bei der Star-Designerin Vera West ein hauchdünnes Negligé in Auftrag. Als die Werbeabteilung Bilder brauchte, zog Anne Nagel das Negligé noch einmal an, und der gutmütige Lon hob sie hoch. Auf den PR-Photos sieht das aus, als sei die Frau im Nachtgewand seine Beute. Er scheint nur nicht genau zu wissen, wie es jetzt weitergehen soll.
Big Lon war ein naiver, argloser Mensch. Der Ausflug ins Horrorfach, dachte er, würde eine Episode bleiben, und später würde er darüber lachen können. Davon ließ er sich auch nicht abbringen, als man ihm statt des erhofften Menjou-Bärtchens (sichtbares Zeichen der romantischen Liebhaber) struppige Haare ins Gesicht klebte, um ihn zum Wolfsmenschen zu machen. Larry Talbot, der am Leben verzweifelnde und nicht sterben könnende Werwolf, ist Lon Chaneys größte Rolle. Erstmals übernahm er sie in The Wolf Man (1941), wo er auf seine Dauerpartnerin Evelyn Ankers traf. Die blonde Evelyn kam vom Broadway und hatte durch den markerschütternden Schrei auf sich aufmerksam gemacht, den sie im Kriminalreißer Ladies in Retirement ausstoßen musste. Dieser Schrei war so durchdringend, dass er von den Kritikern gesondert erwähnt wurde. Man solle hingehen und sich das Blut in den Adern gefrieren lassen, hieß es. Evelyn bescherte das einen Filmvertrag. Im Hollywood der 1940er erhielt Evelyn Ankers den Beinamen „The Screamer“. Man sollte die Leistung, die dafür nötig war, nicht unterschätzen. Der perfekte Schrei im Horrorfilm ist nicht einfach nur schrill und laut. Er drückt auch die halb ängstliche, halb freudige Erwartung aus. Das richtige Schreien ist eine Kunst.
Bei den Dreharbeiten konnte Lon es nicht lassen, sich in Wolfsmaske von hinten anzuschleichen und seine Partnerin in die Luft zu heben. Evelyn hasste ihn deswegen. Die Anekdote zeigt aber auch, dass er verstanden hatte, worum es ging. The Wolf Man erzählt von einem Vater-Sohn-Konflikt mit ödipalen Untertönen. Gebissen wird nachts im Wald. Wenn Evelyn Ankers dort unterwegs ist, trägt sie ein hochgeschlossenes Kostüm. Einmal, in ihrem Haus, sehen wir sie in einem dicken, eher unerotischen Morgenmantel. Aber bevor Lon und Evelyn zum Phototermin für die Reklamebilder gebeten wurden, ließen die sparsamen Produzenten das Negligé umarbeiten, das Anne Nagel für Man Made Monster bekommen hatte. Auf den Bildern, die dann entstanden, liegt Evelyn Ankers – in Reizwäsche und in postkoitaler Haltung – zwischen den gespreizten Beinen von Lon Chaney, als habe dieser sie soeben „gebissen“.
Man kann jetzt bemängeln, dass falsche Erwartungen geweckt werden und der Konsument mit leeren Versprechungen, die vom Film selbst nicht eingehalten werden, zum Kauf einer Kinokarte animiert werden soll. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht. Man kann sogar sagen, es ist genau andersherum. Erst durch die Werbebilder wird der Film zu dem, was der Zuschauer erwartet und was ihm sonst nicht geboten werden könnte. Oder, anders formuliert: Durch die erotisch aufgeladenen Werbephotos und Plakate, die ihm vorab verabreicht wurden, ging der Zuschauer mit einer Erwartungshaltung ins Kino, die ihn auf der Leinwand Dinge sehen ließen, die so nicht wirklich gezeigt wurden. Zu sehen waren vielmehr Unbestimmtheitsstellen (Nacht, Schatten, Nebel), die das Publikum mit den „eigenen“, in der Regel durch die Werbekampagne vorgegebenen Phantasien füllte.
Die Photos mit den Monstern und den Frauen im Negligé wurden in den Filmzeitschriften abgedruckt und im Foyer ausgehängt. Sie waren auch eine Interpretationshilfe, weil sie dem Publikum eine Ahnung davon vermittelten, was gemeint war, wenn sich die Heldin in den Wald verirrt hatte, durch den der Werwolf schlich. Chaney als Wolfsmensch, mit Evelyn Ankers in seinen Armen, die Hand bedenklich nah an ihrem Busen, gab es nur im Schaukasten. Die alten Horrorfilme sind daher erst komplett, wenn man sie in Verbindung mit den marktschreierischen Plakaten und den PR-Photos sieht. Nacktscanner für Filmfans
Einmal steht Evelyn Ankers nachts auf, weil unten vor der Haustür Lon Chaney nach ihr ruft. Als sie ihm öffnet, trägt sie den Morgenmantel. Mit den durch die PR-Photos hervorgerufenen Erwartungen deckt sich das natürlich nicht. Chaney ist in der Szene nicht der wilde Wolfsmensch (das Tier im Manne), und Ankers trägt einen wahren Liebestöter. Allerdings hat die Universal vorab – in Form der Werbebilder – auch das Instrumentarium zur Verfügung gestellt, das nötig ist, um die blonde Heldin in einem mentalen Scan-Prozess gleichsam auszuziehen. Als Zuschauer „weiß“ man, was Evelyn Ankers unter dem Mantel anhat: das Negligé. Die PR-Photos haben bereits ihren festen Platz in der Phantasie eingenommen, noch bevor man im Kino sitzt. In der Regel sieht man sie auch öfter als den Film. So kann es passieren, dass die Bilder aus dem Aushangkasten die Erinnerung an den Film dominieren.
Die Evelyn Ankers des Films wird im Gedächtnis ausgezogen, weil sie durch die Evelyn Ankers der Standphotos immer mehr überdeckt wird. Mitunter führt das zu kuriosen Debatten. Als die Universal begann, die alten Horrorfilme auf DVD zugänglich zu machen, gab es Schelte dafür, dass man die „zensierten Fassungen“ veröffentlicht hatte, statt die „Originale“ aus dem Archiv zu holen. Es meldeten sich Leute, die Evelyn Ankers auf der Leinwand oder in obskuren Nachtprogrammen des Fernsehens in Dessous gesehen hatten und erbost darüber waren, dass sie auf der DVD den Morgenmantel trägt, als müsse man sich noch immer dem Diktat verklemmter Zensoren von Annodazumal beugen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat es diese schmerzlich vermissten Szenen nie gegeben. Man kann das schon an dem langen Weg sehen, den Ankers von ihrem Schlafzimmer bis zur Haustür zurücklegen muss und daran, wie viele Zwischenschnitte dafür nötig sind – all das nur, um zu zeigen, wie weit der wartende Chaney von ihrem Bett entfernt ist. Wie hätte sie da im Negligé durch den nächtlichen Wald laufen sollen, um den Werwolf zu treffen?
In Hollywood waren die Dessous der Damen nicht von Anfang an in das Begleitmaterial zum Horrorfilm (die Schaukästen im Foyer) verbannt. Zu Stummfilm-Zeiten waren Drehbuchautoren und Regisseure bemüht, die Kinogeher über exotische weibliche Unterwäsche und sexuelle Sonderwünsche zu informieren sowie immer neue, auf Südseeinseln spielende Geschichten zu erfinden, wo die Frauen naturgemäß viel nackte Haut trugen. Weil jede Stadt ihren eigenen Zensor mit eigenen Moralvorstellungen hatte, wurde im einen Ort dies und im anderen jenes aus einem Film herausgeschnitten. Das war schlecht für die Geschäfte, und Planungssicherheit ließ sich so auch nicht herstellen. Durch einige Skandale im Privatleben ihrer Stars zusätzlich unter Beschuss geraten, rangen sich die Studiobosse 1922 zur Gründung einer Produzentenvereinigung durch. Sie gewannen Will Hays, ihnen im Kampf gegen die Zensoren und um ein verbessertes Image beizustehen.
Aufstand der Anständigen: Korrekte Unterhaltung für das Volk
Hays, ein früherer Verkehrspolizist aus Indiana, war ein Würdenträger der Presbyterianer, Ex-Postminister und Ex-Vorsitzender der Republikanischen Partei mit guten Verbindungen zum Weißen Haus. Mit seinen großen Ohren, seiner hageren Gestalt, seiner Neigung zum Salbadern und seiner schneidend hohen Stimme war er die Idealbesetzung für einen aller Lustbarkeiten unverdächtigen Prediger alttestamentarischen Zuschnitts. Tatsächlich sahen die meisten Studiobosse in seiner Berufung nur eine geschickte PR-Maßnahme. Hays arbeitete eine „Formel“ aus, die Mitglieder der Vereinigung dazu verpflichtete, nur Stoffe „der richtigen Art“ zu verfilmen. Das war alles sehr vage, und so sollte es auch sein. Will Hays gab fortan in New York Presseerklärungen über die hohen moralischen Anforderungen heraus, die Hollywood an seine Produkte stellte. An der Westküste forderte Carl Laemmle, der Gründer der Universal, dazu auf, „saubere“ Filme für die ganze Familie herzustellen, ohne Schmutz und Schund. In der Praxis bereiteten Laemmles Angestellte Filme mit Titeln wie Modern Virgins, Delightfully Sinful, Forbidden Love oder Petting Party vor.
1930, als die Proteste der Gerechten wieder einmal besonders laut wurden, sahen sich die Studios gezwungen, einen von sehr konservativen Katholiken ausformulierten Moralkodex zu übernehmen. Der neue „Production Code“ hielt fest, dass es sich bei Filmen um Zerstreuung für die große Masse handele; daraus ergebe sich für die Produzenten die Verpflichtung, zur moralischen Ertüchtigung des Publikums beizutragen und „korrekte Unterhaltung“ zu liefern. Vulgarität, Obszönität, Gottlosigkeit, die Beleidigung religiöser und nationaler Gefühle, abstoßende Themen wie Mädchenhandel und brutale Verhörmethoden der Polizei sowie Sexualität außerhalb der Ehe durften im Hollywood-Film keinen Platz mehr haben; Verbrechen mussten eindeutig verurteilt werden; die Akteure mussten anständig angezogen sein. Wirklich eingehalten wurde vorläufig auch dieser Production Code nicht.
Neues Ungemach drohte, als im Januar 1933 das Magazin McCall’s in Auszügen die Ergebnisse von großangelegten, im Auftrag der Payne-Stiftung angestellten Studien zum Zusammenhang zwischen Filmen und Moral, Verhalten, Gefühlsleben und Gesundheit veröffentlichte. Bis heute ist es üblich, Forderungen nach einer allgemeinen Zensur durch Wirkungsstudien mit minderjährigen Probanden zu untermauern, als seien alle Kinogeher irgendwie Kinder. Die Payne-Studien sind ein frühes Beispiel für dieses Verfahren. Die Untersuchungen konzentrierten sich auf Kinder und Jugendliche, aber auch auf Arbeiter und Einwanderer, und da besonders auf die Frauen. So wurde suggeriert, dass ein logischer Zusammenhang zwischen diesen gesellschaftlichen Gruppen besteht. Es gab viel Negatives über die Auswirkungen von Filmen auf diese angeblich besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu lesen. In Hollywood nannte man die Payne-Studien nur die „Payneful Studies“ (schmerzhafte Studien), weil die Gegenseite nun mit scharfer Munition versorgt war. Aus den insgesamt neun Bänden konnte sich jeder das herauszupicken, was gerade passte.
Die Lage wurde bald so dramatisch, dass sich die Produzentenvereinigung am 5. März 1933 zu einer nächtlichen Krisensitzung unter dem Vorsitz von Will Hays traf. Im Morgengrauen unterzeichneten die Studiobosse zähneknirschend ein Dokument (bekannt als die „Magna Carta der Filmindustrie“), in dem sie sich verpflichteten, den Production Code besser einzuhalten. Hays bekam mehr Macht und die von ihm geleitete Einrichtung einen neuen, sehr offiziell klingenden Namen: Production Code Administration (PCA). Hays’ Statthalter in Hollywood wurde Joe Breen („der Administrator“), ein sehr gläubiger Katholik mit erfundenem Universitätsabschluss, der vorher als PR-Berater für eine Kohlenfirma gearbeitet hatte. Als Zeichen der Unterwerfung zogen die Warner Bros. den Film Baby Face (Barbara Stanwyck wird von ihrem Vater zum Striptease und zur Prostitution gezwungen) aus dem Verkehr.
Breen verstand sich als Kreuzritter der Moral. Er hatte beste Kontakte zu hohen katholischen Würdenträgern. Deren Empörung fachte er geschickt an. Im April 1934 beschloss die Bischöfliche Versammlung der USA, Rekruten für die „Legion of Decency“ anzuwerben. Wer Mitglied werden wollte, musste ein Bekenntnis zur Reinheit des Films ablegen: „Ich möchte der Legion der Anständigkeit beitreten, die schmutzige und verderbte Filme verdammt. Ich vereinige mich mit all jenen, die gegen diese Filme als schwere Gefahr für die Jugend, das Leben in der Familie, das Land und die Religion protestieren.“ Die Legion of Decency führte ein Bewertungssystem für Filme ein. Es gab drei Kategorien: „A“ für moralisch einwandfrei, „B“ für moralisch zu beanstanden und „C“ für „condemned“ (verdammt).
Klassengesellschaft in Hollywood
Es dauerte nicht mehr lange, bis es einen Index für Filme und Schwarze Listen gab, begleitet von Boykottdrohungen der Legion of Decency. Die Produzenten ließen Breen in der Fachpresse rüffeln („Hitler von Hollywood“), dann gaben sie klein bei. Alle Treatments und Drehbücher mussten Breen zur Genehmigung vorgelegt werden. Wer einen Film, der gegen den Production Code verstieß, in den Verleih brachte, musste 25 000 Dollar Strafe bezahlen. Alle Mitglieder der Produzentenvereinigung verpflichteten sich, Filme ohne das Prüfsiegel der PCA in ihren Kinos nicht mehr zu zeigen. Die „Großen Fünf“ (Paramount, Warners, RKO, MGM, 20th Century-Fox) besaßen 77 % der Erstaufführungskinos in den USA. Praktisch bedeutete das, dass ab Sommer 1934 kein Film ohne Siegel eine anständige Kinoauswertung bekommen oder Profit machen konnte.
Breen war nicht damit zufrieden, die Gegenwart zu kontrollieren. Er wollte auch die Vergangenheit manipulieren und Eingriffe in unser kollektives Gedächtnis vornehmen. In einer Zeit ohne Fernsehen, Video und DVD war eine Zweitverwertung von Filmen nur möglich, indem man sie im Kino neu startete. Dafür brauchte man das Prüfsiegel. Ältere Filme wurden in drei Klassen eingeteilt, die in etwa dem Bewertungssystem der Legion of Decency entsprachen. Damit das nicht zu deutlich wurde, ersetzte man die Buchstaben durch römische Ziffern. Filme aus Klasse I (She Done Him Wrong und I’m No Angel mit Mae West, Baby Face mit Barbara Stanwyck, Ernst Lubitschs Design for Living, Der blaue Engel mit Marlene Dietrich) durften sofort und generell nicht mehr aufgeführt werden. Filme aus Klasse II durften vorgeführt werden, solange es vertragliche Verpflichtungen gab und mussten dann aus den Kinos verschwinden. Filme aus Klasse III mussten entsprechend der Regelungen des Production Code umgeschnitten und dann der PCA zur Genehmigung vorgelegt werden. Das hatte fatale Konsequenzen für die Konservierung. Weil eine sachgerechte Archivierung teuer war und das Prüfsiegel-Verfahren weitere Kosten verursachte, warfen die Studios im Zweifel lieber weg, statt etwas aufzubewahren.
Breen zählte es zu seinen Aufgaben, Hollywood nachträglich eine weiße Weste zu verschaffen. Deshalb bestand er darauf, ältere, zum Neustart anstehende Filme nach Möglichkeit so umzuschneiden, dass sie in die Kategorie A der Katholiken fielen. So wurde der Eindruck erweckt, Filme seien auch früher nicht so gewagt gewesen, wie der Eine oder die Andere sich glaubte erinnern zu können. Viele Hollywood-Filme aus der Zeit vor 1934 sehen wir bis heute tatsächlich – ohne es zu wissen – in zensierten Fassungen.
Kinderschänder und Zensoren
„Moralisch einwandfrei“ konnte James Whales Frankenstein von 1931 nicht mehr werden. Aber 1937 wurde viel geändert, damit der Film überhaupt noch gezeigt werden durfte. Besonders schlimm traf es die Szene, in der das Monster der kleinen Maria begegnet. Maria wirft Blumen ins Wasser. Das Monster macht es nach. Dann wirft es Maria ins Wasser, weil es als „Neugeborenes“ noch nicht gelernt hat, wozu das führen kann. Maria ertrinkt. Später trägt der Vater die Leiche des kleinen Mädchens ins Dorf. Die Einstellungen, in denen zu sehen war, wie das Mädchen ins Wasser geworfen wird und untergeht, wurden 1937 entfernt (und konnten nie mehr vollständig rekonstruiert werden, auch wenn aktuelle DVD-Ausgaben etwas anderes behaupten). Zensoren erreichen oft das Gegenteil von dem, was sie bezwecken. Die neue Schnittfassung wurde von den Zuschauern so interpretiert, dass das Monster Maria erst vergewaltigte und dann umbrachte. Das macht auch deutlich, wie sehr das Publikum von Horrorfilmen darauf konditioniert war, nach versteckten Botschaften zu suchen und Leerstellen mit sexueller Bedeutung zu füllen.
Zensoren sind leicht abzulenken. Ganz vom Schicksal der kleinen Maria in Anspruch genommen, ließ Breen die Begegnung des Monsters mit Frankensteins Braut Elizabeth erstaunlich unbeanstandet. Vieles musste gekürzt und geändert werden, damit die Universal Whales Frankenstein von 1931 neu starten durfte. Doch auch 1937 durfte man noch sehen, wie das Monster in ein Zimmer eindringt, sich der Braut nähert - und wie diese anschließend, nach dem Verlust ihrer Unschuld, das Haar gelöst und den Kopf nach unten, auf einem Bett liegt. In einem ab Sommer 1934 gedrehten Film wäre so etwas nicht mehr möglich gewesen. Schon allein das Bett hätte die PCA in diesem Kontext verboten. Solche Informationen wurden ab 1934 in Form der PR-Photos beigesteuert, die Whale 1931 noch zur Verstärkung der bereits auf der Kinoleinwand zu sehenden Botschaft einsetzen konnte.
Die Mad Scientists der 1930er transplantierten Hände und Hirne, erschufen aus Leichenteilen Lebewesen, machten seltsame Drüsenexperimente und überprüften Mendels Vererbungslehre, indem sie dessen Erbsen durch Affen und Jungfrauen ersetzten. Paradoxerweise genossen sie einen gewissen Schutz vor der Zensur, weil sie ihrer Forschertätigkeit in Geschichten nachgingen, die so übertrieben und so absurd waren. Unter Flamboyanz und Hyperbolik verbargen die Filme etwas, das in „respektableren“ Genres ab 1934 kaum mehr thematisiert werden durfte: der Sex in allen seinen Spielarten. Robert Floreys Murders in the Rue Morgue (sehr frei nach Edgar Allan Poe) war sogar für das Jahr 1932 zu wild. Ursprünglich sollte Bela Lugosi (als Dr. Mirakle) junge Frauen mit einem Gorilla paaren, um anhand der Leibesfrucht die Verwandtschaft von Affe und Mensch zu beweisen. Das wurde nicht erlaubt. Dr. Mirakle musste sich damit begnügen, das Blut der Frauen mit dem seines Affen zu mischen.
Als das Werk in die Kinos kam, wurden die Foyers mit Aushangphotos geschmückt, die das Publikum dazu animierten, in ihrer Phantasie Dinge zu sehen, die auf der Leinwand nicht gezeigt werden durften. 1937 wurde der Film, nur geringfügig beschnitten, neu gestartet. Stark nachgefragt, weil offenbar besonders stimulierend, wurde ein sorgfältig komponiertes Standphoto, auf dem Lugosi erwartungsvoll zu Füßen von Arlene Francis kauert. Die junge Frau ist an ein Kreuz gefesselt. Ein Stück vom Saum ihres Unterrocks ist nach unten gerissen, was den Blick auf ein nacktes Bein freigibt. Zur weiteren Steigerung der Erotik trägt die Frau im Unterrock geschnürte Stiefeletten mit hohem Absatz (Schuhe, am besten hochhackig und zum Negligé oder anderer Reizwäsche getragen, sind in diesen Photos ein wichtiges Detail). Das Bild machte so viel Eindruck, dass Artikel und Buchkapitel über Sidney Fox, die Hauptdarstellerin von Rue Morgue, bis heute mit Photos von Arlene Francis illustriert werden.
Tragende Rollen: Big Lon wird Liebhaber
Joe Breens Machtergreifung führte zunächst zu einem starken Rückgang der Produktion von Horrorfilmen. Die Studios waren verunsichert und mussten erst lernen, sich auf die neue Situation einzustellen. Das betraf auch die Werbeabteilungen. Anne Nagel, die Hauptdarstellerin in Man-Made Monster, trug Hausschuhe zum Negligé, als Chaney sie in die Arme nahm. Das war dann doch zu wenig sexy. Als Vorlage für das Plakat wählte man ein gewagteres Bild, mit Anne im Unterrock. Um nicht zu weit zu gehen, wurde das Bild auf dem Plakat so mit dem Filmtitel kombiniert, dass die Buchstaben des Titels die nackten Füße der Heldin verdeckten.
Solche Experimente mit den Publikumsphantasien blieben auch Joe Breen nicht verborgen. Die PCA begann nun, das gesamte Werbematerial zur Begutachtung einzufordern. Beanstandete Photos wurden markiert zurückgeschickt. Auf der Rückseite waren sie mit einem Stempel und der Aufforderung versehen, den Angaben gemäß zu retouchieren. Die Originale wurden meistens vernichtet, weil Breen das so wollte (diesen Helden der Anständigkeit könnte man sich gut als Figur in George Orwells 1984 vorstellen). Aber die Kunst bestand natürlich darin, PR-Photos zu machen, die vom Zensor soeben noch abgesegnet wurden, ohne retouchiert werden zu müssen.
Solche Standphotos wurden, oft in Absprache mit dem Regisseur, von darauf spezialisierten Photographen inszeniert und aufgenommen. Seit es verbesserte technische Möglichkeiten gibt und man Kinobücher mit dem Film selbst entnommenen Bildern illustrieren kann (screen shots bzw. frame enlargements), sind sie ein wenig in Verruf geraten. Standphotos, heißt es, vermitteln einen falschen Eindruck, weil sie mitunter ganz anders ausgeleuchtet sind als der Film selbst oder gar Szenen zeigen, die es dort nicht gibt. Das ist ungerecht. Ein Film ist ein Gesamtkunstwerk, das sich nicht auf das reduzieren lässt, was über die Leinwand flimmert. Filme erwachen erst in der Interaktion mit dem Zuschauer zum Leben. Plakate und Aushangphotos bestimmen mit, welcher Art diese Interaktion ist. Früher galt das allerdings in stärkerem Maß als heute, weil in Zeiten, in denen (vermeintlich) alles gesagt und gezeigt werden darf, der Phantasie eine geringere Bedeutung zukommt.
Lon Chaney Jr. durfte auch nach The Wolf Man nicht in den Filmen auftreten, in denen auf den Liebhaber abonnierte Darsteller wie sein Vorbild Charles Boyer ihre Rollen fanden. In Ghost of Frankenstein (1942) musste er das Monster sein. Inzwischen hatte er keine Lust mehr, das zu tun, was Monster zur erotischen Aufladung des Films eben tun mussten. Er führte jetzt laut darüber Klage, wie anstrengend es sei, dauernd Evelyn Ankers durch die Kulissen schleppen zu müssen. Die Universal stattete ihn daraufhin mit einem speziellen Tragegurt aus, der als „Evelyn-Ankers-Gurt“ in die Annalen des Studios eingegangen ist. Chaney musste sich weiter abschleppen und übersah dabei, dass er durchaus als Liebhaber unterwegs war, wenn auch als ein Liebhaber der etwas anderen Art.
Szenen, in denen ein Frauenverführer wie Cary Grant so viel Körperkontakt mit seiner Partnerin gehabt hätte wie Big Lon mit Evelyn, hätte Joe Breen bereits im Drehbuchstadium im Keim erstickt. Wenn Monster, Werwölfe und verrückte Wissenschaftler die jeweilige Jungfrau durch mit phallischen Apparaten bestückte Labore oder in vaginale Höhlen trugen, war das erlaubt. Joe Breen & Co. scheinen aber zumindest geahnt zu haben, was da vor sich ging. Sonst hätten sie nicht so darauf geachtet, dass die Oberbekleidung der Damen unversehrt blieb. Die Reizwäsche, wie gesagt, kam erst auf den Standphotos zum Einsatz. Bei Ghost of Frankenstein scheint sich Chaney wenigstens so weit durchgesetzt zu haben, dass er Evelyn Ankers (sie trägt wieder eine Variation des alten Anne-Nagel-Negligés aus Man-Made Monster) beim Posieren für den Photographen nicht mehr in die Höhe heben musste.
Bela Lugosi – Monster mit Rückenleiden
Das Bild vom die Jungfrau in seine Höhle schleppenden Unhold ist nicht die schlechteste Metapher für das berufliche Wirken der Filmmogule im alten Hollywood. Wer als Studioboss etwas auf sich hielt, reiste einmal im Jahr nach Europa, um junge, vorzugsweise weibliche Talente zu finden. Wenn der Mogul dann mit seinen Neuerwerbungen zurück in die USA kam wie der Sultan mit seinem Harem, wurde das in der Klatschpresse ausführlich gewürdigt. Ziemlich typisch ist die Geschichte, wie Louis B. Mayer, Alleinherrscher beim Marktführer MGM, die ungarische Sopranistin Ilona Hajmássy entdeckte. Louis B. und Ilona tanzten in Karlsbad Rumba, als plötzlich ein Träger am fragilen (und entsprechend präparierten) Kleid der rassigen Ungarin riss und sie halbnackt dastand. Von Mayer wurde sie daraufhin vom Fleck weg engagiert. Ob die Geschichte stimmt oder nicht, ist nebensächlich. Es genügte, dass sie aufgeschrieben und verbreitet wurde. Den von Ilona Massey (wie sie nun hieß) gespielten Frauenrollen verlieh das automatisch einen Hauch von Verruchtheit, obwohl eine solche Tanzszene in den Filmen, in denen sie mitwirkte, nie hätte gezeigt werden dürfen.
1943 trat Ilona Massey als Frankensteins Enkelin in Frankenstein Meets the Wolf Man auf. Weil Lon Chaney Jr. den Werwolf gab, ging die Monster-Rolle an Bela Lugosi. Lugosi war 61 Jahre alt, gesundheitlich angeschlagen und den Erfordernissen des Monsterseins nicht mehr gewachsen. Ilona Massey konnte er schlicht nicht in die Höhe stemmen. Also wurde ein Standphoto arrangiert, auf dem Chaney und Lugosi einen Kampf andeuten. Ilona Massey liegt, im Nachthemd und hindrapiert wie eine Meerjungfrau, zu ihren Füßen. Die Werbeabteilung der Universal war damit nicht zufrieden. Ilona Massey streifte schließlich das Negligé über, als Monster kam der Stuntman Eddie Parker zum Einsatz, dann machte man das gewünschte Photo: Die Schöne in den Armen des Ungeheuers. Im Film selbst gibt es diese Szene nicht. Das war genau der Grund, weshalb man das Standphoto brauchte. Manchmal wird es in Filmbüchern abgedruckt. Als das Monster wird meistens Bela Lugosi identifiziert. Aber auf das Gesicht der Kreatur kommt es bei diesem Bild nicht wirklich an.
Die Monster der alten Horrorfilme sind schwer zu fassende Mischwesen aus einer unheimlichen Zwischenwelt: nicht tot und nicht lebendig wie Dracula oder Frankensteins Kreatur, halb Mensch und halb Tier wie der Werwolf. Sie tragen Masken, unter denen der Darsteller kaum noch zu erkennen ist. Deshalb eignen sie sich so gut als Projektionsfläche für Phantasien aller Art. Man konnte sie sogar ganz weglassen. Die Heldin war dann allein zu sehen. In Abwehrhaltung, in banger Erwartung oder nach der Begegnung mit dem jeweiligen Monster. Das ist nicht immer so frauenfeindlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Anne Gwynne (House of Frankenstein, 1944) schaut auf dem „Photo danach“ direkt in die Kamera. Ist das der leere Blick einer Frau nach der Vergewaltigung, oder ist es der herausfordernde Blick einer Frau nach dem Sex mit ihrem Liebhaber? Die Ambiguität ist wohl beabsichtigt.
Den männlichen Teil des Kinopublikums konnte das eigentlich nur beunruhigen. Dracula stellt traditionelle Rollenzuteilungen in Frage, weil sein Biss brave Hausfrauen in sexuelle Wesen verwandelt. Die ihn bekämpfenden Helden, also die Repräsentanten des amerikanischen Durchschnittsmanns, wurden in den 1930ern immer langweiliger. Dieser Trend verstärkte sich, als die USA in den 2. Weltkrieg eintraten und die amerikanischen Frauen begannen, in der Fabrik zu arbeiten und dort selbst ihren Mann zu stehen. Die Verlobten der Heldin im Horrorfilm wurden nun von Darstellern wie Ralph Bellamy verkörpert, der sonst Buchhalter oder Versicherungsvertreter spielte und in Komödien mit Cary Grant zweiter Sieger blieb, wenn die schöne Frau erobert werden musste.
Gefährliche Erotik: Chaney wird Mumie
Auch die Erotik kann in harte Arbeit ausarten. Manchmal fließen Blut, Schweiß und Tränen. Das mussten besonders die Partnerinnen von Lon Chaney erfahren. Big Lon hatte neben vielen anderen Problemen auch eines mit dem Alkohol. Regisseure baten ihn nach Möglichkeit nur vormittags vor die Kamera, weil man ihm später anmerkte, dass er sein Mittagessen am liebsten in flüssiger Form zu sich nahm. In The Mummy’s Tomb (1943) spielte er die Mumie und musste die zierliche Elyse Knox verschleppen. Weil er beschwipst war, verkalkulierte er sich und schlug am Eingang zum Friedhof den Kopf seiner Partnerin gegen eine Begrenzungsmauer. Die Szene konnte erst erfolgreich gedreht werden, als Elyse sich erholt hatte und der Eingang erweitert war.
In The Mummy’s Curse (1944) wurde das Starlet Virginia Christine mit dem Evelyn-Ankers-Gurt an der Mumie befestigt, damit Chaney sie besser tragen konnte. Seine Partnerin stand Todesängste aus wegen dieses Gurts. Der Weg führte über sehr unebene Stufen hoch zum Tempel. Es war Nachmittag. Die zarte Virginia wäre unweigerlich mit ihm abgestürzt, wenn der torkelnde Lon das Gleichgewicht verloren hätte. Chaney wurde schließlich durch Eddie Parker ersetzt. Auf den Standphotos ist er es aber selbst, der die jeweilige Partnerin in den Armen hält. Das bewährte Negligé ist verschwunden (Ilona Massey soll es nach Frankenstein Meets the Wolf Man einbehalten haben). Die Universal-Heldinnen tragen jetzt leicht durchsichtige Spitze oder eng anliegende, die Figur betonende Nachthemden aus Satin.
Spielverderber werden einwenden, dass Chaneys Mumien von Kopf bis Fuß in Bandagen eingewickelt sind und wahrscheinlich gar nicht wissen, was sie mit der ohnmächtigen Heldin im Nachthemd, die sie da mit sich herumtragen, anfangen sollen. So kleinlich sollte man nicht sein. Es geht hier nicht um einen vordergründigen Realismus, sondern um eine innere, psychische Realität, um das Unbewusste und um sichtbar gemachte Phantasien. Die alten Horrorfilme, in denen noch nicht alles gezeigt werden durfte, funktionieren nur im Zusammenspiel mit dem Zuschauer, dem dabei eine erfinderische, imaginative und letztlich kreative Rolle zukommt.
Gedanken und Phantasien zu verbieten ist kompliziert. Deshalb sind die Horrorfilme so subversiv. Sie zielen darauf ab, dass sich in den Köpfen des Publikums Zusammenhänge herstellen. Im Idealfall werden aus diesen Zusammenhängen „abstoßende Themen“ (wie es im Production Code hieß), die der Zensor Joe Breen nicht im Kino haben wollte. „Abstoßend“ war nicht nur der Sex. Er war eher der Auslöser, durch den die Phantasie in Gang gebracht wurde. Danach war sie nur schwer zu bremsen. Die dunklen Seiten des amerikanischen Traums fielen unter die PCA-Rubrik „Beleidigung nationaler Gefühle“. Das war verboten. Man könnte diese Geschichte vom Umgehen der Zensur auch ganz anders erzählen und anhand des Horrorfilms über Massenarbeitslosigkeit, Kriegstraumata oder Rassismus reden. Dann wäre man plötzlich, bandagierte Mumien hin oder her, mitten drin in einer Realität, die Breen dem Publikum, weil beunruhigend und nicht familientauglich, nicht zumuten wollte.
Das „X“: Schutz der Jugend vor Sartre und künstlicher Befruchtung
Filme, die von der Mitarbeit des Publikums leben, müssen frisch sein, abwechslungs- und einfallsreich. Sonst funktioniert es nicht. Die Horrorfilme der Universal erstarrten in den 1940ern in alten Formeln. Die Standphotos mit Lon Chaney, der unermüdlich Frauen im Nachthemd oder Unterrock durch die Gegend trägt, erzählen auch die Geschichte vom traurigen Fortgang einer Karriere, die einst hoffnungsvoll begonnen hatte – und die Geschichte von der Krise eines Filmgenres, das dabei war, ins Koma zu fallen. Wiederbelebt wurde es zehn Jahre später von einer englischen Firma, die in ihren Glanzzeiten genauso als Familienunternehmen geführt wurde wie die Universal: Hammer Films.
James Carreras, der Chef der Firma, hatte vom Film keine Ahnung. Aber er war ein Verkaufsgenie. Carreras verstand demnach etwas von Psychologie. Er fand Käufer für Filme, zu denen es erst einen Titel und ein Plakat gab. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass die Motive auf dem Plakat auch im Film selbst zu sehen sein würden. Im Grunde war das wie bei der Universal. Der Unterschied war nur, dass Carreras das Plakat schon vor Drehbeginn malen ließ. Peter Cushing, der bei Hammer so viele Hauptrollen gespielt hat wie kein anderer, war dieses Geschäftsgebaren immer peinlich. Er fand das unehrlich. Auf dem Plakat zu The Mummy (1959) wird der Körper der Mumie von einem Lichtstrahl durchbohrt. Im fertigen Film gibt es so etwas nicht. Es gibt aber eine Szene, in der Cushing die Mumie mit einer Harpune durchbohrt. Er hatte darauf bestanden, weil das so ähnlich aussah wie auf dem Plakat. Cushing hätte sich die Mühe sparen können. Der „fertige Film“ ist immer anders, entsteht erst im Kopf des Zuschauers und kann Bilder enthalten, die es auf der Kinoleinwand nie zu sehen gab. Mag sein, dass Carreras doch mehr Ahnung vom Film hatte, als man ihm gemeinhin zugesteht.
Auch in Großbritannien gab es eine Filmzensur. Filme ohne Zertifikat des British Board of Film Classification (BBFC) durften nicht öffentlich gezeigt werden. Unter dem Eindruck der amerikanischen Horrorfilme wurden ab 1933 „alle Filme, von denen zu erwarten ist, dass sie Kindern unter dem Alter von 16 Jahren Angst machen oder sie mit Schrecken erfüllen“, mit einem „H“ (für „horrific“) belegt. Kinder unter 16 sollten solche Filme nur in Begleitung eines Erwachsenen sehen dürfen. 1937 wurde daraus ein generelles Verbot. Von 1942 bis 1945 durften „H“-Filme gar nicht mehr aufgeführt werden, auch nicht vor Erwachsenen. 1951 wurde das „H“ durch das neue „X“-Zertifikat ersetzt (Freigabe weiter ab 16, nach 1970 ab 18).
La vie commence demain (1949) war der erste Film, der dieses „X“ erhielt. Das halbdokumentarische, in Zusammenarbeit mit der UNESCO entstandene Werk spekuliert über die Zukunft der Menschheit nach der Erfindung der Atombombe. Beiträge dazu lieferten Künstler und Intellektuelle wie Pablo Picasso, Jean-Paul Sartre und André Gide. Die Zensurbehörde sagte damit nicht unbedingt, dass ein seine Texte vortragender Sartre britischen Kindern unter 16 Angst machte. Größter Stein des Anstoßes war wohl, dass in dem Film die künstliche Befruchtung erwähnt wurde. Der Sex und die Fortpflanzung in all ihren Varianten waren immer noch das Gefährlichste, das sich die Zensoren vorstellen konnten. Verglichen damit war die Atombombe kaum der Rede wert.
Mit The Curse of Frankenstein leitete Hammer 1957 eine Renaissance des Horrorfilms ein. Der Film konnte erst nach zähem Ringen mit den Zensoren in die Kinos kommen. Bereits das Drehbuch von Jimmy Sangster sorgte beim BBFC für helle Aufregung. „Ein sich die Lippen leckendes Vergnügen an verstümmelten Leichen“, schrieb die Gutachterin Audrey Field, „widerlichen abgeschnittenen Händen und aus dem Kopf entfernten Augen wechseln sich ab mit willkürlichen Beispielen von Sadismus und Lust. Den allgemeinen Grundzügen der Geschichte kann zwar ein ‚X’ nicht verweigert werden, doch sehr sehr viele Details werden modifiziert oder eliminiert werden müssen.“ Eine Kollegin oder ein Kollege mit dem Kürzel „SWH“ konnte dem nur beipflichten: „Das ist eine ekelerregende Geschichte und ich bedaure, dass sie von einem britischen Team kommt. Wir haben einige Horrorfilme aus Amerika gehabt, aber meiner Erfahrung nach keinen, der nicht ohne einigen Humor oder ein leichtes Zwischenspiel gemildert worden wäre. Der Verfasser dieses Drehbuchs scheint zu denken, dass die ‚X’-Kategorie ein Verwahrungsort für Fäkalien ist.“
Mit „Fäkalien“ war der Sex gemeint. Das BBFC drängte darauf, alles Sexuelle so weit wie möglich zurückzunehmen. Wenn Victor Frankenstein (Peter Cushing) schon ein Verhältnis mit seinem Dienstmädchen haben musste, dann bitte ohne Küsse und ohne anzügliche Dialoge. Elizabeth, Victors Braut, durfte ein tief ausgeschnittenes Kleid tragen; aber das Monster (Christopher Lee) durfte sie keinesfalls auf das Dach des Hauses Frankenstein schleppen – nicht in diesem Kleid und auch sonst nicht. James Carreras wusste, was zu tun war. Er bat Hazel Court (Elizabeth) und Valerie Gaunt (Justine) zum neckischen Photo-Shooting. Auf den dabei entstandenen Bildern zeigen die Damen sehr viel Bein und sie tun so, als hätten sie sich zum Schäferstündchen in einen Heuschober begeben.
Sado-Maso bei der Pressevorführung: Christopher Lee macht Karriere
Mit der Handlung von The Curse of Frankenstein hat das gar nichts zu tun. Aber in Verbindung mit diesen Photos wurden die Filmauftritte von Court und Gaunt sexuell aufgeladen. Das war das Ziel. Erstmals herumgereicht wurden die Photos bei einer Party, die Carreras für die Fachpresse ausrichtete. Als Überraschungsgast erschien Christopher Lee – mit steifem Schritt und in voller Monster-Montur. Vor sich her trug er Hazel Court (im körperbetonten weißen Kleid, mit weißen Handschuhen und Stöckelschuhen). Natürlich wurde das auf einem Photo festgehalten, und das Photo wurde in Zeitschriften abgedruckt, damit die Zuschauer mit diesem Bild im Kopf ins Kino gingen. So verschleppte das Monster doch noch die unschuldige Elizabeth, um unaussprechliche Dinge mit ihr anzustellen. Und der Unhold hatte sogar ein Stück von einer Eisenkette mit dabei. Ein bisschen Sado-Maso konnte schließlich auch nicht schaden. Auf „offiziellen“ Werbebildern sah man Christopher Lee ohne Partnerin, aber wieder mit dieser Kette am Handgelenk. Hazel Court konnte man sich dazudenken.
Vier Wochen nach der London-Premiere von The Curse of Frankenstein, im Juni 1957, erschien die erste Nummer von Harrison Marks’ Magazin Kamera. Frauen zeigten darin ihre nackten Brüste. Das hatte es auch vorher schon gegeben. Aber Kamera war die erste Zeitschrift dieser Art, die in einer Massenauflage hergestellt wurde. Nach zwei Tagen war die erste Nummer vollständig ausverkauft. Das war der Beginn einer Revolution auf dem britischen Zeitungsmarkt (und eine wichtige Inspirationsquelle für Michael Powells Peeping Tom). Die großen Boulevardblätter zogen nach, machten bald Auflage mit jungen Frauen im Bikini, die schließlich auch ihr Oberteil ablegten. Für James Carreras eröffnete das ganz neue Möglichkeiten. Veronica Carlson entdeckte er im Sunday Mirror, wo sie, auf Seite 1 und im weißen Bikini, den Wellen entstieg. Carreras gab ihr eine Rolle in Dracula Has Risen from the Grave (1968). Dieser Film spielt im viktorianischen Zeitalter. Durch die Bikini-Photos, die vor der Premiere noch einmal abgedruckt wurden, war auch gleich die sexuelle Revolution der 1960er mit drin.
Die neue Freizügigkeit in den Massenblättern hatte Auswirkungen auf die Standphoto-Praxis bei Hammer. Für Dracula Has Risen from the Grave posierte Veronica Carlson – im Negligé – mit einem mannshohen Kreuz, einem Sarg und einer Eisenkette. Auf einem der Photos sind ihre nackten Brüste zu sehen. Carreras traute sich nicht, das Bild direkt für die Werbung einzusetzen, scheint es aber unter der Hand weitergereicht zu haben. Bald tauchten Gerüchte über angeblich vom Zensor entfernte Nacktszenen auf. Carreras leistete damit einen Beitrag zu dem Hammer-Mythos, der bis heute in Büchern, Aufsätzen und in zahlreichen Internet-Foren am erregtesten diskutiert wird: Die „Versionen“.
Full frontal nudity: Die „Versionen“
Dr. Bonnet (Anton Diffring), die Hauptfigur von The Man Who Could Cheat Death (1958), ist Chirurg und Hobby-Bildhauer. Er hat das Geheimnis des ewigen Lebens entschlüsselt und braucht alle zehn Jahre eine Drüsentransplantation, um nicht zu verfallen wie der Vampir am Ende von Dracula. Bei dieser „uter-parathyroiden Drüse“ handelt es sich um die Nebenschilddrüse, die der Drehbuchautor Jimmy Sangster offenbar durch Hinzufügen einer Vorsilbe (uter von uterus) weiter zur Körpermitte hin verlegen wollte. Einer Logik folgend, die wahrscheinlich nur Zensoren verstehen können, hatte das BBFC nichts gegen in Gläsern aufbewahrte uterine Nebenschilddrüsen im Allgemeinen einzuwenden, wohl aber gegen uterine Drüsen von Prostituierten im Besonderen. Deshalb bleibt der Handlungsstrang, in dem Dr. Bonnet noch rasch eine Hure ermordet, um mit deren Drüse auch Janine (Hazel Court), seiner aktuellen Geliebten, das ewige Leben zu schenken, etwas verschwommen.
Ohnehin gab es Schwierigkeiten mit Janine. Die Dame sitzt Bonnet mit nacktem Oberkörper Modell, und Hammer wollte das auch gern so zeigen – von vorne und so, dass alles gut zu sehen war (das Englische kennt dafür den schönen Ausdruck „full frontal nudity“). Oder jedenfalls wurde das den Zensoren so übermittelt. Das BBFC lehnte dieses Ansinnen empört ab. Bei Hammer waren Profis am Werk. Etwas anderes hätten sie bestimmt nicht erwartet. Aber damals, Ende der 50er, entstand die Mär von den „Versionen“. Hammer, heißt es, stellte Filme in verschiedenen Fassungen her: zahm für das zensurgeplagte Großbritannien, schärfer für den Export. Am meisten Blut, Gewalt und nackte Haut durften demnach die Japaner sehen. Allerdings ist es bisher nicht gelungen, diese „Versionen“ ausfindig zu machen; nicht in Japan und nicht anderswo. Man möchte fast meinen, dass es sie nie gegeben hat. Die „Versionen“ sind trotzdem faszinierend, weil sie ein Schlaglicht auf den im Hause Hammer gepflegten Umgang mit der Zensur werfen.
Die Auseinandersetzung mit dem BBFC war von Anfang an mit eingeplant. Es gab verschiedene Strategien zur Übertölpelung der Zensoren. Trick 1 war am billigsten. Man schrieb einige Szenen in das eingereichte Drehbuch, die nur dazu da waren, vom Zensor gestrichen zu werden. Bei Dracula (1958) schöpfte einer der Gutachter erstmals Verdacht und hielt in seinem Bericht die Vermutung fest, dass Anstößiges eingefügt war, um andere Teile harmloser erscheinen zu lassen. Trotzdem blieb der Trick nicht ohne Wirkung.
Bei Hammer wurde äußerst knapp kalkuliert. Nachträglich verordnete Schnitte konnten sehr teuer werden. Hin und wieder wurden deshalb zwei unterschiedliche Fassungen von einer Szene gedreht. Zuerst legte man dem BBFC die gewagtere Variante vor. Wurde sie beanstandet, ersetzte man sie durch die weniger gewagte. Mit etwas Glück und viel Geschick brachte man so Szenen durch die Zensur, die sonst verboten worden wären. Die kontroverseren, für den Film nie wirklich vorgesehenen Elemente kamen gelegentlich in der Werbung zum Einsatz. Von manchen Szenen gab es also zwei Versionen: eine für den Zensor und die Werbung, eine zweite für die Kinoauswertung. Von da bis zu den Gerüchten um unterschiedliche Versionen für den heimischen und den internationalen Markt war es nur ein kleiner Schritt.
Terence Fisher, der wichtigste Regisseur im Hause Hammer, musste es eigentlich am besten wissen. Er hat die Existenz der „Versionen“ immer abgestritten:
Ich muss deutlich sagen, dass es keine südamerikanischen Versionen gibt, und keine japanischen Versionen, und auch nicht irgendwelche anderen Versionen. Es passiert wie folgt: Wir drehen die Szenen bis zu einem Punkt, an dem wir sagen: ‚Das war’s; das reicht; das ist so, wie es sein sollte.’ Im Anschluss wird die komplette Version den Zensoren eines jeden Landes vorgelegt, worauf diese entscheiden, was geschnitten werden und was beibehalten werden sollte. Ich mache meine Arbeit so wie ich glaube, dass sie getan werden sollte. Die Verleiher und Zensoren machen die ihre. Das ist alles.
Weil aber die Legende von den Versionen zu schön ist, um einfach von ihr abzulassen, wird sie seit Fishers Dementi durch eine Verschwörungstheorie gestützt. Ihr zufolge wurden ohne Wissen des Regisseurs schärfere Sexszenen gedreht und ohne dessen Zustimmung in seine Filme eingefügt. Jemand – sagen wir: Tony Hinds, der Produktionschef – muss sich also in der Nacht, wenn Fisher nach Hause gegangen war, in das Atelier geschlichen haben, um heimlich die nackten Busen der Darstellerinnen abzufilmen. Irgendwann zwischen der Kinoauswertung in Japan und dem Erscheinen der Hammer-Filme auf Videokassetten und DVD müssen diese Busen dann wieder verschwunden sein. Niemand weiß, wo sie abgeblieben sind.
Ein Tausender für eine nackte Brust: Hazel Court zieht sich aus
Wer mag, kann die Existenz der mysteriösen „Versionen“ mit Interviews belegen, in denen sich ehemalige Hammer-Angestellte Jahrzehnte später daran erinnerten, dass die „Versionen“ wirklich existierten. Man kann sogar Tony Hinds zitieren, der genau überwachte, was als Endprodukt in Umlauf kam. Er gab der Zeitschrift Picturegoer bereits im Dezember 1957 ein Interview, in dem er bekannte: „Die Japaner wollen mehr Blut, und darum machen wir ihnen eine spezielle Version.“ Eine Gelegenheit, durch solche Behauptungen die Phantasie des Publikums anzuregen, ließ Hinds selten aus. Das gehörte zum Geschäftsprinzip. Wenn Briten im Kino saßen und sich dazudachten, was „die Japaner“ wohl zu sehen bekamen (rotes Blut auf nackten Brüsten), wenn Dracula die Frauen biss, veränderte das die Seherfahrung.
Fishers The Man Who Could Cheat Death wurde mit einem Standphoto beworben, auf dem zu sehen ist, wie Hazel Court (im tief dekolletierten Abendkleid) ihrem Filmpartner Anton Diffring für eine (nackte) Frauenbüste Modell steht. Das Bild wirkt wie ein Kommentar zur bei Hammer praktizierten Aktivierung der Zuschauerphantasie. Wer vor seinem geistigen Auge die Darstellerin und die ihr nachempfundene Büste übereinander legt, sieht die nackte Schauspielerin. Hazel Court war eine spritzige Person und gern bereit, das Spiel mitzumachen. Irgendwann begann sie zu erzählen, dass sie für die Bereitschaft, sich auf der Leinwand nackt zu zeigen, eine Extra-Gage von 2 000 Pfund erhalten habe („Ein Tausender für jede Brust.“). Das wäre die Hälfte von dem gewesen, was der Regisseur als Gage erhielt. Für einen nackten Busen, von dem man wissen musste, dass er nie durch die Maschen der Zensur schlüpfen würde. Zehn Jahre vor dem Photo mit der barbusigen Veronica Carlson, das James Carreras heimlich den Journalisten zusteckte, weil er sich nicht traute, es offen zu zeigen.
Hazel zufolge sollten nicht die Japaner, sondern die Kontinentaleuropäer in den Genuss ihres unverhüllten Busens kommen. Das weckte große Erwartungen. Britische und amerikanische Hammer-Fans suchten unverzagt nach Hazels nackten Brüsten, wurden aber nicht fündig. Entdeckt wurden nur Zeitzeugen, die steif und fest behaupten, damals, vor nunmehr 50 Jahren, die barbusige Hazel Court auf der Leinwand gesehen zu haben. Das müsste demnach in Westeuropa gewesen sein. In Adenauers Deutschland kann man sich das besonders gut vorstellen. In den Zensurakten lässt sich sogar ein Brief von James Carreras’ Sohn Michael an John Trevelyan finden, den Chef des BBFC (24.2.1959). Darin heißt es, dass nun wenigstens die für den europäischen Kontinent vorbereitete Fassung von dieser künstlerisch so anspruchsvoll gestalteten (und von Trevelyan leider verbotenen) Nacktszene profitieren werde. Ist das als Ankündigung zu werten oder als die hammer-typische Strategie, Gewagtes durch noch Gewagteres akzeptabel zu machen?
Wahrscheinlich wurde in keinem Kino auf der Welt je mehr gezeigt als das, was in der deutschen Synchronfassung zu sehen ist: Hazel Court von hinten, mit nacktem Rücken; von vorn, mit einem Tuch über dem Busen; und eine unbekleidete Hazel Court von vorn, in Einstellungen, bei denen gleich unterhalb des Brustansatzes der Bildrand beginnt. Wer Hazel unbedingt nackt sehen will, muss knapp 20 Euro für ihre 2008 erschienene Autobiographie anlegen (Horror Queen). Darin enthalten ist, als Kaufanreiz, das berüchtigte Bild. Hazel Court posiert barbusig vor neutralem Hintergrund. „Nur einige wenige Leute“, schreibt sie (oder ihr Ghostwriter), „haben die Version des Films, die diese Einstellung enthält, je gesehen.“ Kein Wunder. Das Photo ist seltsam unerotisch. Es sieht aus wie eines jener Aktbilder, die Karlheinz Böhm in Peeping Tom anfertigt und die unter dem Ladentisch an schmutzige alte Männer verkauft werden. Hammer konnte das besser.
Trotzdem muss man darauf gefasst sein, dass früher oder später eine „Uncut-Version“ mit nackten Brüsten vertrieben werden wird, ob das nun zum Rest des Films passt oder nicht. Die Käufer werden dann darüber erstaunt sein, was ihre Eltern und Großeltern im Kino alles sehen durften. So verfälscht die Zensur unser Bild von der Vergangenheit, auch wenn sie gar nicht stattgefunden hat. Die nun endlich barbusige Hazel wird auch den Gerüchten über nackte Dienstmädchen bei Frankenstein und Dracula, nackte Sklavinnen in Mumien-Filmen und nackte Jungfrauen bei irgendwelchen Satanisten neuen Auftrieb geben.
Kannibalen-Kapitalismus: Sex als Ablenkung
War die Firma Hammer also ein Schmuddelunternehmen, das sein Publikum mit viel mehr nacktem Fleisch beliefert hätte, wenn die Zensurbehörde das nicht verhindert hätte? Dieser Vermutung liegt die Annahme zugrunde, dass die Filmemacher dieser Welt immer nur Nacktszenen drehen wollen, was von den Zensoren bekämpft wird. Jimmy Sangster beschreibt es so in seiner Autobiographie (Do You Want It Good Or Tuesday?), und John Trevelyan macht in seinen Memoiren (What the Censor Saw) dasselbe, als hätten sich beide Seiten auf diese Art der Darstellung verständigt. Der wahre Sachverhalt ist komplizierter. Dracula, The Mummy oder The Curse of Frankenstein würde heute niemand mehr sehen wollen, wenn es nur verhinderte Nudistenfilme wären. Der Sex war oft ein Ablenkungsmanöver. Das war so wie beim Billard, wo man über Bande spielt.
Tony Hinds war ein stiller, bescheidener Mensch, der nie viel Aufhebens von seiner Arbeit als Drehbuchautor und Produktionschef machte. Wenn man allerdings die erhaltenen Zensurakten durchliest, entdeckt man einen Virtuosen im Umgang mit dem BBFC. Ein Beispiel: The Revenge of Frankenstein übt eine harsche, für das Kino der späten 50er sehr unübliche Kritik an der britischen Gesellschaft und bedient sich dabei der Metapher des Kannibalismus. Wenn man das heute sieht, wundert man sich, dass so etwas in einem so argwöhnisch beobachteten Genre wie dem Horrorfilm möglich war. Die Zensurakten geben Aufschluss.
Man versteht die Akten besser, wenn man die Vorgeschichte kennt, den erbitterten Streit um Jack the Ripper (1958) der Firma Tempean. Zuerst sollte der Film komplett verboten werden. Begründung: Jeder wusste, dass Britanniens berühmtester Mörder nur Huren umgebracht hatte. Das mache bereits den Titel „zu voll mit schmutzigen und sadistischen Assoziationen“, um den Film zuzulassen (BBFC, 4.12.1957). Anders gesagt: In der Phantasie der Gutachter stellten sich bei diesem Titel Bilder von Prostitution und Verstümmelung ein, und deshalb wollten sie den Film verbieten. Nach monatelangen Scharmützeln durfte Jack the Ripper doch noch aufgeführt werden. Trevelyan hatte schlimme Befürchtungen und schrieb an die Tempean, um „der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass Ihre Werbung für den Film diskret und unsensationell sein wird. Wie Sie vielleicht wissen, wurde ein großer Teil der Kritik, die kürzlich an dieser Art von Film geübt worden ist, von Leuten vorgebracht, die die Werbung gesehen hatten.“ Nur die Werbung, muss es richtig heißen.
Damals, Anfang 1958, war Trevelyan noch naiv. Natürlich zielte die Werbung darauf ab, die Phantasie in Wallung zu bringen und so dem Film, der in den Köpfen der Zuschauer ablief, die vom BBFC verbotenen Elemente hinzuzufügen. In Manchester klappte das allzu gut. Der Magistrat der Stadt untersagte die Aufführung. Jack the Ripper galt bereits aufgrund des Titels und der Werbung als „nicht wünschenswert“. Deshalb wurde er in Manchester verboten. Die Sichtung des Films selbst war reine Formsache. Man wusste schon vorher, was man sehen würde. Bis heute hat sich daran erstaunlich wenig geändert.
John Trevelyan lernte durch solche Erfahrungen dazu. Bevor er The Revenge of Frankenstein das „X“ zuerkannte, wollte er den kompletten Film sehen, und das in Farbe (Hinds hatte umstrittene Szenen bisher gern gesondert geliefert, als Schwarzweiß-Kopie, und das BBFC hatte zumindest beim ersten Frankenstein zu spät gemerkt, dass es eigentlich ein Farbfilm war); außerdem forderte er das Plakat an sowie alle Stand- und Aushangphotos. Im Werbematerial begehrt das Monster wie gewohnt die Jungfrau, obwohl das so im Film nicht vorkommt. In Revenge geht es um etwas ganz anderes: Frankensteins Monster wird durch die gesellschaftlichen Umstände zum Kannibalen. Hinds musste besonders um die Szenen kämpfen, in denen das Monster seine kannibalistischen Neigungen zeigt. Einstellungen, denen zu entnehmen war, dass sich die Kreatur gleich über eine männliche Leiche hermachen würde, sollten ersatzlos entfernt werden.
Aus einem Brief Trevelyans an Hinds (23.6.1958): „Wir wollen das entfernt haben, weil das eine der wenigen Stellen im Film war, in denen der sexuelle Impuls offensichtlich war.“ Hinds’ Antwort kam postwendend: „Ich muss wirklich sehr unschuldig sein, aber ich kann ganz ehrlich nicht erkennen, wo in der fraglichen Szene der sexuelle Impuls aufkommt.“ Der peinlich berührte Trevelyan entschuldigte sich schriftlich für den von ihm begangenen Irrtum und revidierte seine Entscheidung. Die Szene durfte so bleiben, wie sie war. Der Vorgang ist bemerkenswert. Britanniens oberster Zensor reagierte auf die geschickte Mischung aus Film und Werbung genau so, wie man es bei Hammer vom durchschnittlichen Kinogeher erwartete. Er sah einen sexuellen Gehalt, der in Revenge höchstens angedeutet wird, weil er, Trevelyan, alles andere verboten hätte. Von Hinds darauf aufmerksam gemacht, dass ihm seine (von Hammer erst entsprechend angestachelte) Phantasie etwas vorgegaukelt hatte, das so auf der Leinwand nicht direkt zu sehen war, schämte er sich für seine schmutzigen Gedanken. Der Kannibalismus und die in ihm eingebettete Gesellschaftskritik durften bleiben.
Man kann nun fragen, warum man einen im 19. Jahrhundert und irgendwo auf dem europäischen Kontinent spielenden Film mit Monster-Kannibalen drehen muss, um Kritik an den aktuellen Verhältnissen in Großbritannien zu üben? Die Antwort hat zwei Teile: 1. Die Firma Hammer war ein profitorientiertes, inzwischen auf Horrorfilme spezialisiertes Wirtschaftsunternehmen, das sich von einem Frankenstein-Film mehr Einnahmen versprach als von einem zeitgenössischen Sozialdrama. 2. Einem Film, der in einer britischen Industriestadt der Gegenwart spielte und ungeschminkt zeigte, wie brutal und menschenverachtend der Kapitalismus sein kann, hätte das BBFC keine Aufführungsgenehmigung erteilt. Was passieren konnte, wenn man die Themen des Horrorfilms in eine im zeitgenössischen Großbritannien angesiedelte Handlung verlegte, musste Michael Powell (einer der größten britischen Regisseure des 20. Jahrhunderts) erleben, als er Peeping Tom drehte. Inzwischen ist der Film als ein Meisterwerk des britischen Kinos anerkannt (und läuft bei uns im „Qualitätsfernsehen“ noch immer in einer Fassung, aus der die zentrale Einstellung entfernt ist). 1960 löste Peeping Tom eine so hysterische Hasskampagne aus, dass Powells Karriere danach zerstört war. Aber das ist ein anderes Kapitel.
Zu viele nackte Lesben: Hammer Horror in der Krise
Die Universal hatte sich einst durch ständige Wiederholung in die Sackgasse manövriert. Hammer scheiterte an der neuen, durch das eigene Wirken beförderten Freizügigkeit. In Dracula Has Risen from the Grave kündigt sich das Unheil bereits an. Freddie Francis, der das Horrorgenre nach eigenem Bekunden nicht mochte, inszenierte den Film als eine Aneinanderreihung von knalligen Szenen mit viel Sex und Busen. Er erlag dem Irrtum, dass es eine 1:1-Beziehung zwischen den Posen auf den Aushangphotos und den Filmbildern geben sollte, der Zuschauer also nur nach den „Stellen“ suchte, die so gewagt zu sein hatten, wie es der Zensor eben noch erlaubte. So trieb er Dracula in dem Moment, in dem mehr gezeigt werden durfte als je zuvor, zusammen mit der Subtilität auch das Subversive aus.
Hammer geriet in eine Krise, als es die Verbote nicht mehr gab, an denen man sich in 15 glorreichen Jahren gerieben hatte, um die Phantasie zu entzünden. Für die neuen Zeiten fand man kein Rezept. Das Studio wurde ein Opfer der selbst geschaffenen Legenden. 1970, als The Vampire Lovers in die Kinos kam, hingen nackte lesbische Vampirinnen im Aushangkasten, und auf der Leinwand sah man sie so auch. Film und Werbung waren deckungsgleich geworden.
David Pirie (A Heritage of Horror, 1973) war der erste, der die Hammer-Filme wirklich ernst nahm. In der überarbeiteten und erweiterten Neuauflage seines Standardwerks zum britischen Horrorfilm (A New Heritage of Horror, 2008) erinnert er sich, wie die sexuelle Deutlichkeit von The Vampire Lovers als Teenager seine Aufmerksamkeit gefangen nahm. Er erzählt aber auch, wie enttäuscht er von dem darauf folgenden The Scars of Dracula war. Die nackten Frauen konnten da schon nicht mehr davon ablenken, dass die alte Sorgfalt verloren gegangen war und die Handlung keinen Sinn mehr ergab. Es war ein phantasieloser Film, gemacht für ein phantasieloses Publikum. Damit war der alte Zauber dahin.
Hier treffen sich Kino und Literatur, und vermutlich gilt das auch für gutes Fernsehen: Sie alle leben von den Bildern, die im Kopf entstehen. Lon Chaney Jr., der heimliche Held dieser Geschichte, hat uns mehr hinterlassen, als er ahnte. Damals, als er noch Anne Nagel, Elyse Knox und Evelyn Ankers durch die Kulissen von Universal City schleppte.